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15. Wahlperiode
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   123. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungspunkt 1 – fort:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2005

(Haushaltsgesetz 2005)

– Drucksache 15/3660 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008

– Drucksache 15/3661 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

Ich erinnere daran, dass wir am Dienstag für die heutige Aussprache neun Stunden und für morgen dreieinhalb Stunden beschlossen haben.

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zusatzpunkt 3 auf:

7. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe

(Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG)

– Drucksache 15/3676 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Gerda Hasselfeldt, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Elternhaus, Bildung und Betreuung verzahnen

– Drucksache 15/3488 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus Haupt, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Solides Finanzierungskonzept für den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten für unter Dreijährige

– Drucksache 15/3512 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Das Wort hat Bundesministerin Renate Schmidt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich bringe hier heute den Einzelplan 17 ein und verknüpfe dies mit der ersten Lesung unseres Tagesbetreuungsausbaugesetzes, TAG. Dafür bedanke ich mich auch im Namen der Eltern und Kinder, die mehr und bessere Betreuung in Deutschland brauchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich in aller Kürze mit dem Haushalt und meinem Ministerium, das in diesem Jahr das Zertifikat „familienfreundliche Behörde“ erhalten hat, beginnen. Wir haben größte Anstrengungen unternommen und die Zahl der Ausbildungsplätze in meinem Ministerium und im Bundesamt für den Zivildienst um 40 Prozent gesteigert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir erreichen damit einen Anteil von 7,7 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Das ist eine gute Nachricht für junge Menschen.

   Eine gute Nachricht ist es auch, dass wir trotz des notwendigen Subventionsabbaus Programme im Kinder- und Jugendplan erhalten können. Subventionsabbau darf nämlich nicht bedeuten, dass wir bei Projekten für Kinder und Jugendliche sparen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

seien es die Programme für benachteiligte Jugendliche „Entwicklung und Chancen“ oder „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ oder die neuen Jugendmigrationsdienste.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ihr habt gekürzt wie noch nie! Sie haben Ihren eigenen Haushalt noch nicht gelesen!)

   Unser Projekt „P – misch dich ein!“ steht für Partizipation und für unser Leitbild einer aktivierenden Jugendpolitik. Mit „Jugend ans Netz“ schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass alle Jugendeinrichtungen in Deutschland zu vernünftigen Preisen online gehen können. Wir führen ferner das Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie“ wie geplant fort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist wichtig in diesen populistisch hochgeputschten Zeiten.

   Wir wollen und werden entsprechend den Vorschlägen der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ das Modellprogramm für einen generationsübergreifenden Freiwilligendienst in diesem Jahr auf den Weg bringen. Es geht nämlich künftig darum, die Chancen des längeren Lebens für alle nutzbar zu machen: für die Älteren und für alle Generationen. Wir wollen den demographischen Wandel nicht erdulden, sondern wir wollen ihn gestalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Fünfte Altenbericht, der im nächsten Jahr vorgelegt wird, befasst sich deshalb mit dem Thema „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“; denn Alter ist kein Synonym für Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit, sondern für Lebenserfahrung, Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit bei der allergrößten Zahl der Menschen, und zwar bis ins höchste Alter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diejenigen allerdings, die im hohen Alter Unterstützung brauchen, werden mit der notwendigen Hilfe rechnen können. Ich habe gemeinsam mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im vergangenen Jahr einen runden Tisch „Pflege“ ins Leben gerufen. Hier werden bis 2005 Vorschläge erarbeitet. Unser Ziel ist die Entbürokratisierung der Pflege und die bessere Verzahnung der ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen. Das ist umso notwendiger, als Pflegearbeit nach wie vor ganz überwiegend in der Familie und von Frauen geleistet wird. Deshalb muss nicht nur die Betreuung von Kleinkindern, sondern auch die von älteren Angehörigen mit Erwerbsarbeit vereinbar sein; denn gerade weil sich Frauen für ihre Familien engagieren, sind sie im Berufsleben nach wie vor benachteiligt.

   Wir wirken dem entgegen und setzen die gemeinsame Arbeit mit den Wirtschaftsverbänden zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft fort. Die deutsche Wirtschaft erkennt zunehmend – manchmal noch etwas zögerlich –, wie wichtig Frauen für die sich wandelnde Arbeitswelt sind und dass sie in Führungspositionen gehören und in der Selbstständigkeit unterstützt werden müssen, wie zum Beispiel mit unseren Programmen für Existenzgründerinnen.

   Das Berufswahlverhalten muss sich ebenfalls ändern. Mit dem Girls’ Day

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Was ist das denn?)

versuchen wir das zu erreichen, genauso wie mit unseren IT-Programmen und dem neuen Internetportal „Beruf und Karriere für Frauen“. Damit setzen wir den Old-Boys-Networks endlich Young-Women-Networks entgegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Und das verstehen die Leute alles?)

   2005 wird zudem das Gesetz zum Schutz vor Diskriminierungen in Kraft treten. Von da an wird eine nationale Stelle diskriminierten Menschen zu ihrem Recht verhelfen. Dies bedeutet dann weniger Benachteiligungen und mehr Gleichstellung.

   Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur ein wichtiges gleichstellungspolitisches Thema. Vielmehr betrifft es die gesamte Gesellschaft, nicht zuletzt die Männer und insbesondere die Väter. Es ist das zentrale Thema der Familienpolitik. Wir müssen versuchen, endlich die Kluft zwischen Lebenswünschen und Lebenswirklichkeiten – soweit Politik das kann – zu schließen. Einerseits bestehen bei 96 Prozent der Bevölkerung Wertschätzung der Familie sowie der Wunsch nach Familie und einem Leben mit Kindern. Andererseits haben wir die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen Union und die weltweit höchste Kinderlosigkeit. Das ist nicht die Folge einer unzureichenden materiellen Förderung von Familien. Da sehen wir im europäischen Vergleich nämlich gut aus. Wir liegen hier insgesamt im oberen Drittel. 34 Milliarden Euro sind im Haushalt des Finanzministers für das Kindergeld sowie für die Auswirkungen der von mir durchgesetzten steuerlichen Regelungen insbesondere zugunsten der Alleinerziehenden vorgesehen. Hinzu kommen in meinem Haushalt Mittel für den neuen Kinderzuschlag. All das lässt mich meinen Haushalt selbstbewusst vertreten; denn neue Kürzungen für Familien gibt es nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Änderungen betreffend das Erziehungsgeld kommen 2005 voll zum Tragen und führen deshalb zu niedrigeren Ausgaben bei diesem Titel, ebenso wie die niedrigen Geburtenzahlen.

   Damit bin ich bei dem zentralen Thema: In Deutschland werden zu wenige Kinder geboren. Die Herausforderungen für uns sind offensichtlich. Junge Menschen wollen mehr Kinder und wir brauchen sie; denn weniger Kinder bedeuten weniger Innovationsfähigkeit, weniger Wachstum, weniger Wohlstand und weniger soziale Sicherheit, und zwar nicht irgendwann, sondern bereits heute.

(Albrecht Feibel (CDU/CSU): Das stimmt!)

– Wunderbar! Es freut mich, dass Sie mir einmal zustimmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Frauen und insbesondere Mütter wollen erwerbstätig sein. Wir brauchen auch mehr erwerbstätige Frauen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch das ist unbestritten!)

Wir brauchen eine bessere und vor allem frühe Erziehung und Bildung unserer Kinder, damit die Herkunft eines Kindes nicht weiter wie bisher über seine Bildungschancen entscheidet. Wir brauchen eine deutliche Reduzierung von Familien- und Kinderarmut. Wir stellen uns diesen Herausforderungen mit einer nachhaltigen Familienpolitik. Sie beruht auf folgenden drei Säulen: erstens dem Ausbau der Infrastruktur für Familien – denn der deutsche Weg einer vorrangig monetären Familienförderung ist im europäischen Vergleich eher wirkungsschwach, um es ganz vorsichtig auszudrücken –, zweitens deutlich mehr Familienfreundlichkeit in den Kommunen und vor allen Dingen in den Unternehmen und drittens zielgenauen finanziellen Leistungen dort, wo sie Eigeninitiative stärken und die Entscheidung für Kinder erleichtern, statt Leistungen nach dem Gießkannenprinzip. Alle drei müssen zusammenkommen, damit eine effiziente Familienpolitik entstehen kann.

   Lassen Sie mich mit der dritten Säule beginnen. Erstmals gibt es in Deutschland ein Instrument zur gezielten Bekämpfung von Armut bei Kindern. Zu diesem Schritt waren Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, in der Vergangenheit leider nicht in der Lage, obwohl die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe leben, ebenfalls dramatisch hoch waren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Den Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro erhalten Eltern, die wenig verdienen und neben ihrem eigenen Bedarf nicht auch noch den ihrer Kinder erwirtschaften können. 150 000 Kinder und ihre Familien werden damit ab 2005 in einem ersten Schritt von Arbeitslosengeld II unabhängig. Wir werden die Wirkung dieses neuen Instruments sorgsam prüfen und parallel an seiner Weiterentwicklung arbeiten, mit dem Ziel, deutlich mehr Kinder unabhängig vom Arbeitslosengeld-II-Bezug zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch eine Umgestaltung des heutigen Erziehungsgeldes zu einem einkommensbezogenen Elterngeld – das ist Teil der aktuellen Diskussion – kann dazu beitragen, dass sich Kinderwünsche häufiger erfüllen. Es würde zudem mehr Väter motivieren, sich an der konkreten Familienarbeit zu beteiligen. Da kann uns die Steigerung von 1,5 Prozent auf 5 Prozent wahrhaftig noch nicht zufrieden stellen. Das müssen noch mehr werden, wenn wir wirklich gleiche Chancen für Frauen und Männer in diesem Land erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Übrigens stellt ein solches Elterngeld die Verkäuferin im Vergleich zur heutigen Situation ebenso besser wie die Lehrerin oder die Ärztin.

   Ich bitte aber ganz herzlich darum, nicht immer ein Entweder-oder zu diskutieren. Wir brauchen Kinderbetreuung und familienfreundliche Arbeitsbedingungen und finanzielle Leistungen, die die Entscheidung für ein Kind erleichtern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ein guter Mix ist für Deutschland der Erfolg versprechende Weg. Ich lade zu einer offenen und konstruktiven Diskussion ein. Absolute Priorität haben für mich aber der Ausbau der Betreuung und eine familienfreundliche Unternehmenskultur. Dafür, dass aus einem kinderentwöhnten Land wieder ein kinderfreundliches Land wird, sind nämlich nicht die Politik und der Staat allein verantwortlich, sondern die gesamte Gesellschaft.

   Damit bin ich bei der zweiten Säule, bei der Wirtschaft, die eine besondere Verantwortung trägt. Deshalb habe ich die Allianz für die Familie mit den vier Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und den Gewerkschaften gegründet. Unser gemeinsames Motto ist: Familie bringt Gewinn. Ein wichtiges Aktionsfeld dieser Allianz sind die Lokalen Bündnisse für Familie. Über Familienfreundlichkeit wird nämlich nicht in Berlin entschieden, sondern vor Ort und darum muss dort etwas passieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Seit dem Start dieser Initiative im Januar 2004 hat sie sich schnell zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. So haben sich bislang 81 Bündnisse der Initiative fest angeschlossen. An weiteren 131 Standorten werden Bündnisse mithilfe des Servicebüros meines Ministeriums vorbereitet. In diesen 212 Kommunen oder kommunalen Zusammenschlüssen leben rund 25 Millionen Menschen. Es ist wirklich ein Erfolg, dass über Familie vor Ort jetzt regelmäßig nicht nur geredet, sondern im Interesse von Kindern und ihren Familien auch gehandelt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Zentrum dieser lokalen Bündnisse steht dabei immer auch die Frage nach familienfreundlichen Arbeitsbedingungen – schließlich beteiligt sich dort die Wirtschaft vor Ort – und nach besserer Betreuung. Zu dieser besseren Betreuung leistet die Bundesregierung ihren Beitrag. Dies ist die erste, die wichtigste Säule.

   Dies ist trotz Kinderzuschlag und trotz der Diskussion über das Elterngeld ein Paradigmenwechsel in der Bundesrepublik Deutschland: weg von der 30-jährigen überwiegend monetären Förderung von Familien hin zu einer Politik besserer Infrastrukturen für Familien, die sie nämlich am dringendsten brauchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Außerdem ist es der dritte und überfällige Schritt zu einer Verbesserung der Tagesbetreuung. Im Jahr 1992 wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz von allen Fraktionen dieses Hohen Hauses beschlossen. 1996 wurde er – unter erheblichem Protest der Kommunen; teilweise erinnern Sie sich vielleicht noch – gesetzlich verankert. Die Kommunen fühlten sich damals nämlich vom Bund finanziell vollkommen im Stich gelassen.

   2002 haben wir mit 4 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode den Ausbau von Ganztagsschulen angestoßen. Nun wollen wir ab 2005 in Westdeutschland die magere Quote von 2,7 Prozent Krippenplätzen und 4,5 Prozent Tagespflegestellen für die unter Dreijährigen bis 2010 auf ein bedarfsgerechtes Niveau anheben und in Ostdeutschland die gute Betreuungssituation erhalten.

7 Milliarden Euro investiert der Bund damit allein in dieser Legislaturperiode in Ganztagsschulen und Betreuung. Wir hätten uns viel Ärger ersparen können, wenn wir diese 7 Milliarden Euro in die Rente gesteckt hätten. Damit hätten wir aber nicht in die Zukunft investiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das wollen und müssen wir aber tun: in die Zukunft, in unsere Kinder und in deren bestmögliche und frühe Förderung und Bildung investieren. Wir sind nämlich nicht nur Schlusslicht bei der Geburtenrate in Europa, sondern auch bei Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen für Kinder. Die bisherige Gesetzeslage reichte offensichtlich nicht aus, um einen bedarfsgerechten Ausbau zu gewährleisten.

   Mit dem TAG konkretisieren wir diesen Bedarf. Wir orientieren ihn am Kindeswohl und den Vereinbarkeitsbedürfnissen der Eltern. Dabei handelt es sich um einen Mindestbedarf, aus dem nicht abgeleitet werden darf, dass die Kindertagesstättengesetze der ostdeutschen Bundesländer verschlechtert werden können.

   Wir wollen mit dem Gesetz bis 2010 circa 230 000 zusätzliche neue Plätze schaffen. Das Gesetz eröffnet den Kommunen die Möglichkeit, die Umsetzung dieser Pflichtaufgabe – ich betone das – flexibel und am lokalen Bedarf orientiert vorzunehmen. Sie sind aber zu einer verbindlichen Ausbauplanung und jährlichen Bilanzierung des Fortschritts verpflichtet.

   Aber es geht nicht nur um Quantitäten, sondern vor allem auch um Qualität. „Betreuung, Bildung und Erziehung“ heißt die Trias, die auch von der OECD begrüßt werden wird und die jetzt auch für die Kindertagespflege gilt. Dies wird unter anderem durch bessere Qualifizierung und bessere soziale Absicherung von Tagesmüttern und Tagesvätern erreicht. Es ist aber nicht Aufgabe des Bundes, Qualitäts- und Bildungskriterien detailliert zu regeln. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Das wird auch in Ihrem Antrag deutlich. Deshalb gehen die Vorwürfe, das TAG schreibe zu wenig zu Qualität und Bildung vor, ins Leere.

   Ich bin im Übrigen dankbar dafür, dass sich in der Zwischenzeit alle Länder auf vorschulische Bildungsziele verständigt haben und dass unsere nationale Qualitätsinitiative mit der Mehrzahl der Länder durchgeführt wird. Das ist eine Form von Föderalismus, die funktioniert und die den Wünschen der Menschen entspricht: Der Bund gibt einen verlässlichen Rahmen vor und die Länder füllen ihn aus, auch im Wettbewerb miteinander. Deshalb ist es im Interesse der Kinder in ganz Deutschland gut, dass das Kinder- und Jugendhilferecht in der Zuständigkeit des Bundes liegt. Das muss auch so bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Bedarf von zusätzlich mindestens 230 000 Plätzen soll in dreifacher Weise gedeckt werden: über das Öffnen der Kindertagesstätten für unter Dreijährige, über qualifizierte Tagespflege und, wo nötig, über neue Krippenplätze. Auf dieser Basis haben wir die Kosten berechnet, und zwar jeweils zugunsten der Kommunen. Wir haben hohe Kosten pro Krippenplatz zugrunde gelegt. Wir haben berücksichtigt, dass unter Dreijährige in Kitas einen besseren Personalschlüssel brauchen und die Qualifizierung von Tagesmüttern nicht umsonst zu haben ist. Wir können unsere Rechnung auf Euro und Cent belegen.

   Beginnend mit 400 Millionen Euro netto im Jahr 2005 entstehen bis zum Jahre 2010 1,5 Milliarden Euro Belastung für die Kommunen. Bis heute habe ich zwar vielfältige Äußerungen des Inhalts gehört, das reiche nicht, aber keinen einzigen Beleg für höhere Kosten gesehen.

(Ina Lenke (FDP): Aber auch nicht andersherum!)

– Ich kann das belegen. Ich kann das offen legen. Sie können mich gern besuchen, Frau Lenke, und ich zeige Ihnen, was das kostet – bis ins letzte Detail.

(Beifall der Abg. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ina Lenke (FDP): Ja, gut!)

   Diese 1,5 Milliarden Euro sollen über das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe finanziert werden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist doch eine Luftnummer!)

2,5 Milliarden Euro an Einsparungen der Kommunen werden verbindlich – so steht es im Gesetz – entstehen. Die Einsparungen kommen bei den Ländern an – das weiß ich wohl –, aber die haben sich verpflichtet, diese an die Kommunen weiterzugeben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sollen – auch das steht so im Gesetz – für Kinderbetreuung und Investitionen eingesetzt werden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich habe das Gefühl, da wird so mancher Euro doppelt ausgegeben!)

   Für die Erfüllung dieser Pflichtaufgabe der Kommunen – das ist außerhalb jeder finanziellen Verantwortung des Bundes; vielleicht darf man das noch einmal sagen –

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

werden für ganz Westdeutschland in 2005 gerade einmal – ich habe es eben gesagt – 400 Millionen Euro netto benötigt. Dem stehen Entlastungen der Kommunen im selben Jahr, 2005 – das ist nachrechenbar –, von 6,6 Milliarden Euro gegenüber, die auf den Bund zurückgehen. 6,6 Milliarden Euro Entlastung!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist doch eine Luftbuchung! Eine absolute Luftbuchung!)

Ich halte noch einmal fest: auf der einen Seite eine Entlastung in Höhe von 6,6 Milliarden Euro, auf der anderen Seite eine Belastung in Höhe von 400 Millionen im Jahr 2005.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Kein sozialdemokratischer Kommunalpolitiker nimmt Ihnen das ab!)

   Wir müssen deshalb nicht an erster Stelle eine Debatte über Finanzen, sondern über die Setzung neuer Prioritäten zugunsten von Kindern und Familien führen. Diese muss in der Bundesrepublik Deutschland endlich einmal stattfinden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Antje Tillmann (CDU/CSU))

Wir in der Bundesregierung setzen diese Prioritäten und erwarten dies auch von Ländern und Kommunen. Wir entlasten die Kommunen im Übrigen über die 2,5 Milliarden Euro hinaus, und zwar dadurch, dass wir sechs von sieben Vorschlägen des Bundesrates, die vom Freistaat Bayern und vom Land Nordrhein-Westfalen kommen, aufgreifen, um Fehlentwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe zu beseitigen. Das reicht vom stärkeren Heranziehen von einkommensstarken Eltern bei der stationären Unterbringung ihrer Kinder bis zur Stärkung der Jugendämter. Über deren Köpfe hinweg dürfen nicht länger Kosten verursacht werden, die sie dann nur noch begleichen dürfen. Mit diesen Maßnahmen entlasten wir die Kommunen pro Jahr zusätzlich um 220 Millionen Euro.

   Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, mit dem TAG erfüllen wir nicht alle Wünsche; das weiß ich. Manche möchten mehr: mehr Bildung, Einbeziehung von noch mehr oder gar allen Kindern oder einen verbindlichen Rechtsanspruch. Für andere ist das, was wir vorgesehen haben, bereits viel zu viel. Ich meine, das TAG stellt eine realistische und finanzierbare Lösung dar. Das TAG steigert die Quantität und die Qualität von Kinderbetreuung und der Bund überschreitet mit diesem Gesetz nicht seine Kompetenzen. Die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf in der Gesellschaft ist groß. Sie reicht von den Kirchen über die Wirtschaftsverbände und den DGB bis hin zu Wohlfahrtsorganisationen und dem Kinderschutzbund, von Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern von SPD und CDU bis hin zu Einzelpersonen wie Gesine Schwan, Rita Süssmuth oder Sandra Maischberger. Wenn Sie eine Blockadehaltung gegen dieses Gesetz einnehmen, werden Sie – das prophezeie ich Ihnen – scheitern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke (FDP): Wer will die denn? – Ina Lenke (FDP): So ein Quatsch! Keiner will die!)

Wir sollten lieber gemeinsam dafür sorgen, dass dieses Gesetz zu einem Erfolgsprojekt wird.

   Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, mit dem Haushalt des Einzelplans 17 wird dafür gesorgt, dass Kinder- und Familienarmut abnimmt, es zu mehr Familienfreundlichkeit kommt, die Gleichstellung von Frauen und Männern gefördert wird und Kindern mehr Bildungschancen verschafft werden. Es ist ein Haushalt für die Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU):

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben soeben gehört, man dürfe bei Kindern und Jugendlichen nicht sparen. Aber, Frau Ministerin Schmidt, genau das tun Sie mit diesem Haushalt. Ihr familienpolitischer Haushalt sieht für das Jahr 2005 ein Minus von 238 Millionen Euro vor. Das ist die zentrale Botschaft. Das ist ein Minus von 4,4 Prozent. Das ist die größte Kürzung bei allen Haushalten im Bereich der Bundesregierung. Diese Negativbotschaft geht von diesem Haushalt aus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es kommt ein Zweites hinzu: Ich kann Ihnen nicht ersparen, dieses zu erwähnen, auch wenn Sie auf Verbesserungen verweisen, die Familien, die von Sozialhilfe leben, zugute kommen. Die Lage der Familien in Deutschland hat sich nicht verbessert. Trotz steuerlicher Verbesserungen geht es den Familien in Deutschland schlechter. Sie kämpfen täglich darum, wie sie ihre Ausgaben bewältigen können, denn die Schieflage ist da. Die täglichen Ausgaben fressen die steuerlichen Entlastungen auf: die geringere Entfernungspauschale, die höheren Benzinkosten, mehr Ausgaben für Öl, Gas und Müll. Außerdem hat der rot-rote Senat in Berlin die Lernmittelfreiheit abgeschafft und die Kindergartenbeiträge sind in astronomische Höhen gestiegen – bis zu 500 Euro pro Kind! –, was zur Folge hat, dass die Kinder vom Kindergarten abgemeldet werden. Das ist die Realität in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir brauchen eine neue Prioritätensetzung für Familien, wohl wahr; wir brauchen aber die richtige Prioritätensetzung. Schauen Sie in die unionsregierten Länder. Seit Jahren haben wir uns angestrengt und dafür gekämpft, dass der Ausbau der Kinderbetreuung vorankommt. In den unionsregierten Ländern finden Sie die besten Voraussetzungen für die Kinderbetreuung. Aber ich sage auch ganz klar: Wir brauchen einen weiteren Ausbau für die unter Dreijährigen und wir brauchen mehr Ganztagsangebote.

(Elke Ferner (SPD): Hört! Hört!)

Wir haben hier nichts versäumt. Wir sind in Hessen und Bayern mit Bildungsplänen vorangegangen. Das ist die Botschaft der Union.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zu dem, was in Ihrem Haushalt real geschieht, Frau Schmidt. Sie haben eben gesagt, die Kürzungen beim Erziehungsgeld seien die Kürzungen des vergangenen Jahres. Aber sie schlagen dieses Jahr für die jungen Familien voll durch. Die Einkommensgrenzen sind um 40 Prozent gesenkt worden. 40 Prozent weniger! Das soll Mut machen für Kinder? Die Botschaft geht genau in die andere Richtung; denn die Familien haben keine Sicherheit und sie werden sich zögerlich verhalten, wenn es um die Realisierung des Kinderwunsches geht.

   In dieser Situation verkünden Sie uns eine neue Leistung: das Elterngeld; es soll aus dem Dilemma herausführen. Wir haben Ihnen gestern gesagt, wir werden uns ganz genau anschauen, was dieses Elterngeld bedeutet. Aber bis heute kennen wir nicht einmal ein Konzept. Sie haben selbst gesagt, Sie haben das noch nicht einmal durchgerechnet. Ich sehe in den Reihen der SPD, dass Sie hart damit ringen; denn Sie müssen sich dann von einem ehernen Grundsatz der SPD verabschieden, nämlich dem Grundsatz, dass jedes Kind gleich viel wert ist. Wie wollen Sie in Ihren eigenen Reihen und wie wollen Sie in Deutschland vermitteln, dass demnächst nicht mehr jedes Kind gleich viel wert ist?

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Bei diesem Konzept kommt ein Punkt hinzu. Ich habe, genau wie Sie, schon in den 80er-Jahren nach Schweden geschaut. Wir haben beide, wie viele andere in diesem Raum, genau betrachtet, was in anderen Ländern geschieht, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf herzustellen. In Schweden dient das Elterngeld hauptsächlich der Gleichstellung von Mann und Frau; es ist kein Instrument, um eine Steigerung der Geburtenrate zu erreichen. Die Sprache und die Botschaften in Schweden sind eindeutig. Aus dem Jahr 2001 gibt es die Schlagzeile: Schweden sorgt sich um seine Geburtenrate. Es sorgt sich, weil die Geburtenrate von 1990 mit 2,14 Kindern zunächst auf 1,5 Kinder und bis heute auf 1,3 Kinder – das ist exakt die gleiche wie in Deutschland – zurückgegangen ist. Und Sie sprechen davon, dass das Elterngeld zu einer Steigerung der Geburtenrate führen soll? Ich warne vor einem Irrweg und vor einem Ansatz, der nicht tragfähig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Was Not tut, ist eine klar strukturierte Familienförderung. Wir haben derzeit in Deutschland Ausgaben von circa 150 Milliarden Euro für 155 Maßnahmen und 39 Stellen im familienpolitischen Bereich. Damit stehen wir vor einem familienpolitischen Dschungel. Liebe Frau Ministerin Schmidt, das ist ein Thema, dessen Sie sich annehmen müssen: Licht in diesen Dschungel zu bringen, für Transparenz und mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist es, was Familien in unserem Land brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich nenne Ihnen zwei Wege. Der eine Weg ist: Schaffen Sie Transparenz. Wir wollen von Unionsseite die familienpolitischen Leistungen in einer Familienkasse bündeln. Es kann nicht mehr sein, dass nach dem Gießkannenprinzip viel gegeben wird. Wir brauchen eine zielgerichtete Familienpolitik. Dazu gehört eine familienfreundliche Steuerpolitik; denn Familien brauchen mehr Geld in der Tasche und nicht weniger, wie es derzeit in Deutschland der Fall ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

   Der zweite Weg wird in Frankreich gegangen. In Frankreich zahlt nur noch die Hälfte der Haushalte Lohn- und Einkommensteuer, weil eine klare Entlastung der Familien mit Kindern existiert.

Ab dem dritten Kind sind die Familien von der Steuer freigestellt.

   Mit unserem Steuerkonzept, das neben dem Arbeitnehmerrfreibetrag von 1 000 Euro einen Grundfreibetrag von 8 000 Euro vorsieht, muss eine Familie mit zwei Kindern bei einem Einkommen bis zu 33 000 Euro null Euro Steuern zahlen. Das ist die positive Botschaft für Familien in Deutschland. Es gilt, dieses Konzept umzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   An dieser Stelle sage ich Ihnen ganz deutlich: Es ist fatal, dass Sie auch bei der Pflegeversicherung einen falschen Weg eingeschlagen haben. Dadurch wird eine falsche Botschaft ausgesendet. Durch die Neuregelung der Pflegeversicherung erfüllen Sie nämlich nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Familien zu entlasten. Sie belasten vielmehr die Kinderlosen. Die Eltern haben null Euro Vorteil von dieser Regelung und bleiben auf der gleichen Belastung sitzen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und Sie erhöhen erst einmal die Beiträge für alle!)

Dagegen führt der Kinderbonus, den wir einführen wollen, zu einer Entlastung der Familien. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern und einem Einkommen von 1 000 Euro wird zukünftig bei 5 Euro Kinderbonus null Euro Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen. So muss man es machen: Entlastung der Familien, nicht Belastung der Kinderlosen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

   Ihre Aktivitäten im Bereich der Gleichstellungspolitik: Fehlanzeige. Auch die Seniorenpolitik – unsere Gesellschaft wird immer älter; das ist eines der drängendsten Probleme in unserem Land – tritt auf der Stelle. Vom Nationalen Aktionsplan zur Bewältigung der demographischen Herausforderung, dem Kernstück Ihrer Politik für ältere Menschen, ist nichts zu sehen: Fehlanzeige. Mit der Diskussion über das Tagesbetreuungsausbaugesetz blenden Sie derzeit alles andere aus.

   Für die Union sage ich klar und deutlich: Wir wollen den Ausbau der Kinderbetreuung. Wir wollen im Ganztagsbereich und im schulischen Bereich sowohl mit der Betreuung der unter 3-jährigen Kinder als auch mit der Betreuung für alle anderen Kinder vorankommen. Die Botschaft ist klar: mehr Kinderbetreuung, mehr Ganztagsplätze und mehr frühkindliche Förderung.

(Zustimmung bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber es muss auch bezahlbar sein und solide finanziert werden. Genau da liegt der Fehler in Ihrem Gesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

   Frau Schmidt, Sie sind zurückgerudert. Sie haben heute gesagt, es solle 230 000 Betreuungsplätze geben. Das ist immerhin etwas. Aber sie hatten ursprünglich eine 20-prozentige Versorgungsquote eingeplant. Frau Deligöz hat immer von einem Rechtsanspruch auch für die unter 3-Jährigen geträumt.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir haben eben noch Träume!)

Das ist durchaus eine mögliche Zielvorstellung. Frau Deligöz, Sie haben jetzt dieses Gesetz als mutlos bezeichnet. Da haben Sie Recht. Nicht nur dieses Gesetz, sondern die gesamte Familienpolitik dieser Bundesregierung ist mutlos. Wenn in diesem Land Mutlosigkeit ausgestrahlt wird, ist die Anzahl der geborenen Kinder nicht so groß, wie wir uns das wünschen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)

   Hinzu kommt: Der Ausbau soll nicht bis 2006 erfolgen, sondern erst bis zum Jahr 2010. Was machen denn Eltern, deren Kind jetzt geboren wird? Denn bis es die Betreuungsplätze gibt, ist das Kind schon in der Grundschule. Das kann doch nicht die frohe Botschaft sein, die Sie hier verkünden wollen.

   Trotzdem, Frau Schmidt: Wir werden gemeinsam mit Ihnen dafür kämpfen, dass es mehr Kinderbetreuungsplätze gibt und dass es mehr und bessere Bildung gibt. Der qualitative Aspekt ist durchaus auch für den Bundesgesetzgeber wichtig. Ich glaube, da sind wir uns einig. Aber Sie haben eine Weichenstellung in Ihrem Gesetz vorgenommen, die genau im Widerspruch dazu steht. Wenn Sie sagen, das Kriterium „bedarfsgerecht“ wird festgemacht an der Erwerbstätigkeit der Eltern, dann halte ich das für falsch. Denn alle Eltern – egal ob die Mutter oder der Vater erwerbstätig ist – müssen die Möglichkeit haben, ihr Kind in eine Kita – egal ob in eine Krippe oder in einen Kindergarten – zu schicken. Dieser Anspruch kann nicht an der Erwerbstätigkeit der Eltern festgemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

Wir haben in Bayern und Baden-Württemberg die höchste Frauenerwerbsquote. Dort gibt es mit 1,4 Prozent auch die höchste Geburtenrate. Das hängt auch mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung und mit einer besseren Arbeitsmarktsituation zusammen. Die klare Botschaft ist: Familien brauchen Sicherheit, auch Sicherheit durch einen Arbeitsplatz. Das bedeutet: Wir müssen Deutschland in puncto wirtschaftlicher Entwicklung wieder voranbringen und mehr Arbeitsplätze schaffen. Hinzu kommen müssen dann noch mehr Kinderbetreuungsmöglichkeiten, eine bessere frühkindliche Erziehung und eine steuerliche Entlastung. Wir werden auch über das Elterngeld reden müssen. Vielleicht werden wir dann in Deutschland eine Wende erreichen.

   Wir haben einen Antrag vorgelegt. In diesem Antrag haben wir deutlich gemacht, wie man Eltern nicht ständig belastet, sondern entlastet. Im Saarland ist man vor Jahren den Weg gegangen, das dritte Kindergartenjahr für Eltern kostenfrei zu stellen. Das ist ein Weg, den ich mir für ganz Deutschland wünsche.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn damit würden Eltern entlastet und bessere Bedingungen für Familien herbeigeführt.

   Mein Fazit lautet: Wir brauchen in der Familienpolitik einen Paradigmenwechsel; Frau Schmidt, Sie haben Recht. Wir dürfen nicht mehr in dem Gegensatz denken: entweder bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Ausbau der Kinderbetreuung – wozu selbstverständlich auch die Wirtschaft gehört, die familienfreundliche Arbeitsplätze schaffen muss – oder finanzielle Förderung. Beides muss zugleich geschehen!

   Was Familien in unserem Land aber wirklich brauchen, ist ein Politikwechsel, ein Wechsel von Rot-Grün zur Union.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn dort, wo die Union regiert, geht es den Familien und den Kindern besser. Deshalb brauchen wir auch auf Bundesebene einen Wechsel.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Da müssen Sie ja selbst lachen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Böhmer, mit Ihrer Rede haben Sie es geschafft, alles schlechtzureden. Ich werde gleich zeigen, dass das, was Sie im Hinblick auf die Familienpolitik gesagt haben, falsch war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Einzelplan 17 leistet mit einer Kürzung um 4,4 Prozent seinen Anteil an der Haushaltskonsolidierung; das ist wahr. Dies fällt uns nicht leicht. Aber wenn Sie sehen, dass bereits 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an Schulden aufgelaufen sind, müssen Sie zugeben, dass es zu diesen Einsparungen keine Alternative gibt. Das sind wir der nächsten Generation schuldig.

   Ich bin froh, Frau Böhmer, dass es im Wesentlichen keine Leistungskürzungen gibt. Die Einsparungen resultieren – vielleicht haben Sie das gesehen – aus der Angleichung des Zivildienstes an den Wehrdienst und aus der geringeren Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes wegen rückläufiger Geburtenzahlen.

   Ich sage es noch einmal an die Adresse der CDU/CSU: Bei der Familienpolitik gibt es keine Abstriche. Der Bund wendet im Jahr 2005 insgesamt 60 Milliarden Euro für die Familien auf. 1998 lag dieser Betrag bei 40 Milliarden Euro. Eine Steigerung um 50 Prozent in sechs Jahren, das kann sich doch wohl sehen lassen! Es ist sehr durchsichtig, warum Sie das immer schlechtreden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich komme zu einem Thema, bei dem manchmal unterstellt wird, wir duckten uns weg. Ich meine das Thema „Frauen und die Auswirkungen von Hartz IV“. Wir wissen, dass es bei der Umsetzung Probleme gibt, zum Beispiel durch die verschärfte Anrechnung des Partnereinkommens. Viele Frauen werden kein Arbeitslosengeld II erhalten. Wir werden aber dafür sorgen, dass auch für Nichtleistungsempfängerinnen zumindest ein bestimmter Anteil am Integrationsbudget festgeschrieben wird. Ähnliches gilt für Berufsrückkehrerinnen. Deren Zahl hat sich halbiert. Das dürfen wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die meisten Betroffenen sind hochmotivierte Frauen mit einer hohen Vermittlungschance. Hier brauchen wir eine Verpflichtung der Bundesagentur, die auch die Auszahlung der ESF-Mittel für den Unterhalt beinhalten sollte.

   Es gibt weitere Verbesserungen – auch wenn Sie es nicht hören wollen –, über die wenig gesprochen wird. Ein Viertel aller Alleinerziehenden sind heute Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Sie erhalten ab 2005 Arbeitslosengeld II und damit erstmals eine Einbeziehung in die Sozialversicherung, ein Recht auf aktive Unterstützung bei der Suche nach Arbeit sowie Hilfe bei der Suche nach einer Kinderbetreuung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Und noch etwas, was gar nicht oft genug gesagt werden kann: Jedem jungen Menschen bis zu 25 Jahren wird ab 2005 verbindlich ein Aus- oder Weiterbildungs- bzw. ein Arbeitsplatz angeboten. Wann hat es das schon einmal gegeben? Warum reden Sie das alles eigentlich klein?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ein Wort zur Gleichstellungsbilanz der Bundesregierung; daran hat es ja heftige Kritik des von mir sonst sehr geschätzten Frauenrats gegeben. Er beklagt, dass der Anteil der Frauen an den Professuren nur 8 Prozent beträgt, obwohl die Studienanfänger zu über 50 Prozent Frauen sind. Auch ich finde das beklagenswert, zumal es mit einem Anteil von 18 Prozent genügend habilitierte Frauen gibt. Aufgrund unseres Föderalismus kann der Bund hier aber nicht regelnd eingreifen; da müssen die Länder etwas tun.

   Dann beklagt der Frauenrat, dass nur jede zehnte Frau eine Führungsposition bekleidet. Dort, wo der Bund zuständig ist, gibt es aber seit 1998 enorme Verbesserungen. Ich erwähne hier nur die positive Einstellungsbilanz der Ministerien. Im Auswärtigen Amt sind von den seit 1998 neu Eingestellten 67 Prozent Frauen, im Gesundheitsministerium sind es 62 Prozent.

   Nach meiner Überzeugung hätte ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft die Situation von Frauen verbessern können. Die Wirtschaft triumphiert noch heute, dass sie ein solches Gesetz verhindert hat. Dies wird die Wirtschaft noch bereuen, ebenso wie sie es bereut hat, dass sie viele über 50-Jährige ausgemustert hat. Schon jetzt sieht sie den Schaden und gibt auch zu, dass ihr die Erfahrung der Älteren fehlt. Es ist eine Abwertung der Leistung älterer Menschen, für die es überhaupt keine Grundlage gibt. Wenn ich hier in die Runde schaue, sehe ich viele über 50-Jährige, die, wären sie in der Wirtschaft, davon betroffen wären. Darum wird es Zeit für ein arbeitsrechtliches und zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz.

   Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr gefreut, dass auch der Kanzler in seiner gestrigen Rede auf die ungeheure Herausforderung durch die alternde Bevölkerung hingewiesen hat. Hier müssen wir ganz schnell Konzepte entwickeln, damit es nicht zu dem von einigen proklamierten Krieg der Generationen kommt. Dazu brauchen wir eine neue Politik für ältere Menschen, die auch den Bedürfnissen der aktiven 50- bis 80-Jährigen Rechnung trägt. Der Fünfte Altenbericht wird sich mit diesem Thema beschäftigen.

   Daneben muss es weitere Verbesserungen in der Pflege gerade auch für Demenzkranke geben. Ich bin sicher, dass der runde Tisch, den die Ministerin eingerichtet hat, wertvolle Handlungsempfehlungen geben wird.

   Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine große Verantwortung gerade für die Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Dieser Verantwortung werden wir uns stellen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Otto Fricke, FDP-Fraktion.

Otto Fricke (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Bezug auf die Grünen muss ich präzisieren: Meine lieben Kolleginnen! Männer sind bei dieser Debatte in Ihrer Fraktion wieder einmal nicht zu sehen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Männer sind zu 90 Prozent in Führungspositionen!)

– Ich weiß, dass Sie damit Probleme haben. Schauen Sie einmal, wie viele Männer in der liberalen Fraktion sitzen, die sich für dieses Thema interessieren.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben es auch nötig!)

Sie verlangen doch immer, dass Männer bei Familienpolitik mitreden und sich für sie interessieren. Setzen Sie dies einmal bei Ihren eigenen Männern durch! Dann käme es auch nicht zu dieser einseitigen Sicht.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Familienpolitik, Seniorenpolitik und Jugendpolitik sind Politikbereiche, die sehr stark mit Emotionen zu tun haben. Hier haben wir es mit Fragen zu tun, die unser gesamtes Leben betreffen: Wie plane ich mein Leben? Wohin führt mein Leben? Was sind die Ergebnisse? Hier geht es ganz entscheidend darum, wie man ein Leben mit Kindern so hinbekommt, dass man – das steht zwar so nicht in unserer Verfassung; aber wir alle wollen es – sein persönliches Glück verfolgen kann. Das schafft man nur, indem man in einer Partnerschaft beide dazu führt.

   In diesem Zusammenhang komme ich zu dem Elterngeld, das Sie, Frau Ministerin, mithilfe einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit, begleitet von der Industrie – das ist auch sehr geschickt gemacht –, nach draußen gebracht haben. Meine Fraktion unterstützt Ihre Absichten. Ob Ihre Fraktion es auch tut, weiß ich noch nicht. Wenn ich die kritischen Blicke von Herrn Müntefering sehe, komme ich zu dem Ergebnis, dass Sie hier noch einiges an Arbeit leisten müssen. Wir begrüßen dieses Elterngeld, weil die von Ihnen erwähnten bildungsnahen Schichten ein Kapital für alle in unserer Gesellschaft darstellen. Dabei müssen diese bildungsnahen Schichten Verantwortung für die gesamte Gesellschaft übernehmen, was eben auch bedeutet, Kinder zu haben und zu erziehen. Hier ist es für eine Frau ausschlaggebend, was passiert, wenn sie sich für Kinder entscheidet. Es geht also um die Frage, wie man es hinbekommt, dass eine Frau und ihr Partner in eine Position kommen, in der sie Kinder nicht als eine Bedrohung ihres gewohnten Lebens, sondern als Teil ihres Lebens begreifen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nun komme ich aber zu einem Problem, das die Kollegin gerade schon angesprochen hat: die Finanzierung.

(Ina Lenke (FDP): Genau!)

Natürlich können Sie noch nicht genau sagen, wie Sie es finanzieren. Wenn ich Herrn Diller sinnieren sehe, dann ist mir schon klar, dass er große Probleme bei der Finanzierung sieht. Eines müssen wir aber verhindern: Wir können keine neuen Versprechungen in einem Bereich machen, die zwar richtig sind, die wir aber nicht bezahlen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn das passiert, gehen wir in die falsche Richtung.

   Wenn die zweite Analyse jedoch lautet – das muss man deutlich sagen –, dass die enormen finanziellen Leistungen, die von der jetzigen Regierung und vom jetzigen System erbracht werden, nicht den erwarteten Effekt haben, dann werden wir im Zweifel in Zeiten knapper Kassen zu dem Schluss kommen, dass bestimmte direkte Leistungen nicht mehr geeignet sind, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Welche Maßnahmen wir dann ergreifen werden, will ich jetzt gar nicht ausführen; denn immer dann, wenn man eine Leistung anspricht, heißt es sofort, dort wolle man kürzen. Ich will hier auch niemandem etwas in die Schuhe schieben, aber wir werden den Bereich nennen müssen, in dem es vielleicht wehtun wird.

   Lassen Sie mich noch einen Aspekt des Elterngeldes ansprechen. Wahrscheinlich hat Frau Schewe-Gerigk in der Zwischenzeit alle Männer ihrer Fraktion angerufen, damit sie hierher kommen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe alle zusammengerufen! Resen Sie noch etwas länger, damit sie kommen! – Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die betreuen die Kinder, während wir hier sitzen!)

Im aktuellen Haushalt 2004 wurde die Bemessungsgrenze, bis zu der Erziehungsgeld geleistet wird, gesenkt. Ihr Vorschlag zum Elterngeld weist in eine andere Richtung. Man muss klar sehen, dass hier ein gewisser Widerspruch besteht. Ehrlicherweise sollte man auch sagen, dass die Einsparungen im Haushalt 2004 natürlich fiskalisch bedingt waren und mit nichts anderem zu begründen sind.

(Ina Lenke (FDP): Herr Fricke, da haben Sie Recht!)

   Ich komme nun zu einem Punkt, der das Ministerium immer betrifft, der aber stets nur am Rande erwähnt wird, nämlich zum Zivildienst. Hartz IV und die 1-Euro-Jobs spielen in diesem Bereich eine nicht unwesentliche Rolle. Es wird immer deutlicher, dass es eine Wehrungerechtigkeit gibt. Ich bitte das Ministerium, genau zu prüfen – das ist für meine Fraktion, die die Abschaffung der Wehrpflicht bzw. die Aussetzung der Wehrpflicht fordert, wichtig –, ob nicht die 1- und 2-Euro-Jobs ein Ansatz dazu sind, dass Dienste, die bisher von den Zivildienstleistenden übernommen wurden und die wir uns sonst gar nicht leisten können, so finanziert werden können. Damit könnte die menschlich nahe Betreuung finanziert werden.

   Mein letzter Punkt: Haushälter, gerade die der Opposition, werden immer dafür kritisiert, dass sie bei der Öffentlichkeitsarbeit streichen wollen. In zwei Jahren – da bin ich mir sicher – werden auch Sie, dann in umgekehrter Weise, Streichungen bei der Öffentlichkeitsarbeit fordern.

(Beifall bei der FDP)

Ich will Ihnen auch sagen, warum. Schauen Sie sich einmal an, was es im Internet Schönes zu finden gibt. Ich habe hier das von der Ministerin aktuell vorgelegte Gesetz.

(Ina Lenke (FDP): Das ist ein starkes Stück! Sie, Frau Ministerin, tun so, als wenn es das schon gäbe!)

Hier wird so getan, als wäre dieses Gesetz schon beschlossen. Derjenige, der sich das im Internet anschaut, glaubt, das sei schon beschlossen. Die Parlamentarier sind unwichtig, alles ist schon beschlossen. Ich gebe aber zu, dass es nicht ganz so ist. Auf der letzten Seite steht: Das Gesetz soll Anfang 2005 in Kraft treten.

   Es wird nie und nimmer – Frau Ministerin, auch Sie glauben das sicher nicht – so in Kraft treten, wie es in dieser Broschüre steht. Auch wir wollen das Gesetz, dazu wird Ihnen aber meine Kollegin Lenke besser als ich etwas sagen können. Sie dürfen aber nicht das Geld der Steuerzahler verwenden, um etwas zu verkaufen, was noch gar nicht existiert.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mein Gott, das von der FDP!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.

Christel Humme (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Böhmer, zum sechsten Mal in Folge bringen wir einen rot-grünen Haushalt ein.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Tatsächlich?)

Ich bin froh, dass wir die Regierungsverantwortung tragen und diesen Haushalt einbringen, weil wir es trotz leerer Kassen, die wir von Ihnen geerbt haben, und trotz Haushaltskonsolidierung geschafft haben und schaffen, zu einer besseren und sozial gerechten Familienpolitik zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Deshalb geht es den Familien schlechter in unserem Land!)

Der Haushalt 2005 und die Finanzpolitik der letzten Jahre spiegeln das eindeutig wider.

   Unsere Politik ist sozial gerecht für Familien, weil wir, Frau Böhmer, den Familien tatsächlich eine solide finanzielle Grundlage bieten. Die Familien haben heute im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit rund 3 000 Euro mehr im Portemonnaie.

   Sie, Frau Böhmer, haben den Vergleich mit Frankreich angestellt. Ich bitte Sie, dann auch die Zahlen für Deutschland zu nennen; denn eine Familie zahlt erst ab einem Einkommen in Höhe von 37 000 Euro Steuern. Das ist Fakt. Hier müssen Sie ehrlich bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Unsere Politik ist sozial gerecht für Familien, weil wir mit unseren Arbeitsmarktreformen neue Chancen auf Erwerbsarbeit eröffnen.

(Ina Lenke (FDP): Was ist mit der hohen Arbeitslosigkeit? – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen!)

Mit dem Kinderzuschlag – das ist wichtig – unterstützen wir Familien, die wenig verdienen. Sie erhalten zusätzlich zum Kindergeld monatlich bis zu 140 Euro mehr pro Kind.

   Unsere Politik ist sozial gerecht, weil wir von Bundesseite aus Verantwortung übernehmen und in Kinderbetreuung und Ganztagsschulen investieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Den ersten Schritt haben wir erfolgreich mit dem Programm zum Ausbau der Ganztagsschulen, das ein Volumen von 4 Milliarden Euro hat, gemacht. Über 1 000 zusätzliche Ganztagsschulen meldeten die Länder seit Beginn unseres Programms. Frau Böhmer, Sie haben vorhin behauptet, dass die CDU/CSU-regierten Länder auf diesem Gebiet vorne liegen. Dazu halte ich fest: In Nordrhein-Westfalen bieten 703 Schulen Ganztagsbetreuung an. Mit dem neuen Schuljahr kommen damit 35 000 ganztagsbetreute Schulplätze hinzu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Betreuung am Nachmittag, aber keine Schule!)

In Bayern wurden nicht einmal halb so viele Ganztagsschulen aufgebaut. Was Sie vorhin gesagt haben, ist daher nicht richtig.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Wenn Schule draufsteht, muss auch Schule drin sein!)

   Mit unserem Gesetz zum Ausbau der Ganztagsbetreuung unternehmen wir heute den zweiten Schritt. Wir helfen, die Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren vor Ort zu verbessern. Familien brauchen und wünschen finanzielle Entlastung, neue Chancen zur Teilhabe am Erwerbsleben und den Ausbau von Ganztagsschulen und Kinderbetreuung. Das verstehen wir unter moderner Familienpolitik.

   Das kann in keiner Weise, so wie Sie es tun, Frau Böhmer, als Dschungel bezeichnet werden.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Ich rede über die familienpolitischen Leistungen! Da ist der Dschungel!)

Wir haben ein schlüssiges Konzept. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, vermisse ich ein solches Konzept. Alles, was Ihnen einfällt, ist Populismus. Nichts anders war die Äußerung des Generalsekretärs der CSU, Markus Söder, im Juli, so genannten „Rabeneltern“ Sozialhilfe und Kindergeld zu kürzen. Solche Vorschläge helfen Familien überhaupt nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen bin ich sehr froh, dass wir jetzt in der Regierungsverantwortung sind.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Da sind Sie aber allein!)

   Unsere Politik ist natürlich auch für Frauen sozial gerecht. Frauen haben zu Recht den Wunsch nach gleichberechtigter Teilhabe am Erwerbsleben. Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, Herr Kampeter. Denn auch dazu brauchen die Frauen eine Ganztagsbetreuung für ihre Kinder. Damit sie Familie und Beruf besser vereinbaren können, haben wir ihnen bereits am 1. Januar 2001 einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit eingeräumt. Dieses Gesetz, das im Zusammenhang mit der Gleichstellungspolitik zu sehen ist, ist Teil eines sehr schlüssigen Konzepts.

(Ina Lenke (FDP): Das ist kontraproduktiv!)

   Ein solch schlüssiges Konzept vermisse ich von der Opposition, Frau Böhmer. Ich gebe zu, dass ich etwas irritiert bin. Sie verlieren sich in Widersprüchen: Einmal haben Sie das Familiengeld, dann die Betreuung in den Vordergrund gestellt. Andere in Ihren Reihen sagen, Betreuung sei überhaupt nicht finanzierbar. Heute höre ich sogar etwas ganz Neues: die Kinderkasse. Alles in allem: Es liegt überhaupt kein Konzept vor, wie das insgesamt seriös gegenfinanziert werden soll.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Von seriösen Finanzen verstehen Sie überhaupt nichts! – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist jetzt aber kühn! Das ist ja lachhaft!)

Darum bin ich froh, dass wir in der Regierungsverantwortung sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Last but not least ist unsere Politik auch sozial gerecht für Kinder und Jugendliche, weil wir Kindern und Jugendlichen von Anfang an beste Bildungschancen bieten wollen, und zwar in Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Wenn Kinder und Jugendliche unsere besondere Unterstützung brauchen, muss sichergestellt sein, dass die Jugendhilfe vor Ort greifen kann. Das heute vorgelegte Kinder- und Jugendhilfegesetz ist eine Weiterentwicklung. Es soll Bewährtes erhalten und Praxiserfahrungen einarbeiten. Wir wollen kein Gesetz, das einer Jugendhilfe nach Kassenlage Tür und Tor öffnet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Bei der Rente haben Sie das schon eingeführt!)

   Für die Zukunft ist es darum wichtig, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz im Rahmen der föderalen Neuordnung in der Zuständigkeit des Bundes bleibt. In diesem Zusammenhang unterstütze ich die Forderung von Renate Schmidt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jugendliche brauchen von Anfang an Bildung und Chancengleichheit. Auch hierfür haben wir ein schlüssiges Konzept, das ich bei Ihnen völlig vermisse. Alles, was Ihnen dazu einfällt, sind Sparvorschläge nach der Rasenmähermethode.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich glaube, es war Herr Steinbrück, der den Rasenmäher an den Subventionsabbau angesetzt hat!)

Nichts anderes sind auch die Vorschläge Ihres Kollegen Stoiber,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das war ein gewisser Steinbrück mit einem gewissen Koch!)

den Haushalt pauschal um zusätzlich 5 Prozent zu kürzen. Das würde für den Familienhaushalt bedeuten, dass zusätzliche Kürzungen in Höhe von 230 Millionen Euro erfolgen müssten.

(Maria Eichhorn (CDU/CSU): Bei Familie soll nicht gestrichen werden!)

Wollen Sie das wirklich? Wo wollen Sie streichen? Selbst wenn Sie alle freiwilligen Leistungen aus dem Kinder- und Jugendplan streichen würden, hätten Sie zwar einen Kahlschlag betrieben

(Ina Lenke (FDP): Die zweitgrößte Streichung aller Haushalte!)

– das ist richtig –, aber noch nicht einmal die Hälfte der 230 Millionen Euro erreicht. Deshalb bin ich froh, dass wir in der Regierungsverantwortung sind und die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Maria Eichhorn (CDU/CSU): Um 4,4 Prozent kürzen! Das ist ja lächerlich! – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Mit der Wahrheit habt ihr es nicht so, was?)

   Unser Tagesbetreuungsausbaugesetz ist ein gutes Beispiel für sozial gerechte Politik. Damit gehen wir ein ganzes Problembündel effizient an. Wir verbessern die Bildungschancen für Kinder und die Erwerbschancen für Frauen. An dieser Stelle tun wir auch etwas für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

   Folgendes ist wichtig – das sage ich bewusst in Richtung FDP, die an dieser Stelle den entsprechenden Antrag gestellt hat –:

(Ina Lenke (FDP): Ja, so ist es!)

An Finanzierungsstreitigkeiten darf dieses Zukunftsprojekt nicht scheitern.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wie? Das Geld ist jetzt nicht mehr wichtig, oder was soll das heißen? – Ina Lenke (FDP): Wir streiten uns doch gar nicht!)

– Frau Lenke, mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe entlasten wir die Kommunen um jährlich 2,5 Milliarden Euro.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wenn Sie mit Luftbuchungen arbeiten!)

Ich denke, es ist unser gutes Recht, dass wir uns hier einmischen und von den Kommunen erwarten, in Zukunft 1,5 Milliarden Euro jährlich in Betreuungsangebote für unter Dreijährige zu investieren;

(Maria Eichhorn (CDU/CSU): Ja, aber woher sollen sie denn das Geld nehmen?)

denn der Ausbau der Kinderbetreuung ist unser zentrales Zukunftsprojekt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Maria Eichhorn (CDU/CSU): Wenn Sie denen das Geld geben, werden sie es gerne tun!)

– Hören Sie doch zu, Frau Eichhorn. Ich habe Ihnen gerade gesagt, woher das Geld kommt.

(Maria Eichhorn (CDU/CSU): Ja, ja! Luftschlösser sind das!)

   Jetzt ist es an Ihnen, zu zeigen, wie wichtig Ihnen der Ausbau der Kinderbetreuungsangebote wirklich ist. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu und sorgen Sie in den von Ihnen geführten Ländern und Kommunen für seine Umsetzung: zum Wohle der Kinder, der Familien und unserer Zukunft in Deutschland.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Maria Eichhorn (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach sechs Jahren rot-grüner Familienpolitik kommt die größte gesellschaftspolitische Online-Umfrage „Perspektive-Deutschland“ zu dem Ergebnis, dass nicht nur Familien mit Kindern, sondern alle Befragten mit der Situation von Familien mit Kindern in Deutschland sehr unzufrieden sind. 64 Prozent der Befragten fordern, Deutschland endlich familien- und kindgerechter zu machen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was heißt das denn?)

Meine Damen Vorrednerinnen, die Wahrnehmung der Bevölkerung ist also eine ganz andere als die, die Sie vorhin angeführt haben. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Familienpolitik konzentriert sich bei Rot-Grün seit Monaten ausschließlich auf die Kinderbetreuung der Null- bis Dreijährigen. Die Finanzierung haben Sie aber nicht sichergestellt. Sie bauen diese auf Luftschlösser aus Hartz IV

(Bettina Hagedorn (SPD): Das ist doch der Gipfel!)

und fordern die Kommunen auf, 1,5 Milliarden Euro in Betreuungsangebote für Null- bis Dreijährige zu investieren. Ob, wann und in welcher Höhe die Einsparungen, die den Kommunen versprochen wurden, tatsächlich eintreten, weiß keiner.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Mit der Revisionsklausel zeigen sie ja, dass sie selber nicht daran glauben!)

   Zudem zeigen die Berechnungen der Spitzenverbände der Kommunen, dass die von der Bundesregierung kalkulierten 1,5 Milliarden Euro für einen qualitätsorientierten Ausbau der Betreuung nicht ausreichen. Die Entlastungen durch das KJHG, die Sie auf Druck der Kommunen im TAG vorgesehen haben, sind gering. Sie sind nicht einmal bereit, die gemeinsamen Vorschläge von Nordrhein-Westfalen und Bayern mitzutragen. Frau Ministerin, das ist zu wenig.

Die Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit hat bei Ihnen einen geringen Stellenwert. Der von Ihnen festgelegte Bedarf an Kinderbetreuungsangeboten orientiert sich nicht am Wohl des Kindes, sondern an arbeitsmarktpolitischen Erfordernissen. Sie vermitteln den Eindruck, dass alle Eltern eine Vollzeiterwerbstätigkeit anstreben und eine Rundumbetreuung der Null- bis Dreijährigen wünschen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb haben wir auch den Rechtsanspruch auf Teilzeit eingeführt!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Eichhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn, SPD-Fraktion?

Maria Eichhorn (CDU/CSU):

Bitte sehr.

Bettina Hagedorn (SPD):

Sehr geehrte Kollegin Eichhorn, ich hätte eine Frage an Sie. Im Hinblick auf die Gegenfinanzierung der Kinderbetreuung im Rahmen von Hartz IV haben Sie davon gesprochen, dass das in keinster Weise gesichert sei.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Dabei haben wir seit Ende Juni dieses Jahres Einvernehmen mit dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund, die anerkannt haben, dass ab 2005 pro Jahr 2,5 Milliarden Euro bei den Kommunen verbleiben werden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das haben die doch gar nicht bestätigt! Das ist unwahr, Frau Kollegin Hagedorn! Eine Ihrer üblichen Unwahrheiten!)

Das ist durch die Revisionsklausel auch gesichert. Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis. – Es wäre schön, wenn Ihre Kollegen mich ausreden lassen würden. – Es ist nur ein kleiner Bruchteil – wie die Ministerin ausgeführt hat – der tatsächlich von den Kommunen in die Kinderbetreuung investiert werden muss.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wann kommt die Frage, Frau Kollegin?)

   Da Sie ja, wie man an Ihrem Akzent hören kann, eher aus dem südlichen Teil unseres Landes kommen, fände ich es sehr schön, wenn Sie Stellung dazu beziehen würden, was Sie von dem Vorschlag von Herrn Stoiber halten, der die generelle Absenkung des Haushaltes um 5 Prozent gefordert hat.

(Ina Lenke (FDP): Sie haben doch den Haushalt um 5 Prozent abgesenkt! Das ist doch so! – Gegenrufe von der SPD: Zusätzlich!)

Das würde für den Einzelplan 17 230 Millionen Euro bedeuten, zusätzlich wohlgemerkt zu Koch/Steinbrück und allem anderen. Würden Sie dazu Stellung nehmen, was Ihrer Vorstellung nach im Einzelplan 17 zu streichen sei?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Maria Eichhorn (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Hagedorn, zum letzten Punkt kann ich Ihnen sagen, dass die Kürzungen in Ihrem Haushalt bei 4,4 Prozent liegen. Wie viel Unterschied ist da zu 5 Prozent? Ich kann Ihnen sagen, dass in Bayern gespart wird – aber nicht bei den Familien.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Gegenteil, das Erziehungsgeld in Bayern bleibt. Zudem ist ein Bildungsplan für die Kindergärten neu erstellt worden. Das heißt, Bayern geht gerade in der Familienpolitik mit einem sehr guten Beispiel voran. Machen Sie das im Bund nach, dann können wir miteinander diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl (SPD): Halbtagskindergärten!)

   Zum Ergebnis des Vermittlungsausschusses: Ich weiß nicht, ob wir auf unterschiedlichen Ebenen leben. Wenn ich mit Vertretern der Kommunen rede, dann sagen sie mir alle, dass das, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist, gerade einmal der Ausgleich für das ist, was den Kommunen vorher genommen worden ist.

(Nicolette Kressl (SPD): So ein Blödsinn!)

Von den 1,5 Milliarden Euro, die ihnen jetzt versprochen worden sind,

(Caren Marks (SPD): Wer hat denn für die Entlastung der Kommunen gesorgt?)

können sie diese Betreuung nicht finanzieren, denn sie müssen zunächst einmal die Kosten aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe tragen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Genau!)

Die Kosten, die durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz entstehen, sind hier noch nicht gedeckt. Lesen Sie einmal die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände nach, diskutieren Sie mit Oberbürgermeistern und mit Landräten, dann werden Sie zu der Erkenntnis kommen, dass die Finanzierung nicht gesichert ist. Tun Sie etwas für die Finanzierung!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Nach den Hauptgründen befragt, warum Eltern auf ein zweites Kind verzichten, antworten in der bereits zitierten Studie 68 Prozent der Eltern, sie würden deswegen auf ein zweites Kind verzichten, weil Kinder viel Geld kosten und sie sich das nicht leisten können, nur 38 Prozent der Eltern gaben an, dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen.

(Caren Marks (SPD): Weil sie nicht arbeiten gehen können und die Betreuung fehlt!)

Das Statistische Bundesamt beziffert die Kosten für ein Kind, von der Geburt bis zum Ende der Ausbildung, auf rund 220 000 Euro. Nach dem Sechsten Familienbericht decken davon die staatlichen Fördermaßnahmen etwa ein Viertel ab. Für den Rest müssen die Eltern aufkommen. Familien mit zwei Kindern verfügen über die Hälfte des Einkommens kinderloser Ehepaare. Immer mehr Kinder und Jugendliche werden zu Sozialhilfeempfängern: Im letzten Jahr ist die Anzahl der Kinder, die von Sozialhilfe abhängig sind, um 6 Prozent gestiegen. Trotzdem setzen Sie überwiegend auf Betreuungsangebote. Frau Ministerin, Tatsache ist, dass Sie mit den Kürzungen beim Erziehungsgeld und mit den Plänen zur Abschaffung der Eigenheimzulage noch mehr Familien ins Abseits stellen.

   Obwohl Sie keine verlässliche Finanzierungsgrundlage für die Betreuung der unter Dreijährigen anbieten, versprechen Sie nun das Elterngeld. Von Finanzierung keine Spur. Dieses Elterngeld wird aufgrund der hohen Kosten und auch wegen dessen fehlender Wirksamkeit und Gerechtigkeit in Ihren eigenen Reihen in Zweifel gezogen, und zwar nicht nur von den Kabinettskollegen, sondern auch von der Vorsitzenden des Familienausschusses, Ihrer Fraktionskollegin Kerstin Griese.

   Sie wollen die Familienförderung von der Erwerbstätigkeit abhängig machen. Das widerspricht der Wahlfreiheit, meine sehr geehrten Damen und Herren von SPD und Grünen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Beruf und Familie müssen und sollen entsprechend den Wünschen der Eltern in eine ausgewogene Balance gebracht werden.

(Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wunderbar!)

Deshalb ist ein qualitativer und bedarfsgerechter Ausbau der Kinderbetreuung notwendig; das wollen auch wir. Genauso notwendig sind aber auch eine angemessene finanzielle Förderung, die eine echte Wahlfreiheit ermöglicht und nicht nur eine bestimmte Schicht von Eltern fördert, und die Stärkung der Erziehungs- und Elternkompetenz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wie es besser gehen kann, macht Frankreich vor. Der Erfolg der französischen Familienpolitik, die zu einer durchschnittlichen Geburtenrate von 1,9 führt, liegt in einer Vielzahl von Maßnahmen und Instrumenten zur Unterstützung der Familien.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ganztagsbetreuung ab sechs Monate!)

In Deutschland werden meist nur die Betreuungsmöglichkeiten genannt, die natürlich auch in Frankreich ein Teil der Familienpolitik sind. Hinzu kommen aber – und das ist besonders wichtig – eine Reihe von steuerlichen Entlastungen von Familien und die gezielte finanzielle Förderung französischer Familien. Deswegen ist der Erfolg der französischen Familienpolitik so groß.

   Nach einer Studie des BAT-Freizeit-Forschungsinstituts ist die Familie die umfangreichste und beständigste Zukunftsvorsorge. Die Familie vermittelt Werte, bietet ein verlässliches soziales Netz und fördert die Lebensqualität für alte und junge Menschen sowie die Stabilität der Beziehungen und Bindungen zwischen den Generationen.

   Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Zur Bewältigung dieser vor uns liegenden Aufgaben benötigen wir leistungsbereite und starke junge Menschen, aber auch erfahrene Ältere.

   Die Jugendarbeitslosigkeit und das Problem fehlender Ausbildungsplätze sind Ihnen völlig aus dem Ruder gelaufen. Ihre Programme „JUMP“ und „JUMP Plus“ blieben ohne Erfolg,

(Caren Marks (SPD): Das gibt es doch gar nicht!)

weil Sie damit keinen Einstieg in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder in eine Ausbildung geboten haben. Eine Anhörung unserer Fraktion mit Experten und betroffenen Jugendlichen hat gezeigt, dass Sie die falschen Rezepte haben. Statt qualifizierte Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen, haben Sie die Unternehmen und die Jugendlichen durch Ihre Debatte um eine Ausbildungsplatzabgabe verunsichert und viel Zeit verloren.

   Die CDU/CSU-Fraktion hat eine Berufsbildungsnovelle vorgelegt, durch die es den Betrieben erleichtert wird, Ausbildungsplätze zu schaffen. Durch sie erhalten junge Menschen wieder mehr Chancen auf dem Ausbildungs- und auf dem Arbeitsmarkt. Sie hat vor allem jene Jugendliche im Blick, die mehr praktisch begabt sind. Auch an diese Jugendlichen müssen wir denken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

   Absolute Stiefkinder Ihrer Politik sind der Jugendschutz und der Jugendmedienschutz.

(Kerstin Griese (SPD): Das ist doch Quatsch!)

Nach den Ereignissen von Erfurt haben wir das Jugendschutzgesetz in der letzten Legislaturperiode hopplahopp geändert. Bereits damals haben Ihnen die Experten gesagt, dass diese Änderung nicht helfen wird, die Gewalt an den Schulen einzudämmen. Leider hat sich diese Einschätzung als richtig erwiesen. Hätten Sie unsere Vorschläge angenommen, dann könnte es heute etwas anders aussehen.

   Ein ganz trauriges Kapitel ist der Zivildienst. Dabei haben Sie vor einem Jahr Entspannung angekündigt. Wenn Sie aber so weitermachen, werden Sie den Zivildienst kaputtsparen, bis er sich letztlich überhaupt nicht mehr lohnt.

(Ina Lenke (FDP): Das ist doch Absicht!)

Das ist die Wahrheit und wohl auch Ihre Absicht.

   Schon lange warten wir auf einen Vorschlag zum Aufbau von Freiwilligendiensten zur Förderung der ehrenamtlichen generationenübergreifenden Arbeit. Das soll jetzt endlich kommen. Sehen Sie sich an, welche Vorlage wir während unserer Regierungszeit mit den Seniorenbüros erbracht haben. Bauen Sie darauf auf, dann haben Sie eine gute Grundlage!

(Christel Humme (SPD): Wenn das alles war, dann war das nicht viel!)

   Lebensqualität ist nicht nur Erholung, Freizeit und Ruhestand, sondern vor allem das Gefühl, gebraucht zu werden. Wenn wir wissen, dass heute nur noch 39 Prozent der erwerbsfähigen Menschen zwischen 55 und 64 Jahren in Arbeit sind, dann frage ich Sie: Was tun Sie, um ältere Arbeitnehmer wieder in Arbeit zu bringen?

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das haben wir dem Norbert Blüm mit seinem Frühverrentungsprogramm zu verdanken!)

Wer heute über 50 Jahre alt und arbeitslos ist, hat kaum noch Chancen, wieder eine Stelle zu bekommen. Sie haben keine Konzepte, um diesen älteren Arbeitnehmern Perspektiven zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dringender Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Altenpflege. Bei der Novellierung des Heimgesetzes hatten wir Ihnen schon prophezeit, dass es zu einer erheblichen Bürokratisierung kommen wird. Das ist jetzt eingetreten. Frau Ministerin, Sie müssen etwas tun, damit wieder mehr Zeit für die Pflege bleibt und die Zeit der Pflegekräfte nicht mit Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben in Anspruch genommen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Frauenpolitik? – Fehlanzeige! Sie haben schon lange das Antidiskriminierungsgesetz angekündigt. Aber wo bleibt es denn? Darauf haben Sie keine Antwort.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gut Ding braucht Weile!)

   Frau Ministerin, Ihre Halbzeitbilanz ist sehr dürftig. Der Etat Ihres Haushalts weist die stärksten Kürzungen unter allen Ministerien auf. Ihr Haushalt bietet keinerlei Zukunftsperspektiven.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr gute Rede!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Reden der CDU/CSU-Fraktion ist man schon ein bisschen verwundert: Der Bundesrat befasst sich demnächst auf Ihren Antrag hin zum dritten oder vierten Male mit Kürzungsmaßnahmen in der Jugendhilfe und hier tun Sie so, als ob Sie das Rad neu erfinden würden, und setzen sich vehement für die Kinderbetreuung ein.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Wir machen es doch sogar! Wir machen es!)

Ich frage mich: Wo bleiben denn Ihre Anträge im Bundesrat, wo Sie die Mehrheit haben, für mehr Kinderbetreuung und den Ausbau der Kinder– und Jugendhilfe?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wo sind Ihre Ansätze und Gestaltungsvorschläge?

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Wir sind hier nicht im Bundesrat!)

– Aber im Bundesrat haben Sie die Mehrheit. Dort haben Sie sehr wohl die Möglichkeit, Ihre Vorschläge einzubringen.

(Nicolette Kressl (SPD): Ihre Kürzungsvorschläge bringen Sie auch in den Bundesrat ein!)

– Ja, Frau Kressl hat völlig Recht.

   Hier wurde mehrfach Bayern als positives Beispiel angeführt. Ich komme aus Bayern und bekomme durchaus mit, wie die Kinderläden, Kindergärten, Elternvereine und -verbände um jeden Cent zittern.

(Nina Hauer (SPD): Wie in Hessen!)

Dort wird Folgendes gemacht: Da die Geburtenziffer zurückgeht, wird in absehbarer Zeit von sinkenden Ausgaben ausgegangen.

(Ina Lenke (FDP): Damit rechnen Sie doch auch!)

Daher wird innerhalb der nächsten zehn Jahre bei der Kinderbetreuung mit einer Kürzung von 9 000 Stellen gerechnet.

(Ina Lenke (FDP): Sie argumentieren doch genauso!)

Das ist eine verlogene und doppelzüngige Politik. Das ist CSU und nichts anderes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Im Zentrum unseres Gesetzes steht die Kinderbetreuung und der Ausbau der Infrastruktur, wie wir es seit Anfang dieser Wahlperiode angekündigt haben.

(Ina Lenke (FDP): Seit 1998 versprechen Sie das schon!)

Dieses Gesetz haben wir gemacht, weil sich insbesondere die heute CDU/CSU-regierten Länder und auch viele Kommunen geweigert haben, diese Aufgabe zu erfüllen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie haben eine etwas schräge Wahrnehmung der Wirklichkeit!)

Diese Aufgabe, die schon im KJHG steht, ist nicht neu, aber passiert ist nichts. Schauen Sie sich einmal die Quoten an. Weil nichts passiert ist, ist es notwendig geworden, dass wir genauere Kriterien formulieren, die Sie wiederum angreifen.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Sechs Jahre ist nichts passiert!)

Weil nichts passiert ist, fordere ich für die Grünen, dass wir die Rechte der Eltern stärken. Wenn wir Eltern ein einklagbares Recht geben wollen, dann hat das nichts damit zu tun, dass ich der Ministerin nicht traue; das möchte ich dazusagen. Ich vertraue ihr voll und ganz. Sie kämpft in dieser Sache wirklich. Ich traue Ihnen und Ihren Bürgermeistern vor Ort nicht, die nach wie vor die Meinung vertreten, das Beste für das Kind ist, wenn die Mutter zu Hause bleibt und die Hausfrauenrolle übernimmt.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Kommen Sie doch mal in unsere Städte!)

Das ist Ihre Politik. Deshalb fordere ich die Stärkung der Elternrechte, aus keinem anderen Grund.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Sie müssen mal den SPD-Ländern Beine machen!)

Wir reden über ein Gesetz, von dem wir keine Wunder erwarten. Wir haben eine Zeitschiene und müssen natürlich bedenken, dass die Kommunen in einer schwierigen Lage sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat sie in die gebracht?)

Wir reden aber auch darüber, dass die Kinderzahlen in Deutschland zurückgehen, Kapazitäten frei werden und diese Kapazitäten wieder zugunsten der Eltern und ihrer Kinder genutzt und keine Mittel eingespart werden sollen. Darum geht es letztendlich, auch wenn wir über die Kindertagespflege reden. Es geht ferner darum, in ländlichen Gebieten den Frauen Gleichberechtigungschancen zu bieten, damit sie wieder erwerbstätig werden können.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Völlig richtig!)

Ich verstehe nicht, was die Kritik soll, dass wir mit der Reform nur auf die Gleichberechtigung abzielen. Was denn sonst, meine Damen und Herren? Genau das ist es, was wir machen müssen. Gleichberechtigung von Mann und Frau durchzusetzen, das ist unsere Aufgabe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die Diskussion über den Ausbau der Tagesbetreuung findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Schwierigkeit ist auch, dass über uns wie ein Damoklesschwert die Forderung von den CDU/CSU-regierten Ländern schwebt, das Kinder– und Jugendhilfegesetz von der Bundeszuständigkeit in die Länderzuständigkeit zu überführen. Unsere Befürchtung ist, dass es dann zu starken Einschnitten zulasten der Kinder kommen wird. Unsere Befürchtung ist, dass genau diese Menschen, die wir verteidigen, auch die Jugendlichen, die Sie anscheinend ebenfalls verteidigen wollen, die Opfer dieser Änderung sein werden. Deshalb ist unsere Forderung: Das Kinder– und Jugendhilfegesetz muss in der Zuständigkeit des Bundes bleiben.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Völlig richtig!)

Die Debatte über die Kinderbetreuung zeigt, wie Recht wir damit haben, diese Forderung weiterhin aufrechtzuerhalten und dafür auch im Bundesrat zu kämpfen.

(Maria Eichhorn (CDU/CSU): Dann überzeugen Sie den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Steinbrück davon! Der ist anderer Meinung!)

   Vielen herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.

Ina Lenke (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Humme, ich möchte zu Ihnen und zu Ihrem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit kommen. Wir wissen alle: Im Osten haben wir eine gute Kinderbetreuung, aber eine hohe Arbeitslosigkeit, im Westen haben wir wenig Betreuung und weniger Arbeitslosigkeit. Frau Humme, Sie als SPD-Kollegin sprechen von sozialer Gerechtigkeit; ich spreche als Liberale von sozialer Gerechtigkeit.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die kennt die FDP doch gar nicht!)

Wo bleibt die denn bei 4,3 Millionen Arbeitslosen? Das ist heute hier überhaupt kein Thema. Wir sollten uns einmal um die Arbeitslosigkeit kümmern. Das gehört genauso in den Einzelplan 17.

(Beifall bei der FDP – Christel Humme (SPD): Vorschläge bitte!)

   Nach sechs Jahren Regierungszeit hat die Bundesregierung endlich das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Die FDP hat bereits sehr viele, sehr konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Kinderbetreuung gemacht. Denken Sie an unseren Antrag zur Verbesserung der Bedingungen für Tagesmütter oder unseren Vorschlag, die Kinderbetreuung durch mehr Markt und Wettbewerb zu verbessern. Die Altersvorsorge für Tagesmütter und andere „Beipackprobleme“ haben Sie leider in diesem Gesetz nicht gründlich genug angepackt. Davon steht nichts drin.

   Nun zu Ihrem TAG-Entwurf und dem FDP-Antrag „Solides Finanzierungskonzept für den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten für unter Dreijährige“. Die FDP hat im Deutschen Bundestag wiederholt den bedarfsgerechten Ausbau von Betreuungsplätzen und eine Qualitätsoffensive von der Bundesregierung gefordert. Jetzt endlich, nach den Wahlversprechen von 1998 und nach den Wahlversprechen von 2002, haben Sie begonnen. Ich finde es sehr diskriminierend und volkswirtschaftlich verheerend, wenn gut ausgebildete Frauen und an Familienarbeit interessierte Väter heute immer noch keine Chance haben, Erwerbs– und Familienarbeit miteinander zu verbinden.

   Ein Pluspunkt, Frau Ministerin, in Ihrem Gesetz ist, dass qualifizierte Tagesmütter jetzt Krippen und Kitas gleichgestellt werden. Das ist sehr schön. Ich freue mich darüber, dass Sie sich dazu durchgerungen haben. Ich kann für meine Fraktion sagen, dass es uns freut, dass gerade der beharrliche Hinweis der Liberalen auf die misslichen Rahmenbedingungen von Tagesmüttern jetzt von der Bundesregierung aufgegriffen wurde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Was mich auch freut, sind die Verbesserungen hinsichtlich der Familienkrankenversicherung und Unfallversicherung für Tagesmütter. Die sind gut und das müssen wir zugeben. Das mache ich auch gerne. Die FDP hat sich, wie die Bundesregierung auch, für bundesweite pädagogische Mindeststandards eingesetzt.

   Wir müssen aber auch im Ausschuss über Weiteres diskutieren. Das Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung von 2002, nachfrageorientierte Finanzierungsinstrumente zu prüfen, wird mit diesem Gesetz nicht eingelöst. Auch hier gibt es liberale Konzepte: Bildungsgutscheine oder Pro-Kopf-Zuweisungen, damit gezielt Kinder und nicht Einrichtungen gefördert werden. Darüber müssen wir im Ausschuss reden. Durch mehr Markt und mehr Wettbewerb entstehen mehr Qualität und höhere Flexibilität. Deshalb muss neben kommunalen und freien Trägern auch die privatwirtschaftliche Kinderbetreuung in die Förderung mit einbezogen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, alles, aber auch alles hängt – trotz Ihrer blumigen Reden – am seidenen Faden der Finanzierung. Die Bundesregierung will aus den Einsparungen bei Hartz IV das alles finanzieren. Die Kommunen stellen die Berechnungen der Bundesregierung zu Recht infrage – als Kommunalpolitikerin kann ich Ihnen das hier sagen. Obwohl die Ministerin, der Bundeskanzler und Sie als rot-grüne Fraktionskollegen landauf, landab mehr Kinderbetreuung versprechen, haben Sie heute mit dem Entwurf des TAG keine Finanzierung mitgeliefert.

(Christel Humme (SPD): Das stimmt doch gar nicht! Lügen!)

Das ist die mangelnde Qualität dieses Gesetzentwurfes.

(Zuruf von der SPD: Herr Hirche kürzt den Finanzausgleich um 240 Millionen Euro!)

– Herr Kollege aus Niedersachsen, Sie müssen sich etwas besser informieren.

   Wir haben einen Antrag mit zwei Forderungen vorgelegt. Erstens: Legen Sie ein solides und von Hartz IV unabhängiges Finanzierungskonzept vor! Zweitens: Verankern Sie dabei das Prinzip „Wer bestellt, der bezahlt“!

(Zuruf von der SPD: Sie kürzen doch den kommunalen Finanzausgleich in Niedersachsen, niemand anderes!)

Denn es kann nicht sein, dass die Bundesregierung den Kommunen mehr Gesetze und Kosten aufdrückt und sie bei der Finanzierung im Regen stehen lässt.

(Beifall bei der FDP – Christel Humme (SPD): Unglaublich!)

   Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns sicher einig, dass dieser Gesetzentwurf in einer öffentlichen Anhörung beraten werden muss. Die FDP will die Kinderbetreuung mit bundesweiten Standards. Die FDP will für Frauen und Männer mehr Chancen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der wirkliche Pferdefuß von Hartz IV ist die Finanzierung: Keiner weiß, woher das Geld kommen soll.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Caren Marks, SPD-Fraktion.

Caren Marks (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reden der Opposition haben eines immer wieder deutlich gemacht: Reden und Handeln liegen bei Ihnen sehr weit auseinander.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie verdrehen Tatsachen, Sie operieren mit falschen Zahlen – Frau Böhmer –

(Ina Lenke (FDP): Stimmt doch überhaupt nicht!)

und Sie haben keine Konzepte vorzuweisen. Sowohl für die CDU/CSU als auch für die FDP trifft dies ganz deutlich zu.

(Ina Lenke (FDP): Das ist doch Quatsch!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den Anfang kommt es an. Der Ausbau der Betreuung für Kinder unter drei Jahren ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen Reformprojekte unserer Regierung in dieser Legislaturperiode. Vorrangiges Ziel des Tagesbetreuungsausbaugesetzes ist die Erziehung und Entwicklung eines jeden Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Wir, die Bundesregierung und die Fraktionen der SPD und der Grünen, orientieren uns zuerst am Wohl des Kindes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diesbezüglich unterstützen und ergänzen wir auch die elterliche Erziehungskompetenz. Sie wird keineswegs ersetzt, wie von der Opposition immer wieder gern behauptet.

   Bis 2010 ist schrittweise ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren zu schaffen und der westeuropäische Standard endlich zu erreichen. Insbesondere in Westdeutschland besteht hier ein extremes Defizit. Wir, meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen das nicht hin. Wir handeln. Beim Ausbau der Betreuungsplätze setzen wir auf ein differenziertes Angebot: in guter Qualität, zeitlich flexibel, bezahlbar und vielfältig. Durch die Formulierung von Bedarfskriterien konkretisieren wir in dem Gesetz die bereits bestehende Pflichtaufgabe der Kommunen, ein bedarfsgerechtes Angebot vorzuhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Frau Lenke, die Verdoppelung der Zahl der Betreuungsplätze in Westdeutschland bis 2006, das heißt die Schaffung von circa 60 000 Plätzen, ist ein realistisches Ziel und mit 400 Millionen Euro keine finanzielle Überforderung der Kommunen, die im Zuge von Hartz IV ein zugesichertes Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Gute Kinderbetreuung und frühe Förderung ermöglichen Kindern – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft – echte Chancengleichheit in Bildung und Erziehung. Die dringend benötigte Bildungsreform muss im Kleinkindalter beginnen und nicht erst mit der Hochschulausbildung; denn dann ist es für viele bereits zu spät und dann sind Entwicklungschancen bereits vertan. Mit unserem Ansatz leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Innovationsfähigkeit unseres Landes; denn, wie bereits gesagt, auf den Anfang kommt es uns an.

   Wissenschaftlich ist belegt, dass sich gerade bei den Kleinkindern jeder eingesetzte Euro überdurchschnittlich rentiert. Motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein Gewinn für jede Firma. Das Potenzial gut ausgebildeter junger Frauen und Männer ist gleichermaßen zu nutzen. Kinderbetreuung und frühe Förderung sind ein Standortvorteil, und zwar sowohl im kommunalen als auch im internationalen Vergleich. Das bedeutet Wirtschaftswachstum. Das ist aktive Wirtschaftspolitik, Frau Lenke. Meine Damen und Herren von der Opposition, im Gegensatz zu Ihnen hat die Wirtschaft das bereits begriffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ina Lenke (FDP): Dagegen haben wir nichts!)

   Ganztagsbetreuung bedeutet aber auch, Eltern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu unterstützen und ihnen bei ihrer Lebensplanung wirkliche Wahlmöglichkeiten zu verschaffen. Das Armutsrisiko von Familien wird verringert und die eigenständige Lebensführung von Müttern wird so erst ermöglicht. Auch Frau Kollegin Böhmer von der CDU/CSU stellte vor kurzem fest, dass ein besserer Ausbau der Kinderbetreuung vorrangig vor finanziellen Anreizen sei, um eine höhere Geburtenrate zu erreichen.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Bitte?)

Ich begrüße diesen Sinneswandel ausdrücklich, Frau Böhmer. Unser Paradigmenwechsel – weg von einer monetären Familienpolitik hin zu einer Familienpolitik besserer Infrastrukturen – ist nicht nur der richtige Weg, sondern findet auch breite gesellschaftliche Unterstützung.

   Ich bedanke mich ausdrücklich bei unserer Ministerin Renate Schmidt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die durch die Initiativen „Allianz für Familie“ und „Lokale Bündnisse für Familie“ unterschiedliche Partner aus Wirtschaft, von Verbänden, Vereinen, Gewerkschaften, Kirchen, freien Wohlfahrtsträgern und aus der Politik mit wirklich großem Erfolg zusammenführt. Erfolgreiche Familienpolitik braucht breit angelegte Unterstützung. Die Rahmenbedingungen für Familien werden so erst vielfältig optimiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Ausbau einer qualifizierten Tagesbetreuung für Kinder ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Wohl der Kinder muss uns am Herzen liegen. Doch damit ist es nicht getan. Wir müssen vielmehr bereit sein, in die Zukunft unseres Landes, also in unsere Kinder, zu investieren. Kinder mit verpassten Chancen werden kein Verständnis dafür haben, wenn wir einen verträglichen Subventionsabbau zuungunsten von Lobbyisten scheuen. Das Bestehen auf nicht mehr zeitgemäßen Subventionen wie der Eigenheimzulage würde notwendige Investitionen in Bildung, Betreuung und Erziehung einschränken bzw. blockieren.

(Ina Lenke (FDP): Die Grünen wollen die Grundsteuer erhöhen! Das ist abenteuerlich!)

Die Oppositionsfraktionen rufen zwar häufig und gerne nach Subventionsabbau, knicken aber immer wieder vor Interessenverbänden ein.

(Zurufe von der CDU/CSU: Kohle!)

Ich wünschte mir, dass die Fürsprache für Kinder in den Reihen der Opposition stärker ausgeprägt wäre.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das bedeutende Reformprojekt der Bundesregierung und der Fraktionen von SPD und Grünen

(Ina Lenke (FDP): Sie sollten unsere Anträge einmal gut durchlesen!)

– Frau Lenke, hören Sie zu; dann verstehen vielleicht auch Sie es –, der Ausbau von Betreuungsangeboten sowie die Investitionen in Bildung, Betreuung und Erziehung sind von großer gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu verzichten. Meine Damen und Herren von der Opposition, wir haben Konzepte für die Zukunft unseres Landes. Wir gestalten die Zukunft sozial gerecht, familienfreundlich und innovativ.

   Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Nun hat Kollege Walter Link, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag! Frau Bundesministerin Renate Schmidt, Sie haben sich in diesem Jahr gegenüber Ihrer Haushaltsrede des letzten Jahres gesteigert; denn damals hatten Sie für die Seniorenpolitik nur einen Halbsatz; heute waren es mehrere Halbsätze.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte Sie bitten, das in Zukunft ein bisschen ernster zu nehmen.

   Wann immer in der deutschen Seniorenpolitik über gute Ideen diskutiert wird, sagen Sie, Frau Schmidt: Das ist schon in der Pipeline. – Irgendwann muss aus dieser Pipeline einmal etwas herauskommen, auch in der Seniorenpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   So hat die von mir geleitete Enquete–Kommission „Demographischer Wandel“ bereits vor zwei Jahren konkrete Vorschläge zur Reformierung der Seniorenpolitik in Deutschland gemacht, unter anderem zusammen mit Herrn Rürup. Obwohl unsere Empfehlungen weitgehend im fraktionsübergreifenden Konsens mit der deutschen Wissenschaft beschlossen wurden, ist ihre Umsetzung bisher – jedenfalls bei Ihnen in der Bundesregierung – auf der Strecke geblieben.

   So ist das groß angekündigte Rentenreformprogramm von SPD und Grünen nur halbherzig darangegangen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Weitere langfristig wirksame Reformen, die unser Land wieder zukunftsfähig machen sollten, sind – ebenfalls nach großartigen Ankündigungen – für die kommenden zwei Jahre bis 2006 ausgesetzt worden. Jeder fragt, warum.

   Frau Ministerin, ich will dabei Ihre Aktivitäten – auch heute Morgen – nicht schlechtreden. Auch wir in der Union sind für einen runden Tisch zur Verbesserung der Pflegequalität und für den Abbau der Bürokratie; denn das ist im Sinne der deutschen Seniorinnen und Senioren. In den nächsten Jahren wird das Erwerbspersonenpotenzial stark abnehmen. Wenn wir es nicht schaffen, die – das ist heute Morgen schon ein paar Mal angesprochen worden – gegenwärtig 45- bis 55–Jährigen im Berufsleben zu halten, werden wir in zehn Jahren massive Probleme bekommen. Lebenslanges Lernen sollte nicht nur als Schlagwort gebraucht, sondern auch aktiv betrieben und gefördert werden.

   Außerdem fehlt es an Modellen eines veränderten Übergangs von der Erwerbsarbeit in den dritten Lebensabschnitt. Von solchen Modellen hat man nichts gehört. Während bei uns eine Erwerbsquote von 41,5 Prozent bei über 55–Jährigen besteht, haben wir in Japan erfahren – fraktionsübergreifend sind wir mit dem Ausschuss dort gewesen –, wie mit differenzierten Modellen eine Erwerbsquote von über 80 Prozent möglich ist. Frau Kollegin, vielleicht können Sie das in die Regierungskoalition einmal einbringen. Die hohe Quote dort liegt an speziellen Arbeitsförderungsprogrammen der Japaner für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mehr Flexibilität und Abstimmung auf individuelle Leistungsfähigkeit der älteren Menschen sind gefragt.

   Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik von Rot–Grün war in den letzten Jahren aber so miserabel, dass jetzt kein Geld für wichtige, zukunftsorientierte Projekte vorhanden ist. Ihre Politik beschränkt sich nur noch auf Flickschusterei am Sozialsystem. Frau Ministerin, Sie können nicht sagen: Ich bin nicht für alles zuständig. Die Zuständigkeiten müssen mit den anderen Ministerien geklärt werden. Da Sie nicht in der Lage waren, eine zukunftsfähige Reform zu beschließen, fehlt Geld in der Rentenkasse. Das Zumuten von Nullrunden ist keine Art, wie man Menschen behandeln sollte.

   Fast ein Viertel der Menschen in Deutschland ist 60 Jahre und älter. Erfreulicherweise sind die meisten älteren Menschen noch fit und gesund. Die veränderten demographischen Vorzeichen zwingen uns zum Umdenken. Sie trauen sich offensichtlich nicht zu, unsere Sozialsysteme nachhaltig und zukunftsfähig umzugestalten. Die Solidarität zwischen den Generationen ist extrem wichtig und muss im Rahmen einer Pflegereform gefördert werden.

(Dr. Elke Leonhard (SPD): Etwas mehr Dynamik!)

   Im Ausschuss haben wir uns gerade gemeinsam, also fraktionsübergreifend, mit dem vierten Altenbericht befasst, der eine gute Aufarbeitung des Lebens älterer Menschen darstellt. Ich will durchaus einräumen, dass dieser Altenbericht viele gute Ansätze hat. Wir haben auch einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorgelegt.

Frau Ministerin, Sie machen genau das Gegenteil von dem, was notwendig ist, zum Beispiel dadurch, dass Ihr Ministerium aus der Förderung des Deutschen Zentrums für Alternsforschung in Heidelberg zum Jahresende aussteigt. Das las ich dieser Tage in der Zeitung. Warum wird dieser Weltruf genießende Lehrstuhl von Frau Professor Lehr in diesem Jahr finanziell kaputtgemacht? Ich weiß, dass die Förderung des Zentrums in Berlin aufgestockt werden soll. Über diese Frage, Frau Ministerin, müssen wir uns im Ausschuss unterhalten; das will ich nicht heute Morgen hier im Parlament vortragen. Das ist ein Skandal. Die Forschung wird kaltgestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf der Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel)

– Frau Staatssekretärin, das machen wir im Ausschuss zum Thema.

   Frau Ministerin, Sie haben mit Frau Süssmuth, Frau Lehr und Frau Merkel große Vorgängerinnen gehabt, die als Frauen in der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung saßen, sich durchsetzen konnten

(Lachen der Abg. Kerstin Griese (SPD))

und in den letzten Jahren dieser Regierung Pflöcke eingeschlagen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Link, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel von der FDP-Fraktion?

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU):

Herr Präsident, Sie haben mir ständig Minuten abgezogen, aber ich gestatte, Herr Kollege, wenn Sie es kurz machen.

Dirk Niebel (FDP):

Vielen Dank, Herr Kollege. Die Zwischenfrage wird nicht auf die Redezeit angerechnet. Ich will es aber trotzdem kurz machen.

   Ich möchte Ihre Ausführungen zum Zentrum für Alternsforschung in Heidelberg aufgreifen. Stimmen Sie mir darin zu, dass die Masse der Kompetenz in der deutschen Alternsforschung in diesem Heidelberger Zentrum angesiedelt ist und dass es politisch unverantwortlich ist, bei einer immer älter werdenden Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland die Mittel gerade in diesem wichtigen Forschungsbereich zu kürzen?

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU):

Herr Kollege, ich habe es der Frau Ministerin gerade sehr deutlich, glaube ich, gesagt. Das wird Thema bei uns im Ausschuss sein. Sie sind herzlich dazu eingeladen.

   Zwar erhalten Sie, Frau Ministerin, oftmals die öffentliche Unterstützung des Herrn Bundeskanzlers, aber aus unserer Sicht kann das auch eine Bedrohung sein. Seniorenpolitik spielt bei Rot-Grün und der amtierenden Bundesregierung nur noch eine untergeordnete Rolle. Wir in der Union wollen eine zeitgemäße, an den individuellen Bedürfnissen der älteren Generation ausgerichtete und zukunftsorientierte Seniorenpolitik. Wann immer Sie, Frau Schmidt, die machen und nicht nur ankündigen, haben Sie unsere Unterstützung. Vor allem wollen wir – ich wiederhole das – eine massive Qualifizierung älterer Arbeitnehmer.

   Ich widerspreche Ihnen auch nicht. Sie tragen oft sympathisch vor – wie heute Morgen; überhaupt keine Frage – und wenn man mit Ihnen irgendwo in der Diskussion ist, ist das auch unwahrscheinlich nett. Der gute Wille ist bei Ihnen da – überhaupt keine Frage –, aber Sie gehören einer Regierung an, die nicht in der Lage ist, das umzusetzen, was Sie tagtäglich verbreiten. So eine Politik haben die Seniorinnen und Senioren, die unser Land aufgebaut und zum Blühen gebracht haben, nicht verdient. Darum werden wir alles daransetzen, dass die Regierungsbank im Jahr 2006 anders besetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Für eine Kurzintervention erteile ich Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel das Wort.

Christel Riemann-Hanewinckel (SPD):

Herr Präsident! Lieber Kollege Walter Link, Sie wissen sehr genau, denke ich, dass die Förderung für das DZFA in Heidelberg nicht etwa deshalb verändert werden soll, weil wir die Forschung nicht schätzen oder weil wir wegen der Begründerin, Frau Lehr, etwas gegen dieses Institut haben; im Gegenteil. Sie kennen den Vorgang. Sie kennen den Briefwechsel. Sie wissen ganz genau, dass es nicht darum geht, bei diesem Institut die Inhalte zu kritisieren. Der Bundesrechnungshof hat sehr deutlich gemacht, dass unser Ministerium nicht mehrere solcher Institute parallel fördern kann.

(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Billige Ausrede!)

– Augenblick! Ich bin noch nicht fertig.

   Sie wissen mit Sicherheit auch, dass verschiedenste Kolleginnen und Kollegen daraufhin hier im Parlament nachgefragt haben und klare und deutliche Antworten bekommen haben. Sie wissen ferner, dass es Vereinbarungen mit dem Bundesland gibt, nach denen der Teil der Förderung, der vonseiten des Bundesministeriums schrittweise abgebaut wird, vom Land übernommen werden soll, weil sehr deutlich ist, dass der größte Teil der inhaltlichen Arbeit nicht auf Bundesinteresse hin ausgerichtet ist. Deshalb soll vor allem das jeweilige Bundesland – das gilt auch für andere Institute, nicht nur für das DZFA – in die Förderung einsteigen.

   Die Abschmelzung der Förderung geschieht auch nicht von jetzt auf gleich, sondern ist über Jahre hinweg geplant. Es gibt dazu entsprechende Vereinbarungen zwischen dem Bundesministerium und dem zuständigen Landesministerium. Deshalb finde ich es unfair, wenn Sie das hier so darstellen, als würden wir dieses Zentrum aus inhaltlichen Gründen nicht mehr finanzieren wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Link, Sie haben das Wort.

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU):

Frau Staatssekretärin, wir kennen uns viel zu lange zu gut. So wissen Sie, dass auch ich die Prozesse, die hierbei im Ministerium abgelaufen sind, sehr genau kenne. Ich möchte sie aber jetzt nicht hier im Parlament und damit in der Öffentlichkeit darlegen. Das machen wir im Ausschuss. Tatsache ist, dass das Land Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren – Jahrzehnten beinahe – wesentlich mehr finanziert hat als das Land Berlin. Sagen Sie bitte nicht, ich hätte etwas gegen Berlin; ich war ein Befürworter des Berlin-Umzugs. Jetzt wird hier in Berlin mehr Geld in diese Sache hineingesteckt, als man in Baden-Württemberg benötigen würde. Auf diese Weise wird dort ein weltweit anerkanntes Institut kaputtgemacht. Das ist überhaupt keine Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, dieser Haushalt steht unter Sparzwang; alles andere wäre traumhaft. Unsere Aufgabe wird es sein, die vorhandenen Mittel möglichst sozial, gerecht, effektiv und zukunftsweisend einzusetzen. Zwei Bereiche möchte ich hier besonders hervorheben: die Freiwilligendienste und die Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.

   Den Freiwilligendiensten wird der Bund auch im kommenden Jahr die Mittel anteilig zur Verfügung stellen, die sie zur Finanzierung ihrer Plätze benötigen. Wir von Rot-Grün werden darüber hinaus unser Ziel verfolgen, die Freiwilligendienste auszubauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland müssen verstetigt werden. Dass wir hier – auch in Anbetracht der aktuellen Lage – nicht nachlassen dürfen, hat mein SPD-Kollege Edathy vorgestern in einer, wie ich fand, sehr eindrucksvollen Rede zum Einzelplan 06 deutlich gemacht.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke (FDP))

Ich kann – das ist auch in seinem Sinn – die Union nur warnen: Lassen Sie diesmal Ihre gewohnten Anträge, die Mittel zu streichen, wirklich in der Schublade; denn da gehören sie hin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, mit dem TAG greift die Koalition auch Neuregelungen zum KJHG auf. Wir wollen ein starkes Kinder- und Jugendhilfegesetz, und zwar deswegen, weil es ein sattes Pfund und eine Investition in die Zukunft unserer Kinder ist. Als positive Änderungsbeispiele möchte ich hier die Anpassung der Kinder- und Jugendhilfestatistik ebenso wie die Stärkung der Steuerungskompetenz der örtlichen Jugendämter nennen. Über die im Kabinettsentwurf gewählte Definition des § 35 a, der Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen, werden wir uns im parlamentarischen Verfahren aber noch unterhalten müssen. Ich bin der Ansicht, dass wir an der jetzigen Formulierung des § 35 a festhalten müssen, der der Behindertenbegriff der WHO zugrunde liegt. Dafür gibt es gute Argumente:

   Wenn Kinder und Jugendliche einen Hilfebedarf haben und ihnen dann nicht schnellstmöglich geholfen wird, wäre das nicht nur ein schwerer Schlag für die Betroffenen, es wäre auch schädlich für den präventiven Charakter der Jugendhilfe. Denn das würde ja bedeuten, dass die Gefahr besteht, dass sich eine Behinderung erst manifestieren müsste, bevor professionelle Hilfe einsetzt. Das, denke ich, kann keiner von uns wollen.

   Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Sie leider immer nur auf die finanzielle Seite schielen

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– das ist einfach so; das konnte man heute Morgen auch beim Zuhören feststellen –, lassen Sie mich sagen: Es entstünde ein Mehrfaches an Kosten. Nach Expertenschätzung müssten wir für jeden Euro, den wir bei solchen Dingen einsparen, in demselben Ressort 2 bis 3 Euro ausgeben, um die Schäden, die wir angerichtet haben, wieder gutzumachen, und das nicht erst, wenn wir alle in Rente sind, meine Damen und Herren, sondern vermutlich im Laufe von höchstens zehn Jahren. Ich denke, wir sollten uns das wirklich gut überlegen. Das muss Ihnen klar werden und muss auch bei den Kämmerern vor Ort endlich einmal ankommen: Kinder- und Jugendhilfe erbringen keine Luxusleistungen, sondern das absolute Unverzichtbare.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es gibt natürlich Vorschläge, wie man die Qualität des KJHG beibehalten oder sogar noch steigern und trotzdem die Kommunen entlasten kann. Zukunftsweisend wäre es zum Beispiel, wenn wir die Bereiche Qualifizierung von Pflegestellen und das Verfahren bei der Kostenerstattung, das sich vereinfachen ließe, einmal unter die Lupe nehmen würden. Hier könnten wir einerseits eine echte Qualitätsverbesserung erreichen und andererseits die Kommunen finanziell entlasten.

Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist deutlich geworden: Jede Änderung des KJHG muss sorgfältig, zielführend und nach fachlichen Gesichtspunkten abgewogen werden. Mit wird allerdings ganz anders, wenn ich sehe, was die unionsgeführten Länder über den Bundesrat da schon wieder ausgebrütet haben. Das komplette TAG wird infrage gestellt; Sie fordern Eingliederungshilfen für junge Menschen nur noch vor dem 18. Lebensjahr, die Verlagerung der Aufsichtspflicht für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – wahrscheinlich damit künftig jeder die Fachaufsicht über sich selbst führt – und dergleichen Unsinn mehr.

   Da kann man Ihnen wirklich nur sagen: Das ist eine völlig unfachliche Reise als Elefant durch den KJHG-Porzellanladen. Damit tragen Sie ein wirklich dickes Ding auf dem Rücken unserer Kinder und Jugendlichen aus. Lernen Sie endlich, dass es uns allen in erster Linie darum gehen muss, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Hören Sie endlich damit auf, die Zukunft unserer Kinder immer nur in schönen Sonntagsreden spazieren zu führen; das nützt nichts. Beweisen Sie endlich einmal Ihre Alltagstauglichkeit!

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Antje Tillmann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin Schmidt, es ist schon geschickt, die Diskussion über das TAG zeitgleich mit den Haushaltsberatungen hier ins Haus einzuführen. Das täuscht darüber hinweg, dass die Finanzierung dieses Gesetzes in Ihrem Etat jedenfalls nicht zu finden ist. Der Hinweis, dass das verfassungsrechtlich nicht möglich sei, hat jedenfalls Ihrer Kollegin Bulmahn bisher nicht imponiert. Sie hat Ihnen mit dem Ganztagsschulprogramm vorgemacht, wie eine Idee des Bundes sehr wohl im Bundeshaushalt etatisiert werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist auch ausgesprochen geschickt, das Elterngeld ausgerechnet jetzt in der Presse zu lancieren, obwohl dieser Vorschlag Ihnen schon im Oktober letzten Jahres von Herrn Professor Rürup in einem Projekt vorstellt wurde. Zum damaligen Zeitpunkt waren Sie aber gerade damit beschäftigt, das Erziehungsgeld abzuschaffen

(Christel Humme (SPD): Bitte?)

bzw. die Grenzen zu senken. Deshalb haben Sie seinerzeit den Vorschlag zum Elterngeld von Professor Rürup in der gemeinsamen Presseerklärung einfach verschwiegen. Jetzt passt es Ihnen in den Kram, denn jetzt müssen Sie es nicht finanzieren; im Haushalt findet sich dazu jedenfalls kein einziger Euro.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   All das soll darüber hinwegtäuschen, dass Ihr Etat auf dem Papier um 4,4 Prozent gekürzt wurde;

(Ina Lenke (FDP): Richtig!)

das ist die größte Kürzung nach dem Bauetat. Rechnet man auch noch die Mittel für den Kinderzuschlag heraus, der, obwohl Sie das immer wieder behaupten, keine zusätzliche Leistung für die Familien ist – lesen Sie nur die Begründung zum Gesetz; ganz überwiegend ist es einfach ein Ausgleich für Sozialhilfe –, kommt man auf eine Kürzung des Familienetats von über 10 Prozent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zu Ihren großen Plänen der Familienförderung passt, die Sie im Moment in der Presse verkünden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Diese ganz massiven Einsparungen begründen Sie großzügig mit Koch/Steinbrück. Die Mittel für den Zivildienst sollen um 85 Millionen Euro gekürzt werden und Sie entblöden sich nicht, zu behaupten, das sei ein Ergebnis des Koch/Steinbrück-Papiers. Interessanterweise taucht der Zivildienst in diesem Papier überhaupt nicht auf. Aber das Koch/Steinbrück-Papier wird ja zur großen Entschuldigung für alle Einsparmaßnahmen dieser Regierung. Seien Sie gewiss: Wir werden Sie jeweils darauf hinweisen, wenn Sie da die Unwahrheit sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks (SPD): Und wann fangen Sie mit der Wahrheit an?)

   Nun ist es schon schlimm genug, dass Sie den Zivildienst zusammenstreichen. Aber noch schlimmer ist, dass Sie in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, der Zivildienst könne durch Freiwilligendienste ersetzt werden. In einer Vorversion des Berichtes der Kommission “Impulse für die Zivilgesellschaft“, in der Sie erklären lassen, dass die Freiwilligendienste die Lücken füllen, sagt Ihr Haus – ich zitiere –:

... selbst wenn eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für neue ... Freiwilligendienste bejaht werden könnte, ... läge doch die Finanzierungsverantwortung auf Seiten der Länder ...
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Hört! Hört!)

   In der Endfassung dieses Berichtes steht das nicht mehr. Selbst wenn ich unterstelle, dass es sich hierbei nicht um Absicht handelt, denke ich doch, dass es Ihnen sehr gelegen kommt, wenn alle Träger der Freiwilligendienste darauf warten, dass der Bund die Freiwilligendienste mit finanziert. So richtig ehrlich ist das nicht. Sie machen Geschäfte zulasten Dritter, wie schon beim TAG und bei den Jugendprogrammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Pfui!)

   Ich kann nur alle Beteiligten davor warnen, zu glauben, dass der Bund ein flächendeckendes Netz an Freiwilligendiensten finanzieren könnte. Gerade in diesem Haushalt 2005 werden nämlich die Mittel für Freiwilligendienste und Ehrenämter wieder um fast 1 Million Euro gekürzt.

   Nächstes Beispiel: Kinder- und Jugendplan. Hier betragen die Kürzungen 5,6 Millionen Euro. Ich sage ganz offen: Das ist ausnahmsweise einmal tatsächlich auf Koch/Steinbrück zurückzuführen. Diese Einsparung tragen wir dem Grunde nach mit. Interessant ist dennoch, welche Schwerpunkte Sie setzen und wie die Verteilung der Mittel aussieht.

   Sie haben jedes Jahr neue Ideen, lächeln auf Glanzbroschüren für neue Programme – ich gebe zu, Sie machen das sehr charmant – und lassen sich für schicke Projekte feiern, so zum Beispiel bei der Beteiligungsbewegung oder beim Projekt „Wir hier und jetzt“, das früher „Jugend bleibt“ hieß. Wie gesagt, Sie legen Programme auf und lassen sich feiern. Aber sobald das Projekt zu Ende bejubelt ist und die knochenharte Routinearbeit anfängt, verweisen Sie auf die eigentlich zuständigen Kommunen.

(Waltraud Lehn (SPD): Liebe Kollegin, das ist Aufgabe der Länder, das ist doch nicht Aufgabe des Bundes! Stoiber will dem Bund doch noch einmal 5 Prozent wegnehmen! Sie müssen sich schon entscheiden! – Caren Marks (SPD): Haben Sie schon einmal etwas davon gehört, Projekte zu initiieren?)

Das, verehrte Frau Ministerin, ist nicht sehr fair.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sollten ehrlicherweise die Gelder nehmen, wie ich es hier im letzten Jahr schon vorgeschlagen habe, und die Arbeit von den Kommunen und Ländern sofort machen lassen. Dann kann man auf die Glanzbroschüren verzichten.

   Ich nenne als weiteres Beispiel das freiwillige kulturelle Jahr. Die Festveranstaltung findet erst im Oktober statt, aber Sie lassen jetzt schon mitteilen, dass nach dieser Festveranstaltung die Mittel für diese Projekte zusammengestrichen werden. Ich bin gespannt, ob die Staatssekretärin diese Tatsache im Oktober den jungen Menschen und den Trägern mitteilt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Genau!)

   Frau Ministerin, im Rahmen von Projektbeteiligungsbewegungen werden sehr bizarre Projekte finanziert, unter anderem der 100. Geburtstag der Sozialistischen Jugend. Darüber kann man sich ärgern. Aber ich sehe eine sehr viel größere Gefahr an dieser Stelle. Sie gewöhnen einer ganzen Generation von Jugendlichen an, dass es nicht mehr ein Sinn an sich ist, Kröten zu schützen, alte Leute zu besuchen oder sich in der Schule zu engagieren. So richtig schlau ist Engagement nur, wenn man das passende Förderprogramm dazu findet. In Deutschland wird „Fußball gegen Rechts“ gespielt und gebastelt unter dem Motto „Demokratie heute“.

(Kerstin Griese (SPD): Das sind gute Projekte! Nicht so überheblich!)

Graffitischmierereien werden aus dem Förderprogramm des Bundes finanziert.

   Sie finanzieren Schülervollversammlungen, die an Tausenden von Schulen ohne weiteres Aufsehen stattfinden. Aber wird diese Versammlung „Schülermitbestimmung als Open-Space“ genannt, bekommt man dafür Fördermittel. Meine Generation muss ja bescheuert gewesen sein, all diese ehrenamtlichen Arbeiten gemacht zu haben, ohne erst nach einem Förderprogramm Ausschau zu halten.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Genau!)

   Frau Ministerin, ich halte es für gefährlich, wenn wir jungen Menschen anerziehen, dass man sich erst nach Geld umschauen muss, bevor man sich engagiert. Wir werden jedes einzelne Programm in den Haushaltsberatungen darauf überprüfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: Das ist unglaublich!)

Ich hoffe sehr, dass Sie bei dieser Überprüfung anwesend sind.

   Ich hätte gerne weniger geschrieen. Aber dazu waren Sie einfach zu laut.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Bravo! Eine sehr gute Rede!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/3676, 15/3488 und 15/3512 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit.

   Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 4 auf:

8. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch

– Drucksache 15/3674 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Möglichkeiten der privaten Arbeitsvermittlung durch marktgerechte Ausgestaltung der Vermittlungsgutscheine verstärkt nutzen

– Drucksache 15/3513 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss

   Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement.

(Beifall bei der SPD)

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, einige kurze Bemerkungen zu dem angekündigten Wechsel von Herrn Staatssekretär Tacke aus dem von mir zu verantwortenden Ministerium in die Wirtschaft zu machen, bevor ich über den Haushalt spreche. Ich möchte dies tun, weil sein Name gestern in der Debatte gefallen ist und auch in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielt.

   Erste Bemerkung. Ich sage in aller Klarheit, dass Herr Tacke zu den Besten innerhalb der Bundesregierung gehört, wenn es um nationale und internationale Wirtschaftspolitik geht. Zusammen mit vielen in dem von mir zu verantwortenden Ministerium bedauere ich sehr, dass er sich zu diesem Wechsel entschlossen hat.

   Zweite Bemerkung. Ich kann gegen einen solchen Wechsel wenig sagen, weil ich es für richtig halte, dass zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ein Austausch stattfindet.

Ich selbst habe das in meinem Leben schon zweimal praktiziert; es ist nicht immer ganz leicht. Ich glaube, dass solche Wechsel richtig sind und dass sie gelegentlich – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – durchaus mehr Praxis verdienten.

   Dritte Bemerkung. Es ist hier ein Zusammenhang mit der Ministererlaubnis im Fall Eon hergestellt worden. Diese Entscheidung liegt zwei Jahre zurück. In Diskussionen im Ausschuss, die ich jetzt nicht darstellen kann, weil sie nicht öffentlich waren, ist, denke ich, deutlich geworden: Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen der Ministererlaubnis zum Fall Eon und dem beabsichtigten Wechsel – er ist ja noch nicht vollzogen – von Herrn Tacke zum Unternehmen Steag. Ich könnte Ihnen das im Einzelnen erläutern. Ich bitte Sie aber darum, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hierfür keinen Anhaltspunkt gibt.

   Im Übrigen hat Herr Tacke, wenn die Entscheidung gefallen ist, die Absicht, um Entlassung aus dem öffentlichen Dienst zu bitten. Das heißt, er scheidet ohne Versorgungsbezüge und ohne rechtliche Beschränkungen aus. Er bleibt aber der Amtspflicht der Verschwiegenheit verpflichtet.

   Mit diesem Wechsel ist nichts Negatives zu verbinden. Er ist ein hochangesehener, integrer Staatssekretär.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen und den beabsichtigten Wechsel nicht zu zerreden.

   Ich möchte nichts zu den Diskussionen um einen Ehrenkodex oder gesetzliche Regelungen, von denen ich hier und da gelesen habe, sagen. Selbst Karenzzeiten von mehr als zwei Jahren sind auch sonst kaum vorgesehen. Unabhängig davon ist meine herzliche Bitte: Wenn Sie über solche Fragestellungen diskutieren, was natürlich jederzeit möglich ist – ich selbst habe solche Diskussionen hinter mir –, sollten Sie dies nicht mit dem Namen Tacke verbinden. Denn mit diesem Namen lässt sich kein Vorwurf und noch nicht einmal ein Verdachtsmoment der Befangenheit verbinden.

   Meine Damen und Herren, zum Haushalt. Diese Debatte findet in einer veränderten Lage statt, in einer Lage, die unseren Kurs bestätigt, die es aber auch erfordert, unseren Kurs mit aller Konsequenz fortzusetzen. Die seit dem Jahr 2001 anhaltende Phase der wirtschaftlichen Stagnation in Deutschland ist definitiv beendet. Die deutsche Wirtschaft hat sich in der zweiten Jahreshälfte 2003 kräftig erholt und im Verlauf dieses Jahres weiter an Fahrt gewonnen. Das Bruttoinlandsprodukt ist im Vergleich zum ersten Vierteljahr dieses Jahres im zweiten Vierteljahr real um 0,5 Prozent und damit um 2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.

   Aktuell sind die Daten noch besser: Die deutsche Industrieproduktion läuft auf Hochtouren und befindet sich in der Spitze Europas. Das produzierende Gewerbe hat im Juni/Juli im Vergleich zum Vorjahr um 2,6 Prozent zugelegt. Im Vergleich zum Vorjahr stehen 7,7 Prozent mehr Aufträge in den Büchern der Unternehmen. Und nicht nur nebenbei bemerkt: In den Büchern der Unternehmen in den neuen Ländern steht ein Plus von 15,3 Prozent.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen für eine Fortsetzung des Aufschwungs in diesem Jahr und darüber hinaus. Nach allem, was wir und die Experten abschätzen können, wird der Welthandel weiter wachsen, wenn auch vermutlich nicht mehr mit dem Schwung der vergangenen Monate, weil der Ölpreisanstieg die Produktion verteuert, Kaufkraft bei uns und unseren Handelspartnern abzieht und die Binnennachfrage sowie die Exportdynamik überlastet.

   Die Lohnstückkosten werden auch in diesem Jahr voraussichtlich rückläufig sein und damit einen großen Beitrag zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte leisten. Die kurz- und die langfristigen Nominalzinsen sind weiterhin niedrig und die Kerninflation ist nach wie vor gering.

   Das heißt, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sind so gut wie seit Jahren nicht mehr. Die Geschäftslage wird von den für die Erstellung des Ifo-Geschäftsklimaindex befragten Unternehmen im August zuversichtlicher gesehen. Die Erwartungen haben sich trotz des Rekordhochs des Ölpreises – dieses Rekordhoch scheint inzwischen überwunden – nur geringfügig eingetrübt. Die Exporterwartungen der deutschen Unternehmen sind sehr gut. Ihre Investitionsneigung nimmt zu. Die Nachfrage bei den Zeitarbeitsfirmen – sie sind ein Frühindikator der wirtschaftlichen Belebung und der Belebung auf dem Arbeitsmarkt – steigt.

   Das alles spricht dafür, dass die Lage besser ist und besser wird und dass wir gute Chancen haben, den Aufschwung zu einer Phase längeren, nachhaltigen Wachstums zu verstetigen, um 2005 endlich auch den Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen; denn darum geht es.

   Hinter diesem, wie ich es empfinde, sehr erfreulichen Panorama einer kräftigen Erholung verbirgt sich allerdings eine gespaltene Konjunktur. Das Wachstum speist sich bei uns zurzeit fast ausschließlich aus der Auslandsnachfrage. Die Warenexporte liegen mittlerweile um stolze 16,1 Prozent über dem Vorjahresniveau. Die Stützen sind insbesondere die Exporte nach China mit einem Plus von 27,9 Prozent und nach Russland mit einem Plus von 18,9 Prozent. Demgegenüber sind der private Konsum und die Investitionen weiterhin die Achillesferse der Konjunktur. Wir haben eine schwache Binnennachfrage. Die Ursachen dafür liegen in den weiterhin rückläufigen Bauinvestitionen, darin, dass die Ausrüstungsinvestitionen noch nicht angesprungen sind, sowie in einer außerordentlichen Kaufzurückhaltung, einer Stagnation der privaten Konsumausgaben. Das Fazit dieser Situation: Wir haben eine hochgradig wettbewerbsfähige Exportwirtschaft mit höchstem Produktivitätsniveau, müssen andererseits aber eine immer noch zu geringe Dynamik auf den Heimatmärkten, also in den nicht exportorientierten Sektoren, registrieren, auf die etwa 60 Prozent der Arbeitsplätze im Handel, im Bau, in den lokalen Diensten, im Hotel- und Gaststättenbereich, im öffentlichen Dienst, im klassischen Handwerk und in anderen Bereichen entfallen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Die konjunkturelle Belebung hat deshalb den Arbeitsmarkt bisher auch nur an den Rändern erreicht. Dies macht sich bei den Minijobs, bei den Ich-AGs und bei der Zeitarbeit bemerkbar. Es zeigt sich, dass es richtig war, dass wir auf diesen Gebieten Veränderungen herbeigeführt haben; hier ist die Belebung spürbar. Im Kernsegment der Erwerbstätigkeit, der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, ist es bisher nur gelungen, den Beschäftigungsabbau zu bremsen und aktuell fast zu stoppen. Wir stehen also ganz offensichtlich kurz vor einer Trendumkehr zum Beschäftigungsaufbau; erreicht haben wir ihn aber noch nicht.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das haben Sie vor einem Jahr auch schon gesagt, Herr Minister!)

– Ich sage Ihnen bei dieser Gelegenheit gleich, dass die Zahl der Unternehmen im Handwerk aufgrund unserer Handwerksreform um 16 000 gestiegen ist. Dies zeigt die Richtigkeit unserer Reformen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt Wirkung erzielen wollen, dann muss der Exportfunke endlich auch auf die Binnennachfrage überspringen. Dann werden wir es auch schaffen, die Menschen in Deutschland, die arbeiten können und wollen, in Arbeit zu bringen. Was ist dazu erforderlich?

   Als Erstes brauchen wir mehr Investitionen, meine Damen und Herren. Dass auch hier das Feuer schon glimmt, zeigt der jüngste Ifo-Investitionstest, der endlich einen Anstieg der Investitionen in der Industrie und dem verarbeitenden Gewerbe von 6 Prozent signalisiert. Jetzt geht es vor allen Dingen darum – ich unterstreiche, was der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering, gesagt hat –, dass auch die Kommunen auf Grundlage der erheblichen Verbesserungen der Gemeindefinanzen – sie werden sich im nächsten Jahr um rund 7 Milliarden Euro verbessern – von den sich daraus ergebenden Möglichkeiten Gebrauch machen und so viel wie möglich investieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit kann und wird es gelingen, meine Damen und Herren, den Investitionsattentismus zu brechen, der unser Land sonst ökonomisch lähmen könnte.

   Als Zweites müssen wir die Bremsen lockern. Ich nenne dafür zwei Beispiele: In den USA wie in Großbritannien spielt ein boomender Häuser- und Immobilienmarkt gesamtwirtschaftlich eine wesentliche Rolle. Er ist eine Triebfeder des Wachstums. Daran muss man die Frage anschließen, warum es bei uns nicht so ist: Warum ist Bauen bei uns so teuer? Warum schaffen wir es noch nicht, eine konsequente Liberalisierung der Märkte für Güter und Dienste durchzusetzen? Dies müssen wir etwa durch Bürokratieabbau auf allen Ebenen – beim Bund, bei den Ländern sowie bei den Städten und Gemeinden –, durch eine Vereinfachung des Baurechts und durch eine Reform des Vergaberechts erreichen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

aus meiner Sicht auch durch eine Reform der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure. Die Bremsen müssen auf allen Ebenen weg: nicht nur im Handwerksrecht, sondern in vielen Bereichen, in denen wir gesetzliche Bremsen eingebaut haben.

   Ich füge hinzu – ich sage dies ganz persönlich –, dass die Bremsen auch weg müssen, wo es um Forschung, Entwicklung und die Anwendung der Forschungsergebnisse in Deutschland geht. Dies gilt beispielsweise für die Bio- und Gentechnologie, für die Grüne wie die Rote Biotechnologie, aber etwa auch dafür, dass wir die Stammzellenforschung in Deutschland unbegrenzt zulassen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der FDP)

und dass wir auch unter humanen Aspekten über diese Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse in Deutschland noch einmal diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der FDP)

Denn wir werden Forschung auf all diesen Sektoren nur dann erhalten, wenn wir ihre Ergebnisse auch bei uns anwenden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich sage für mich persönlich: Das gilt unter humanen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten auch für die Stammzellenforschung.

   Es geht um ein Drittes, es geht darum, dass wir die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland weiter verringern. Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass zum 1. Januar 2005 die nächste Stufe der Steuerreform folgt. Sie ist und bleibt sicher und es wird dadurch zu einer Entlastung der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger von 6,8 Milliarden Euro kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deshalb ist es wichtig, den Prozess der Senkung der Lohnnebenkosten voranzutreiben. Deutschland in Arbeit zu bringen ist mein Bild. Deutschland in Arbeit zu bringen, muss ein gemeinsames verbindliches Ziel werden. Das beinhaltet, Verantwortung wahrzunehmen, verantwortlich zu handeln und Gruppeninteressen zurückzustellen und zu überwinden.

   Die Politik hat gehandelt, jetzt heißt es, dazu im Interesse des Landes zu stehen. Damit ich nicht nur abstrakt bleibe, sage ich: Die Krankenkassen müssen jetzt die Chancen, die durch die Gesundheitsreform eröffnet worden sind, nutzen, um die Beiträge, so weit es geht, zu senken. Wir brauchen das auch im Interesse der Wirtschaft. Hier geht es um Gesamtverantwortung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heinz Seiffert (CDU/CSU))

   In ebensolcher Klarheit sage ich an die Adresse der Energieversorgungsunternehmen: Wir können in Deutschland nicht nur über Lohnnebenkosten und die sozialen Lasten reden, wir müssen auch über alle sonstigen Kosten reden. Dazu gehören in ganz besonderer Weise die Energiekosten als Schlüsselelement.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage auch von hier aus, dass die Ankündigungen von Preis- und Tariferhöhungen, die vonseiten der Energieversorgungsunternehmen vorgenommen worden sind, auf den ersten Blick alles andere als überzeugend sind. Sie sind nicht angemessen. Ich appelliere von hier aus an die Unternehmen, ihrer Verantwortung für die gesamtwirtschaftliche, für die gesamtindustrielle Entwicklung in Deutschland gerecht zu werden, also die angekündigten Tariferhöhungen so nicht vorzunehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ökosteuer!)

– Darüber reden wir, Herr Kollege Austermann, in aller Offenheit und Klarheit.

   Die politischen Lasten und Aufgaben, die wir mit den Energiepreisen verbinden, machen 40 Prozent der Energiepreise aus,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): 70 Prozent!)

aber 60 Prozent sind im Markt gestaltete Preise. Hier stellen sich die Fragen: Sind die angekündigten Preis- und Tariferhöhungen in diesem Segment angemessen oder nicht? Sind sie missbräuchlich? Wenn sie missbräuchlich sind, werden sie entweder so oder mithilfe des Kartellamtes und später der Regulierungsbehörde zurückzunehmen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen: Ich höre aus vielen Ländern die Kritik, dass wir keine Ex-ante-Regulierung in dem Entwurf vorgesehen haben. Wir werden darüber im Einzelnen noch zu diskutieren haben. Als jemand, der bereits Wirtschaftsminister in einem Bundesland war und als solcher auch für die Tarifgenehmigungsbehörde für den privaten Stromverbrauch verantwortlich war, weiß ich, dass es dort eine Ex-ante-Genehmigung gibt. Die Ex-ante-Prüfung durch alle Wirtschaftsministerien der Länder – von dort höre ich viele Erwartungen – hat die Strompreisentwicklung in Deutschland für die Bürgerinnen und Bürger jedenfalls an keiner Stelle aufgehalten. Ich warne vor der Vorstellung, dies sei das Heilmittel für alles. Ich plädiere klar für eine sehr harte, durch nationale und internationale Preis- und Tarifvergleiche gestützte Missbrauchsaufsicht durch eine Regulierungsbehörde, die sich bei der Post und Telekommunikation bewährt hat. Das ist die Regulierungsbehörde in Bonn, sie sollte die Regulierungsaufgaben in den Bereichen Strom und Gas ebenfalls übernehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wir brauchen eine klare Missbrauchsregelung. Wir haben es in diesem Sektor mit 1 700 Anbietern zu tun und die Vorstellung, die Preise ex ante, also im Vorhinein, prüfen und regulieren zu wollen, halte ich für ziemlich anspruchsvoll, um es vorsichtig auszudrücken. Wir werden zu jeder Zeit darüber diskutieren, aber nehmen Sie die Erfahrungen zur Kenntnis, die mit dieser Prüfung bisher erzielt worden sind.

   Wichtiger ist mir aber, die Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen, damit sie jetzt die angekündigten Preiserhöhungen zurückziehen. Nur so können wir in eine vernünftige und ruhige Diskussion eintreten, und zwar auch über die Frage der künftigen Preis- und Tarifregulierung.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

In meinem Ressort spielen die Arbeitsmarktreformen eine herausragende Rolle. Wir stehen jetzt vor der Realisierung der wichtigsten Stufe der Arbeitsmarktreformen. Sie kennen das: Es geht um Fördern und Fordern. Es geht um Vermitteln in Arbeit statt Administrieren von Arbeit. Es geht um eine soziale Grundsicherung statt zweier, unabhängig voneinander nebeneinanderher, teilweise gegeneinander laufender staatlicher bzw. kommunaler Fürsorgesysteme.

   Dabei ist klar: Das Gesetz wird keine Arbeitsplätze schaffen, aber das Gesetz wird wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Bewegung in den Arbeitsmarkt bringen. Die Vorläufer dieser Bewegung kann jeder und jede bereits jetzt beispielsweise anhand der Erkenntnisse der Zeitarbeitsfirmen feststellen.

   Das Gesetz ist auch notwendig. Ich respektiere die Demonstrationen, die Proteste, die Kritik, soweit sie sich im Rahmen des demokratisch Zulässigen bewegen. Ich sage aber an alle gerichtet, die dort demonstrieren und kritisieren: Nicht die Reform ist der Skandal. Der Skandal ist die in Deutschland seit Jahr und Tag ständig ansteigende Langzeitarbeitslosigkeit. Sie ist inzwischen fast die höchste in Europa. Sie ist die längst dauernde und sie steigt und steigt. Das ist der eigentliche Skandal, und das zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir den Weg, den wir bisher gegangen sind, nicht fortsetzen dürfen, sondern hier zu einer grundlegenden Korrektur kommen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP) – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Dass Sie sechs Jahre nichts gemacht haben, ist der Grund!)

   Die Koalitionsfraktionen werden jetzt gesetzliche Klärungen herbeiführen. Sie beziehen sich – wie Sie alle wissen; ich brauche das hier nicht weiter zu erläutern – auf die Auszahlungstermine. Diesbezüglich ist – entgegen dem Vorschlag, den ich gemacht habe – Klärung hergestellt worden. Sie beziehen sich außerdem auf den Kinderfreibetrag, der völlig außerhalb der Diskussion steht. Es wird keinerlei bürokratischen Umgang mit Kindersparbüchern, Kinderausbildungsversicherungen und ähnlichem geben. Es wird eine Klärung hinsichtlich der Vermittlungsgutscheine sowie über die AB-Maßnahmen geben, um dort zu entbürokratisieren. Bei der Ich-AG, die ich nach wie vor für richtig halte – die bisherigen Erkenntnisse, auch wenn sie noch nicht umfassend sind, sprechen dafür, das fortzusetzen, weil es ein vernünftiges Instrument ist –, werden wir im Rahmen der Gewährung des Arbeitslosengeldes I – denn darum geht es – eine Tragfähigkeitsprüfung vorsehen.

   Zu vielen Einzelfragen brauche ich jetzt keine Stellung zu nehmen, denn über vieles ist diskutiert worden. Ich glaube, inzwischen ist viel Klarheit hergestellt worden. Die viele – meist berechtigte – Kritik, die an meine Adresse gerichtet worden ist, und die damit verbundene heftige Auseinandersetzung haben den Vorteil, dass rechtzeitig, bevor die Reform in Kraft tritt, alles diskutiert worden sein müsste, was zu diskutieren ist.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Hoffentlich!)

   Ich habe gestern noch einmal beim Zentralverband des Deutschen Handwerks die Gelegenheit gehabt, deutlich zu machen, dass beispielsweise die öffentlichen Arbeitsgelegenheiten weder rechtlich so angelegt noch sonst dazu angetan sind, Beschäftigungen oder gerade kleine und mittlere Unternehmen sowie Handwerksunternehmen in den Kommunen zu beseitigen oder zu gefährden. Das ist auch von Gesetzes wegen anders vorgesehen.

   Wir brauchen solche öffentlichen Arbeitsgelegenheiten, weil ab dem 1. Januar 2005 – das wird vielfach gar nicht gesehen – fast 1 Million Menschen, die bisher Sozialhilfe bezogen haben, als erwerbsfähig gelten, weil sie mehr als drei Stunden pro Tag arbeiten können. Diese werden in die Arbeitsvermittlung aufgenommen. Jeder und jede von uns weiß, dass eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt nicht auf Anhieb gelingen kann, sondern dass wir Einstiegsmöglichkeiten benötigen. Diese sind sehr unterschiedlich. Das reicht beispielsweise von Trainingsprogrammen wie Sprachenprogrammen oder auch Lohnkostenzuschüssen, die mindestens gleichwertig sind, weil sie vielleicht schneller zu einer Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt führen können, bis hin zu öffentlichen Arbeitsgelegenheiten.

   Die örtlichen Arbeitsagenturen entscheiden. Nicht wir wollen von hier aus entscheiden, wie jemand vermittelt wird und welche Hilfe er bekommt. Das muss vor Ort entschieden werden. Das ist auch von allen Seiten gesagt worden. Das Ziel derer, die vor Ort entscheiden, wird die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt sein. Niemand dort hat den Auftrag, Lohndumping zu betreiben, Menschen in möglichst schlecht bezahlte Jobs zu vermitteln, und niemand dort wird sich so verhalten. Ziel ist der erste Arbeitsmarkt. Wir brauchen aber Instrumente, um möglichst viele Menschen dorthin zu führen. Dazu gehören die öffentlichen Arbeitsgelegenheiten.

   Gestern habe ich beim Zentralverband des Deutschen Handwerks gesagt: Natürlich wird man sich vor Ort – möglicherweise in Form eines Beirates oder einer ähnlichen Konstruktion – etwa mit einem Vertreter der Industrie- und Handelskammer, einem Vertreter der Handwerkskammer, einem Vertreter der Gewerkschaften und einem Vertreter der Kommune zusammensetzen, um über die Einrichtung öffentlicher Arbeitsgelegenheiten vor Ort zu sprechen und zu verhindern, dass das zulasten des Handwerks oder der kleinen und mittleren Unternehmen geht.

(Beifall bei der SPD)

   Frau Kollegin Merkel, Sie haben sich gestern die Chance nicht entgehen lassen, unter anderem über die Fragebögen zu sprechen. Es ist ja auch zu schön, über Fragebögen zu sprechen. Dieses Thema hat die Literatur schon häufig beschäftigt und das wird sicherlich auch mit diesen Fragebögen geschehen. Dazu will ich zwei Dinge bemerken: Wie viele antworten, ist regional sehr unterschiedlich. Neulich war ich in Ludwigshafen. Dort sind bereits 40 Prozent der Fragebögen eingegangen. Das schlechteste Ergebnis hat Leipzig. Dort waren es zuletzt 4 Prozent.

   Die Qualität der beantworteten Fragebögen, die eingehen, ist hervorragend. Die Bearbeitungszeit dieser Fragebögen beträgt in der Agentur, die dafür eingerichtet wurde, ein Drittel der geschätzten Arbeitszeit. Es zeigt sich also, dass gar nicht alles so weit daneben liegt.

   Weil ich verschiedene Boykottaufrufe gehört habe und zur Kenntnis nehmen musste, dass Menschen aufgefordert werden, diese Fragebögen nicht auszufüllen, muss ich in aller Deutlichkeit sagen: Bitte lassen Sie sich von einem solchen Unsinn und von solchen Abwegigkeiten nicht beeinflussen. Das richte ich an die Adresse derer, die diese Fragebögen ausfüllen müssen.

   Einen Anspruch auf öffentliche Unterstützung kann man natürlich nur dann bekommen, wenn man diese Fragen beantwortet, die Fragebögen ausfüllt und einen entsprechenden Antrag stellt. Das sage ich in aller Ernsthaftigkeit und in alle Richtungen in der Bundesrepublik, damit hier kein Irrtum entsteht. Meine Bitte ist, dass dies, wenn irgend möglich, unterstützt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Frau Merkel, Sie haben gestern das Thema Subventionen im Niedriglohnsektor angesprochen. Ich verstehe Sie immer so – so habe ich auch die Diskussion mit der Union verstanden –, dass Ihr Vorschlag auf eine flächendeckende Subvention niedrig entlohnter Jobs hinausläuft. Um das klar zu sagen: Das halte ich für falsch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Richtig ist: Es werden in Ostdeutschland wie in Westdeutschland Subventionen getätigt, wenn sie sinnvoll sind: entweder in Form von Lohnkostenzuschüssen oder als Leistungszulagen, die der einzelne Fallmanager vergeben kann und über die er selbst entscheidet. In diesen Fällen werden diese Zuschüsse gezahlt, damit die Menschen nach Möglichkeit in den ersten Arbeitsmarkt gelangen. Flächendeckend so zu verfahren, würde aber eine „Subventionitis“ sein. Es würde zu Lohndumping in den Unternehmen führen und den Rest hätte der Staat zu zahlen. Das kann nicht richtig sein. Dieser Kurs, der beide Nachteile gleichzeitig mit sich bringen würde – Subventionen in einer unglaublichen Größenordnung und niedrigstmögliche Löhne –, kann nicht vernünftig sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zum Thema Ostdeutschland möchte ich darauf hinweisen, dass genau 41,8 Prozent der Eingliederungsmittel von nahezu 10 Milliarden Euro dorthin fließen werden; nicht weil es sich um Ostdeutschland handelt, sondern weil die Belastungen auf dem Arbeitsmarkt dort am größten sind. Frau Merkel, eines möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen: Sie haben hier eine andere Sichtweise. Ich möchte in aller Klarheit sagen: Meine Wahrnehmung Ostdeutschlands als jemand, der dort zurzeit viel lernt, ist eine sehr differenzierte.

   Ich kann nur hoffen, dass wir es nach und nach schaffen, nicht mehr in unserem Bild von West- und Ostdeutschland zu verharren. Wir müssen uns von diesem Bild lösen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedliche Entwicklungen und einen sehr unterschiedlichen Status gibt.

   Eine Stadt wie Jena hat einen Arbeitsmarkt wie die Universitätsstadt Göttingen. Im Umfeld Berlins ist die Arbeitsmarktsituation besser als beispielsweise in meiner Heimat, dem südlichen – nicht dem nördlichen – Ruhrgebiet. Ich könnte – Sie kennen das – genauso gut durch Ostdeutschland gehen und Ihnen zeigen, wo dort ganz unterschiedliche Entwicklungen stattfinden. Man sollte das alles nicht auf Dauer zusammenbündeln, als seien wir wirklich zwei getrennte Etwas.

(Abg. Ernst Hinsken (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Wenn man zueinander kommen will, dann gehört dazu ein differenziertes Bild, zu dem wir kommen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Neulich habe ich es gewagt, zu sagen, dass ich gerne eine an die Adresse junger Leute gerichtete Kampagne durchführen würde, um sie aufzufordern, entweder nach Ostdeutschland zurückzukehren oder überhaupt nach Ostdeutschland zu kommen; denn vielfach sind die Bildungs-, Ausbildungs- und Hochschuleinrichtungen dort mindestens genauso gut wie im Westen. Aber dort kann man – im Gegensatz zu den überfüllten Hochschulen in Westdeutschland – wenigstens noch einen Professor oder eine Professorin sehen und sie sprechen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Bundesminister, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Gerne, ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Herr Minister, Sie haben soeben die Lohnkostenzuschüsse angesprochen und gesagt, sie seien ein untaugliches Mittel.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Bitte?

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Sie haben gesagt, sie seien ein untaugliches Mittel, um der Arbeitslosigkeit vor allen Dingen in strukturschwachen Bereichen zu begegnen.

(Waltraud Lehn (SPD): Hörtest!)

   Daher möchte ich folgende Frage an Sie richten: Ist Ihnen bewusst, dass gegenwärtig, gerade im grenznahen Bereich, Tausende von Arbeitsplätzen in die neuen mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten der EU abwandern? Wie sieht Ihre Alternative dazu aus? Wie wollen Sie dem begegnen? Denn zum Beispiel zwischen Tschechien und Deutschland besteht ein Lohnunterschied im Verhältnis von eins zu sechs; zwischen Polen und Deutschland ist er noch etwas höher. Dem kann doch nur mit neuen Rezepturen begegnet werden. Aber in dieser Angelegenheit habe ich noch nichts von Ihnen gehört. Bisher warte ich vergebens.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Kollege Hinsken, zum Ersten: Ich habe nicht Lohnkostenzuschüsse als untaugliches Mittel bezeichnet, sondern als taugliches Mittel; sie sind ausdrücklich vorgesehen bei den Eingliederungsmitteln, eines der wichtigsten Elemente.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nur bin ich dagegen, sie flächendeckend einzusetzen.

   Zum Zweiten: Ich verstehe die Fragestellung, die Sie haben; es ist eine sehr wichtige. Allerdings ist das Instrument der Lohnkostenzuschüsse aus meiner Sicht nicht geeignet. Was wir mit den Beitrittsstaaten natürlich diskutieren müssen – aber tunlichst in einem ruhigeren Prozess –, ist, wie dort in Zukunft das Instrumentarium zum Fördern, durch Strukturfördermittel und beispielsweise Steuerentlastungen, gehandhabt wird. Zwischen den alten und den neuen Ländern in Deutschland haben wir das ja auch nach einer Übergangsphase hinbekommen, nämlich so, dass Übersiedlungen und Standortverlagerungen von Westdeutschland nach Ostdeutschland nur im Einvernehmen zwischen den Ländern stattfinden. Man wird das zwischen uns und den Beitrittsländern jetzt so noch nicht erreichen, aber wir brauchen solche ruhigen Gespräche, um mit diesem Thema umzugehen.

   Dass die Menschen und die Unternehmen in den unmittelbaren Grenzregionen in Bayern, insbesondere in Ostbayern, im Verhältnis zur Tschechischen Republik zurzeit erhebliche Standortprobleme haben, ist richtig. Es gibt dazu kein generelles Instrument; ich habe darüber schon viele Diskussionen geführt. Wir brauchen Diskussionen vor Ort und müssen unter Hinzuziehung der Kreditwirtschaft, der KfW und all derer, die dazu beitragen können, dazu kommen, dass wir den Unternehmen in diesem Übergang helfen, soweit es geht mit Strukturfördermitteln und soweit es geht mit ebensolchen Instrumenten, wie ich sie angesprochen habe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Entwurf des Einzelplans 09 für das nächste Haushaltsjahr, über den ich spreche, sieht Ausgaben in Höhe von 34,3 Milliarden Euro vor. Man muss sehen, dass 85 Prozent der Ausgaben in unserem Einzelplan Ausgaben für den Arbeitsmarkt sind. Ich meine, dass wir da mittelfristig eine Veränderung erreichen müssen und dass wir diese Investitionen in den Arbeitsmarkt vor allen Dingen durch Effizienzgewinne sehr rasch zu lohnenden Investitionen machen müssen. Dann wird sich auch die Struktur des von mir vertretenen Haushaltes wieder verändern. Der Schwerpunkt wird – das ist das Ziel – dann nicht mehr bei den Ausgaben infolge der Arbeitslosigkeit liegen, sondern bei der zukunftsorientierten Stärkung der Wachstums- und Innovationskräfte.

   Unter dem Strich trägt das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit trotz der notwendigen Investitionen in den Reformprozess an anderen Stellen erheblich zur Konsolidierung des Bundeshaushalts bei, beispielsweise mit den Erlösen im Zusammenhang mit der vorgesehenen, noch im Einzelnen zu diskutierenden Übertragung des ERP-Sondervermögens auf die KfW, beispielsweise durch den Subventionsabbau im Rahmen der Vorschläge von Koch/Steinbrück, beispielsweise durch die Reduktion der finanziellen Förderung der Steinkohle. Nicht zuletzt dank dieser Einsparungen werden wir die Haushaltsstruktur verbessern und gezielt Impulse für zukunftsgerichtete und investive Maßnahmen setzen. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Förderung von Forschungs- und Technologievorhaben und in der Steigerung der Innovationskraft kleinerer und mittlerer Unternehmen.

   Die Regionalförderung durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ wird mit rund 700 Millionen Euro für die neuen Länder und die Förderregionen in den alten Ländern ausgestattet. Sie wird in den Folgejahren auf diesem Niveau weitergeführt; die Länder erhalten auf diese Weise die gewünschte Planungssicherheit. Mit den komplementären Landesmitteln und den Mitteln der Europäischen Union stehen im nächsten Jahr 1,7 Milliarden Euro zur Förderung neuer Investitionen zur Verfügung.

   Der Erfolg der Regionalpolitik – damit bin ich noch einmal bei dem, was Herr Kollege Hinsken angesprochen hat – hängt aber nicht nur vom Mittelvolumen ab, sondern insbesondere auch vom intelligenten Einsatz der Fördermittel durch die Landesregierungen. Sie haben die Möglichkeit, zielgenaue Investitionsanreize zu geben und die Entwicklung von Spitzenstandorten oder von wirtschaftlichen Clustern, etwa in Ostdeutschland, noch effizienter zu unterstützen.

   Die GA-Förderung ist Teil des Solidarpakts II für die neuen Länder, der ab 2005 wirksam wird. Er umfasst ein Volumen von, wie wir schon gehört haben, 156 Milliarden Euro, verteilt auf die Jahre bis 2019. Das ist das sichere finanzielle Fundament für die Fortsetzung des Aufbaus Ost. Ich bin überzeugt, dass wir auf diesem Fundament weiterhin erfolgreich, wenn auch nicht die Welt von heute auf morgen verändernd, arbeiten. Aber es verändert sich die Situation in Ostdeutschland. Wer dies wahrnimmt, ohne geblendet zu sein, mit realistischem Blick, auch gestützt auf Erfahrungen in anderen Regionen Deutschlands, wird diese Ansicht teilen müssen.

   Meine Bitte ist natürlich – ich sage das auch etwas polemisch, einmal ausnahmsweise an die Adresse von Herrn Ministerpräsidenten Milbradt: Nicht demonstrieren ist gefragt für einen Ministerpräsidenten, sondern mitarbeiten vor Ort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mitarbeiten vor Ort – das heißt beispielsweise, dass man in den Städten und Gemeinden dafür sorgt, dass erstens die Gelder wirklich dort ankommen, dass zweitens diese Gelder möglichst investiv eingesetzt werden und dass drittens die Arbeitsagenturen vor Ort bzw. die Kommunen, falls sie optieren, konkret arbeiten und in Gang kommen. Es kommt darauf an, dass alle mitmachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht ja darum, die Menschen in Deutschland in Arbeit zu bringen: Deutschland in Arbeit. Das heißt, wir müssen Erwartungen an all diejenigen richten, die in Deutschland Verantwortung tragen:

   Erstens erwarten wir von den Unternehmen, dass sie jetzt investieren, dass sie die Standorte sichern anstatt sie zu verlagern, wenn das aus Kostengründen nicht anders geboten ist, und dass sie vor allen Dingen etwas für die Ausbildung tun. Wir müssen das Ausbildungsproblem in Deutschland lösen und den Ausbildungspakt einlösen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin unverändert davon überzeugt, dass das möglich ist.

   Ich werde gleich mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin in Gesprächen mit Unternehmen wieder für solche Ausbildungsplätze werben. Es ist möglich und mit dem Ausbildungspakt ist bei den Industrie- und Handelskammern sowie bei den Handwerkskammern schon Erhebliches erreicht worden. Die Aktivität, die dort entfaltet worden ist, ist teilweise sehr beeindruckend.

   Die Nachvermittlungsaktion, die zum ersten Mal geregelt und vereinbart wurde, wird am 1. Oktober 2004 beginnen. Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist, unser Versprechen, das eingehalten werden muss, auch wirklich einzuhalten: Jeder, der will und kann, muss einen Ausbildungsplatz, eine andere adäquate Einstiegsqualifikation oder Ähnliches erhalten.

   Zweitens appelliere ich an die besondere Verantwortung der Energiewirtschaft. Sie ist eine strategische Branche und hat insbesondere in dieser Phase Einfluss auf die weitere Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb: Nehmen Sie die angekündigten Preis- und Tariferhöhungen zurück! Davon kann und sollte jetzt kein Gebrauch gemacht werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Drittens appelliere ich an die Banken und an das Kreditgewerbe. Über 40 Prozent der Manager in mittelständischen Unternehmen klagen heute immer noch über Probleme beim Erhalt von Krediten und beim Eigenkapital. Ich appelliere an das Kreditgewerbe, alles zu tun, um diese Probleme zu überwinden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Durch die KfW werden Haftungserleichterungen und Haftungsentlastungen für das Kreditgewerbe organisiert und ermöglicht. Davon muss mehr und intensiv Gebrauch gemacht werden,

   Viertens habe ich die Erwartung an die Gewerkschaften, sich so besonnen wie in der Tarifpolitik in den letzten Jahren auch gegenüber der Agenda 2010 und den Protesten zu verhalten.

   Fünftens habe ich die Erwartung an die Arbeitsuchenden, die Herausforderungen anzunehmen und neue Chancen zu sehen. Wer bedürftig ist, dem wird geholfen. Ich habe das schon so oft gesagt: In diesem Prozess der Umgestaltung unserer Arbeitswelt wird niemand abstürzen. Aktives Mitwirken ist besser als passives Sich-verwalten-Lassen. Darum geht es, wenn wir die Arbeitsmarktreform jetzt vollziehen.

   Die Ziele, die wir uns setzen, werden erreicht sein, wenn bei künftigen Haushaltsberatungen nicht mehr über Vergangenheitsinvestitionen contra Zukunftsinvestitionen diskutiert wird, sondern wenn wir darüber streiten, wem in Zukunft unsere ganze Aufmerksamkeit gilt. Diese muss der Existenzförderung, der Forschung und Innovation und der Bildung und Weiterbildung gelten.

   Auf diesen Wettbewerb, den wir erreichen müssen, freue ich mich. Erst recht werde ich mich natürlich freuen, wenn er in diesem Hause stattfindet.

   Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Friedrich Merz (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich aus unserer Sicht zunächst eine Vorbemerkung zum Wechsel Ihres Staatssekretärs in die Privatwirtschaft machen. Der Wechsel ist in Ordnung. Sie verlieren einen der besten Beamten der Bundesregierung. Ich teile Ihre Einschätzung, dass es gut wäre, wenn wir in Deutschland einen Wechsel zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in alle Richtungen etwas häufiger erleben würden.

(Franz Müntefering (SPD): Nein, bleiben Sie hier!)

– Herr Müntefering, dass Sie hier bleiben, empfinden wir eher als Drohung. Aber es ist ja auch eine Frage der Verwendungsfähigkeit an anderer Stelle.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Clement, dass Sie unsere Nachfragen hierzu nicht kritisiert haben; denn dass heute Morgen eine Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses auf unseren Antrag und den der FDP stattgefunden hat, ist begründet gewesen. Es ist unsere Aufgabe nachzufragen. Die Antworten auf unsere Nachfragen haben keinerlei Anlass zu Kritik gegeben. Insofern begleiten Herrn Tacke unsere guten Wünsche auf seinem Weg in eine neue berufliche Aufgabe.

(Klaus Brandner (SPD): Das ist ein eleganter Rückzug, Herr Merz! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Die Schlagzeilen der letzten Tage sprechen eine andere Sprache! – Klaus Brandner (SPD): Späte Einsicht!)

   Wir sprechen über Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Herr Clement, Sie haben erneut eine relativ optimistische Prognose für das laufende Jahr und insbesondere für das Jahr 2005 gewagt. Als ich Sie gehört habe, habe ich gedacht: Das kommt mir bekannt vor. Wenn man es nachschauen würde, könnte man feststellen, dass Sie im letzten und auch im vorletzten Jahr etwa um diese Zeit fast wortgleich ähnlich optimistische Prognosen über Wachstum und Beschäftigung abgegeben haben. Ich sage ganz ausdrücklich: leider. Dies sage ich auch an Ihre Adresse, Herr Müntefering, weil Sie gestern Bemerkungen in dem Sinne gemacht haben, wir würden ein Interesse daran haben, dass die Krise in Deutschland fortbesteht. Ich erkläre ausdrücklich: Leider sind diese Prognosen der letzten zwei Jahre von Ihnen, Herr Clement, bis heute nicht eingetreten. Ich halte sie – offen gestanden – auch für das Folgejahr für zu optimistisch.

   Wir haben in der Tat in Deutschland ein geringes Wachstum. Wir haben möglicherweise im nächsten Jahr ein etwas höheres Wachstum. Aber diese Wachstumszahlen – der Hinweis ist zutreffend – beruhen nicht auf einer zunehmenden Belebung der Inlandsnachfrage, sondern sind ganz wesentlich dem Export geschuldet. Der Export aber ist jedenfalls zu einem beträchtlichen Teil mittlerweile eine statistische Größe geworden; denn er spiegelt sich nicht in inländischer Wertschöpfung wider. Diesen Zusammenhang will ich einmal aufzeigen.

   Wir haben es hier mit Wertschöpfungsketten zu tun, die so auseinander genommen werden, dass größere Teile dessen, was produziert wird, nicht mehr in Deutschland entstehen, etwa in der Automobilindustrie, sondern Vorleistungen aus dem Ausland nach Deutschland importiert, in hochmodernen Montagewerken zu Fahrzeugen montiert und dann exportiert werden. Der gesamte Wert eines solchen Fahrzeuges findet sich in der Exportstatistik wieder, aber eben nicht mehr die Wertschöpfung in Deutschland. Das ist das eigentliche Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deswegen kann ich nur davor warnen, Herr Clement, die Behauptung zu wiederholen, es sei doch wunderbar, dass wir Exportweltmeister seien. Bei Licht betrachtet ist dies immer mehr – ich sage nicht: ausschließlich – eine statistische Größe im Hinblick auf die Exportstatistiken und findet sich nicht in inländischer Wertschöpfung und inländischen Arbeitsplätzen wieder.

(Franz Müntefering (SPD): Da irren Sie sich!)

Die Arbeitsplätze werden in den osteuropäischen Ländern geschaffen. Sie entstehen mittlerweile auch zunehmend in den südeuropäischen Ländern. Abwanderungen von Unternehmen in die Schweiz und nach Österreich sind keine Abwanderungen in Billiglohnländer oder Niedrigsteuerländer, sondern Abwanderungen in Länder, die offensichtlich ein wesentlich stabileres und vertrauenswürdigeres politisches System haben als die Bundesrepublik Deutschland. Das hat nicht nur etwas mit Kosten, sondern auch mit Stabilität und Vertrauen zu tun, das an diesen Standorten größer ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben auf Ihren Etat Bezug genommen und durchaus kritisch den Hinweis gegeben, 85 Prozent dessen, was in Ihrem Etat, dem Einzelplan 09, an Steuermitteln ausgegeben wird, werde für die Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt. Das ist das eigentliche Problem. Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland reduziert sich weitgehend auf die Bewirtschaftung der Arbeitslosigkeit. Dies ist mittlerweile in einem Umfang haushaltswirksam, dass zeitgleich der Anteil der Investitionen auch aus Ihrem Etat auf einen Tiefstand zurückgefahren werden musste. Wenn ein Land wesentlich mehr für die Bewirtschaftung der Arbeitslosigkeit als für Investitionen in die Zukunft ausgibt, dann hat die Volkswirtschaft dieses Landes ein fundamentales Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Dieses fundamentale Problem ist nicht kleiner geworden, sondern es ist in Ihrer Amtszeit, Herr Clement, leider größer geworden. Nun reden wir hier abstrakt über große Zahlen. Ich will sie einmal auf den einen oder anderen Sachverhalt herunterbrechen, der mit den Hartz-Gesetzen in Verbindung steht. Ich will nur drei Sachverhalte aufgreifen: PSA, Ich-AG und Jobfloater. Sie haben zwar gesagt: keine Vergangenheitsbewältigung – in Ordnung -; aber dass wir zur Halbzeit der Wahlperiode einmal nachfragen, was aus dem geworden ist, was vor zwei Jahren, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, mit großem propagandistischen Aufwand der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, gehört zu unserer Aufgabe und interessiert auch große Teile der Öffentlichkeit.

   Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, wie Herr Hartz, für den kein Raum in Berlin gut genug war – man musste sogar in eine säkularisierte Kirche gehen, um den Inhalt einer kleinen CD-ROM vorzustellen –, die Prognose stellte, innerhalb von drei Jahren 2 Millionen neue Jobs in Deutschland zu schaffen.

Wie sieht die Lage heute aus, zwei Jahre danach? Sie haben mit den Personal-Service-Agenturen 350 000 sozialversicherungspflichtige Jobs pro Jahr angekündigt. Das heißt, wir müssten heute ungefähr 700 000 haben. Tatsache ist, dass wir 15 000 haben, davon 4 200 im Osten. Insgesamt haben Sie dafür aus Ihrem Etat 340 Millionen Euro ausgegeben. Das heißt, jeder Job, der entstanden ist, hat über 20 000 Euro gekostet. Ein Facharbeiter muss lange arbeiten, um die Steuern aufzubringen, die dafür bezahlt werden müssen. Es sind hier Randbereiche des Arbeitsmarktes gefördert worden. Mit dem eigentlichen Arbeitsmarkt hat das nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich-AG: 500 000 Existenzgründungen pro Jahr sind angekündigt gewesen. Es sind 180 000. In der Tat ist das – jedenfalls vordergründig betrachtet – zunächst ein Erfolg, aber nur jede zehnte Gründung einer solchen Ich-AG überlebt das erste Jahr ihrer Existenz. Neun von zehn werden nicht älter als ein Jahr. Die Insolvenzrate ist überproportional hoch. Im laufenden Jahr müssen Sie für die Ich-AGs aus Ihrem Etat bzw. aus dem der Bundesagentur für Arbeit 850 Millionen Euro ausgeben, damit diese so genannten Ich-AGs bestehen können.

(Doris Barnett (SPD): Haben Sie da mitgemacht?)

   Ganz absurd wird es nun beim Jobfloater. Dass Sie dieses Thema nicht mehr angesprochen haben, kann ich verstehen, obwohl Sie noch vor zwei Jahren mit großer Emphase diesen Begriff in die deutsche politische Sprache eingeführt und erklärt haben, das sei die Idee schlechthin, um auf diese Art und Weise eine Brücke von der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung zu bauen. 240 000 sozialversicherungspflichtige Jobs sollten mit diesem so genannten Jobfloater entstehen. Das ist der größte Jobflop geworden, den wir jemals in der Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In Zahlen ausgedrückt: 120 000 Jobs pro Jahr sollten es sein. Bis heute hätten es also 240 000 sein müssen. Es sind ganze 12 800 entstanden. Dafür hat die Kreditanstalt für Wiederaufbau in einem Programm 925 Millionen Euro ausgegeben. Das sind pro Job über 72 000 Euro. Herr Clement, wenn wir an dieser Stelle sagen, dass Steuergelder verschwendet werden und die falsche Politik gemacht wird, dann lässt sich das auch in sehr griffigen Zahlen ausdrücken, die nicht nur etwas mit Milliardenbeträgen zu tun haben, sondern mit Beträgen, bei denen jedermann sofort einsieht, dass man so Arbeitsmarktpolitik in Deutschland nicht machen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun haben Sie erneut – der Bundeskanzler hat es gestern getan und Frau Merkel in ihrer Erwiderung auf den Bundeskanzler auch – Hartz IV angesprochen. Ich will aus meiner Sicht noch einmal sehr deutlich sagen: Wir stehen dazu, dass wir der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zugestimmt haben. Das war richtig. Ich selbst habe von dieser Stelle aus diese Forderung mehrfach erhoben. Es ist richtig, dass wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe als steuerfinanzierte soziale Transferleistung zu einem einheitlichen System zusammenfügen. Trotzdem reißen die Debatten über dieses Thema nicht ab. Dies hat nicht parteipolitische Gründe, sondern das hat sehr objektive Gründe. Ich will Ihnen zwei nennen.

   Wir bleiben fundamental unterschiedlicher Auffassung darüber, wer in Zukunft die Verantwortung über die Verwendung der Mittel und die Vermittlung der Langzeitarbeitslosen übernehmen soll. Herr Clement, Sie haben eben in Ihrer Rede selbst das beste Beispiel dafür gegeben, dass das, was Sie jetzt planen, nämlich die Zuständigkeit einer zentralistisch geführten Bundesbehörde, nicht erfolgreich sein kann. Sie selbst haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht mehr zwischen Ost und West unterscheiden dürfen, dass sich die Arbeitsmärkte in Deutschland höchst unterschiedlich entwickeln, und zwar nicht zwischen Ost und West, sondern im Osten wie im Westen. Aber gerade weil das so ist, muss Arbeitsmarktpolitik dezentral organisiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil nur mit dezentraler Arbeitsmarktpolitik erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik gemacht werden kann, hätten wir uns gewünscht,

(Waltraud Lehn (SPD): Das passiert doch!)

dass Sie die Städte und die Kreise in Deutschland in die Verantwortung genommen hätten, und zwar nicht mit einer Optionsklausel, sondern flächendeckend. Es wäre richtig gewesen, die Städte und Kreise in Deutschland mit dieser Aufgabe zu betrauen.

   Ich bleibe bei meiner Kritik. Ich werde gleich noch etwas zum Bürokratieabbau sagen. Sie haben dazu erstaunlicherweise kaum etwas gesagt. Das, was jetzt zum Jahreswechsel 2004/2005 mit der Übertragung der Zuständigkeit an die Bundesagentur für Arbeit geschieht, also auf die regionale Arbeitsverwaltung, wird ein bürokratisches Monstrum werden. Die örtlichen Arbeitsverwaltungen werden ein riesiges Problem haben, dieses Thema wirklich zu schultern, was die Sozialämter in den Städten und in den Kreisen längst hätten machen können und in der Vergangenheit erfolgreich gemacht haben.

Deswegen ist es so kritisch gewesen und es bleibt aus unserer Sicht auch so kritisch.

   Es gibt einen zweiten Grund, der insbesondere für den Osten zutrifft. Es ist, wie ich finde, nach wie vor ein bedauernswerter Zustand, dass wir erstmalig ein Gesetz im Bundesrat verabschiedet gesehen haben, dem der gesamte Westen zugestimmt hat und das der gesamte Osten abgelehnt hat. Das ist, wenn ich mich richtig erinnere, das erste Gesetz nach der Wiedervereinigung – –

(Franz Müntefering (SPD): Stimmt doch gar nicht! Die haben doch zugestimmt! Erzählen Sie doch nicht so ein Zeug!)

– Herr Müntefering, hören Sie mir zu, bevor Sie Zwischenrufe machen. – Ich sage, es ist ein bedauernswerter Zustand, dass dies ein Gesetz ist, das – sozusagen entlang der alten Demarkationslinie – im Osten abgelehnt worden ist und dem im Westen zugestimmt worden ist.

(Franz Müntefering (SPD): Das stimmt doch gar nicht! Die haben dem Gesetz zugestimmt! – Zuruf von der SPD: Das ist aber eine Legende!)

Ich stehe zu der Zustimmung. Ich sage Ihnen nur: Die kritischen Anmerkungen, die der Ministerpräsident Milbradt aus Sachsen hier zu machen hat, haben an einer wesentlichen Stelle eine sehr gute, nämlich eine in Ihrem Haushalt aufgeschriebene Begründung. Herr Milbradt weist völlig zu Recht darauf hin, dass mit diesem Gesetz der Druck auf Arbeitslose erhöht wird, sich eine Beschäftigung zu suchen und auch eine Beschäftigung anzunehmen.

(Klaus Brandner (SPD): Herr Milbradt wollte viel größeren Druck haben!)

Nur, meine Damen und Herren, wenn keine Beschäftigung entsteht, wenn keine Jobs da sind, dann nützt auch der beste Druck nichts, den Sie jetzt auf die Arbeitslosen ausüben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Brandner (SPD): Er hat zugestimmt! Der Mann ist nicht auf dem Laufenden, Herr Präsident! Er erzählt die Unwahrheit!)

   Jetzt sage ich Ihnen ganz konkret, was das mit Ihrem Haushalt zu tun hat. Wir haben hier vor einem Jahr eine so genannte Koch/Steinbrück-Liste zum Thema Subventionsabbau diskutiert.

(Waltraud Lehn (SPD): Bestenfalls sind das jetzt Märchen!)

In dieser Diskussion sind auch die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ behandelt worden. Wir haben verabredet, dass diese Mittel einmalig gekürzt werden und dass sie dann auf dem alten Plafond fortgesetzt werden. Abweichend von dieser Vereinbarung kürzen Sie jetzt diese Mittel auch und besonders wirksam für den Osten, auch in den nächsten Jahren, also den Jahren 2005, 2006 und 2007.

(Peter Dreßen (SPD): Das ist doch nicht wahr!)

Insgesamt kürzen Sie die Mittel entgegen unserer Verabredung um rund 300 Millionen Euro, davon 260 Millionen Euro im Osten.

(Peter Dreßen (SPD): Wo haben Sie das her?)

Gleichzeitig erhöhen Sie entgegen unserer Verabredung die Subventionen für die Steinkohle. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich bin davon überzeugt, dass die Steinkohle in Deutschland Zukunft haben muss, jedoch auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als gegenwärtig.

(Peter Dreßen (SPD): Hört! Hört!)

– Das habe ich immer so gesagt, dazu werden Sie keine andere Äußerung von mir finden. – Sie haben aber nach einer Zusage des Bundeskanzlers beim Deutschen Steinkohletag die Subventionen für die deutsche Steinkohle im selben Zeitraum, in dem die GA-Mittel gekürzt werden, noch einmal um 800 Millionen Euro erhöht. Das passt nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

An dieser Stelle ist die Kritik von Herrn Milbradt völlig gerechtfertigt. Sie können nicht die Basis für Investitionen im Osten entziehen und gleichzeitig Subventionen im Westen erhöhen, weil es dort vielleicht einer gewissen Klientel gefällt und nicht zuletzt weil es Ihnen im Hinblick auf Wahlergebnisse des nächsten Jahres so in den Kram passt.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wer hat denn die Basis entzogen? Das stimmt doch gar nicht!)

Das ist eine Politik, die voller Widersprüche ist. Deswegen, Herr Clement, kann ich Ihnen die Kritik nicht ersparen: Hier machen Sie einen schweren Fehler, der vermeidbar gewesen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Ich will auch dazu eine Anmerkung machen. Uns liegt der Entwurf eines neuen Energiewirtschaftsgesetzes vor, der in den nächsten Wochen und Monaten beraten wird. Der Versuch der letzten Tage, Energiepreiserhöhungen durchzusetzen, hat in der Tat den Beigeschmack, als ob monopolähnliche Strukturen versuchen, Preise durchzusetzen. Darüber, wie man dies in den Griff bekommt, müssen wir reden. Wenn Sie hier allerdings das lobenswerte Beispiel Post und Telekommunikation anführen und sich gleichzeitig gegen die Ex-ante-Regulierung wehren, dann ist das ein Widerspruch. Über die Auflösung dieses Widerspruchs unterhalten wir uns im Herbst.

   Nur, meine Damen und Herren, ein wesentlicher Teil der Energiepreiserhöhungen in Deutschland hat mit den Monopolstrukturen nichts zu tun; vielmehr sind sie die Folge politisch gewollter Steuer- und Abgabeerhöhungen, die diese Bundesregierung in den letzten sechs Jahren massiv zulasten der privaten Haushalte und der Betriebe in Deutschland durchgesetzt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die letzte Strompreiserhöhung hat wenig mit Monopol und sehr viel mit dem novellierten Energieeinspeisegesetz zu tun. Insgesamt hat diese Bundesregierung in den letzten sechs Jahren die Belastung der Strompreiskunden durch Steuern und Abgaben mehr als verfünffacht. Sie haben innerhalb von sechs Jahren die Belastung des Stromes mit Steuern und Abgaben von 2,5 Milliarden Euro auf über 12 Milliarden Euro gesteigert. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu hohe Energiepreise und insbesondere zu hohe Strompreise hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Damit sind wir bei der Steuer- und Abgabenpolitik. Das Ressort des Bundeswirtschaftsministers umfasst auch – wie ich meine: richtigerweise – die Arbeitsmarktpolitik. Aber er hat natürlich eine weit darüber hinausgehende Verantwortung für die Wirtschaftspolitik insgesamt. Zu einer guten Wirtschaftspolitik eines Landes gehört natürlich ein Steuersystem, das angenommen wird und das als Standortfaktor positive Wirkungen entfaltet. Ich hätte mir deswegen gewünscht, dass Sie, Herr Clement, wenigstens einen Satz zur steuerpolitischen Debatte in Deutschland gesagt hätten. Uns liegt seit einigen Wochen eine Untersuchung von der Harvard-Universität und dem Weltwirtschaftsforum über die Effizienz und die Transparenz der Steuersysteme auf dieser Welt vor. 102 Staaten sind untersucht sowie über 5 000 Unternehmen und Fachleute befragt worden. Das ist wahrscheinlich die breitest angelegte Untersuchung, die es jemals über Effizienz und Transparenz der Steuersysteme auf dieser Welt gegeben hat. Auf Platz eins der erstellten Bestenliste liegt Hongkong, dicht gefolgt von Estland, einem neuen Mitgliedstaat der Europäischen Union, auf Platz vier. Dann folgen viele andere Staaten. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bin nicht sicher, ob Sie wissen, auf welchem Platz Deutschland liegt. In dieser Untersuchung liegt Deutschland auf Platz 102, also auf dem letzten Platz.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Brigitte Schulte (Hameln) (SPD))

– Vielen Dank für den Zuruf. Vielleicht geben Sie ihn noch einmal zu Protokoll.

   Ich möchte Ihnen ein paar der Länder nennen, die vor uns liegen: Trinidad und Tobago, Ghana, Sambia, Malawi, Haiti, Angola, Nicaragua, Bangladesch. All diese Länder liegen vor uns, natürlich nicht was die Höhe der Steuersätze betrifft!

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler (SPD): Gehen Sie doch dahin! – Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Albernheit! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ein merkwürdiges Verständnis!)

– Sie können froh sein, dass die meisten Ihrer Zurufe nicht so verständlich sind, dass sie die Fernsehzuschauer mitbekommen oder dass sie Eingang in das Protokoll finden. Seien Sie froh, dass die meisten Ihrer Zurufe nicht protokolliert werden! Sie sind an Dummheit und Dämlichkeit nicht mehr zu überbieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Präsident, das ist doch kein Umgang! Herr Präsident, berührt es Sie eigentlich nicht, wenn wir unsere Zwischenrufe so kommentiert kriegen? Unglaublich!)

   Ich führe dieses Thema deswegen in die Debatte ein, weil wir es uns nicht leisten können, auf Dauer ein so komplexes, kompliziertes und intransparentes Steuersystem in Deutschland beizubehalten. Herr Clement, Sie haben von Bürokratieabbau gesprochen. Ich nenne Ihnen zwei große Bereiche, in denen Bürokratieabbau wirklich notwendig ist. Der eine ist die Arbeitsmarktpolitik. Dort machen Sie das glatte Gegenteil von Bürokratieabbau. Sie bauen dort zusätzlich eine riesengroße Bürokratie auf. Der andere ist die Steuerpolitik. Die Steuerverwaltung in Deutschland weiß selbst nicht mehr, wie die Steuergesetze der rot-grünen Bundesregierung vollzogen werden sollen. Deswegen ist Deutschland auf dem letzten Platz der erwähnten Liste. Wenn Sie darüber lachen, empfehle ich Ihnen, einen mittelständischen Betrieb zu besuchen und den Betriebsinhaber und die Betriebsräte zu fragen – diese werden Ihnen sicherlich ein paar Takte dazu sagen können –, wie die Betriebe in Deutschland mittlerweile das Steuerrecht anwenden. Es ist eigentlich die Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, darauf aufmerksam zu machen, dass wir aus dem bestehenden Steuerchaos heraus müssen und dass wir ein wirklich radikal vereinfachtes Steuerrecht in Deutschland brauchen. Wir haben dazu Vorschläge gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben vor Jahr und Tag den Masterplan „Bürokratieabbau“ mit großem propagandistischem Aufwand und großen Ankündigungen, jetzt endlich werde mit Bürokratieabbau in Deutschland ernst gemacht, auf den Weg gebracht. Herr Clement, die Weltbank hat gestern eine Studie über Bürokratieabbau auf dieser Welt veröffentlicht. Sie kann man heute in vielen Zeitungen nachlesen. Danach sind 89 große Reformen zum Bürokratieabbau auf der Welt identifiziert worden, davon 36 in den Staaten der Europäischen Union. Aber keine einzige ist in Deutschland identifiziert worden. Wörtliches Zitat:

Im Jahre 2003 ist in Deutschland zum Thema Bürokratieabbau nichts geschehen.

Das ist die traurige Bilanz Ihrer großen Ankündigungen. Mit vielen Ankündigungen und wenigen Taten insbesondere beim Bürokratieabbau geht die Reise in eine andere Richtung.

   Abschließend zu der von Ihnen angesprochenen Reform der sozialen Sicherungssysteme: Wir alle streiten hierüber. Es geht um äußerst schwierige Sachverhalte, die jeden Bürger in Deutschland in seinem Kernbereich berühren. Deswegen möchte ich jenseits aller Details, über die wir uns noch im kommenden Herbst zu streiten haben, eine allgemeine Bemerkung machen. Die entscheidende Frage ist, ob es uns gelingt, die deutsche Bevölkerung zu einem Wandel der Mentalität zu veranlassen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So wie Sie reden, schaffen wir das nicht!)

Wir brauchen in Zukunft eine fundamentale Neuabgrenzung zwischen Eigenverantwortung und Solidarität.

   Ein Ereignis der letzten Tage ist symptomatisch für Deutschland. Der eine oder andere von Ihnen wird gleich schreien und es als an den Haaren herbeigezogen bezeichnen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Schön, dass Sie das selbst so sagen!)

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag – Herr Schmidt, vielleicht haben Sie noch gar nicht registriert, dass das passiert ist – ist die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar abgebrannt, weswegen große Teile ihres Bestandes vernichtet worden sind.

(Ludwig Stiegler (SPD): Gut, dass Sie uns das endlich sagen!)

   Wie reagiert Deutschland auf einen solchen Sachverhalt? Die Staatsministerin im Bundeskanzleramt stellt innerhalb weniger Stunden, also fast sofort, einen Betrag von 4 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist gut gemeint. Aber sind wir uns eigentlich darüber im Klaren, was das für Wirkungen hat? Große Teile der Bevölkerung haben doch das Gefühl: Also, wenn die das Geld da haben, dann ist das damit erledigt.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch unglaublich! Wir sind Mitbetreiber dieser Bibliothek! Sie haben keine Ahnung! Das ist doch nicht zu fassen! Das ist wirklich unanständig, was Sie gerade machen!)

   In vielen anderen Ländern hätte der Staat gesagt: Jetzt etwas zu tun ist in erster Linie gar nicht unsere Aufgabe. Dort hätten die Repräsentanten des Staates – der Bundeskanzler, der Staatsminister für Kultur und andere – gesagt: Das ist jetzt die Stunde des großen bürgerschaftlichen Engagements für ein Weltkulturerbe, für das sich alle Menschen in Deutschland interessieren und begeistern lassen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Was dort geschehen ist, ist ein typisches Beispiel dafür, wie in Deutschland politisch gedacht und gehandelt wird: Der Staat tritt sofort in Vorlage, statt zu sagen: Dies ist jetzt die Stunde der Bürger und des ehrenamtlichen Engagements.

   Wir können uns das ganze Gerede über Bürgergesellschaft, über Engagement und über Eigenverantwortung sparen, wenn der Staat schon an einer solchen Stelle sofort wieder in Vorlage tritt und den Bürgern sozusagen das Signal gibt: Wir sind für alles zuständig und die Bürgerinnen und Bürger müssen nur weitgehend auf den Staat vertrauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben doch gerade staatliches Handeln in extenso gefordert! Sie widersprechen sich doch selbst! Unglaublich! Nicht zu fassen!)

   Dies ist der entscheidende Punkt, über den wir uns politisch auseinander setzen müssen. Wenn wir bürgerschaftliches Engagement und Eigenverantwortung wollen, dann müssen wir es fördern und nicht im Keim ersticken. Wenn Sie die Probleme in unserem Lande lösen wollen, dann sind wir auch bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Wir haben unsere Bereitschaft dazu in den letzten Monaten doch gezeigt.

   Herr Müntefering, eines ist doch klar: Wenn Sie und wir und alle, die hier sitzen, nicht in kürzester Zeit einen Silberstreif am Horizont aufzeigen können, der andeutet, dass dieses Land aus seiner Krise herauskommt, dann werden wir uns über Jahr und Tag nicht mehr nur über eine ökonomische Krise, sondern über eine fundamentale Sinn– und Akzeptanzkrise der gesamten demokratischen Ordnung unterhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie sollten uns mit Ihren Redebeiträgen von dieser Stelle aus nicht unterstellen, dass wir sozusagen auf Baisse spekulieren, dass wir also versuchen, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen. Wir sind über den Zustand dieses Landes tief besorgt.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Ihr Gefeixe spricht Bände über die Ernsthaftigkeit, mit der Sie sich über diese Themen zu unterhalten bereit sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man in Ihre Gesichter schaut, dann erkennt man: Ihr Gefeixe spricht Bände.

   Wir sind über den Zustand dieses Landes tief besorgt. Sie tragen als Regierungsfraktionen hier die Verantwortung. Wir bieten Ihnen an, dabei mitzuhelfen, dass dieses Land aus der Krise herausfindet.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Merz, ich will aus Ihrem Themenhopping nur einige Punkte herausgreifen; alles werde ich hier nicht behandeln können. Es ist schon erstaunlich, wie Sie beispielsweise versuchen, aus der positiven Tatsache, dass Deutschland Exportweltmeister ist, eine Negativbotschaft abzuleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Es ist erstaunlich, wie Sie hier darstellen wollen – das kommt nicht an; das sage ich Ihnen auch –, dass notwendige Arbeitsmarktreformen mit von uns geschaffenen neuen Instrumenten angeblich nicht greifen. Auch Sie wissen – Ihr Hinweis auf die Binnenkonjunktur war richtig –, dass eine positive Konjunktur die Voraussetzung für eine positive Entwicklung des Arbeitsmarktes ist und dass die neuen Instrumente, beispielsweise Zeitarbeit und Ähnliches, erst dann wirken können, wenn sich die Konjunktur belebt.

   Herr Merz, schauen Sie doch hin! Der Minister hat es gesagt und er hat auch die Zahlen genannt: Die Indikatoren zeigen Positives. Wir können das beobachten. Wir sehen mittlerweile auch – vorsichtig, vorsichtig –, dass die neuen Instrumente greifen. Ich nenne nur eines: die Zeitarbeit. Wir können nachweisen, dass wir gerade in diesem Bereich in den letzten Wochen einen enormen Entwicklungsschub gemacht haben.

   Was machen Sie hier? Ob das Export ist, ob das Arbeitsmarkt ist, ob das binnenkonjunkturelle Entwicklung ist, Sie suchen sich das heraus, was Ihnen passt, um die Entwicklung schlecht zu reden. Das ist Ihr Ansatz.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Sie wissen offensichtlich überhaupt nicht, worüber Sie reden. Sie haben als nächsten Punkt die Hartz-Reformen thematisiert. Sie sagen, die Reformen müssten durchgesetzt werden. Prima! Ich habe heute Morgen auch gelesen, dass Herr Koch, der noch vor ein paar Monaten die Kommunen zum Boykott der Hartz-Reformen aufgerufen hat, jetzt sagt: Man muss dazu stehen.

   Gleichzeitig aber machen Sie sich hier einen schlanken Fuß, Herr Merz; denn Sie reden über etwas, was gar nicht Inhalt dieser Reform ist. Sie sprechen von einem bürokratischen Moloch und fordern Dezentralität ein. Der Kern dieser Reform ist Dezentralität. Wir machen mit dieser Reform Folgendes – das wird am 1. Januar 2005 losgehen –: Wir geben den Kommunen, den Regionen vor Ort ein umfassendes Handwerkszeug und auch Geld in die Hand, damit vor Ort mit den regionalen Trägern, mit den Akteuren, mit der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften zusammen eine Arbeitsmarktpolitik betrieben werden kann, die an den Individuen orientiert ist und die die dezentralen Strukturen nutzt.

   Herr Merz, Sie stellen die Frage der Option als ein großes Problem dar. Es ist richtig: Nicht alle Kommunen können optieren. Herr Merz, Sie sind im Vermittlungsausschuss mit dicken Backen aufgetreten und haben viele, viele Optionen gefordert. Ich nenne nun ein Beispiel: Baden-Württemberg. Dort sind sechs Optionen möglich. Fünf sind jetzt beantragt. Dort ist die CDU in der Regierung!

(Beifall der Abg. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich habe am Sonntag mit dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen gesprochen. Auch er sagte mir: Wir kommen damit gut aus. Vermutlich werden weniger Kommunen optieren.

(Dirk Niebel (FDP): Es sind schon 13 Anmeldungen in Niedersachsen!)

   Meine Damen und Herren, blasen Sie sich hier also nicht so auf für eine Reform, die Sie durch die Hintertür doch wieder schlecht machen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Wir machen im Bereich Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sicherlich gerade die größten Reformen in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir machen sie deshalb erst so spät, weil Sie sich, alle, wie Sie da sitzen, von FDP bis CDU/CSU, in den 90er-Jahren an diese unbequemen Reformen nicht herangewagt haben. Sie haben sich weggeduckt. Von Herrn Merz ist die geschickte Form des Wegduckens wiederum vorgeführt worden. Sie in der Union sind, was den Mut anbelangt, eine Reform auch umzusetzen und durchzusetzen, ein Duckmäuserverein. Ich will Ihnen das auch zeigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Hinter verschlossenen Türen feiern die Hardliner fröhliche Urständ. Da wird dann zum Beispiel gefordert, die Leistung zu reduzieren. Öffentlich wird eine andere Melodie gespielt. Wir haben es hier gehört und wir hören es jeden Tag. Rüttgers will eine Generalrevision der Reform. Milbradt will verschieben, Schonvermögen heraufsetzen. Böhmer will beim Zuverdienst etwas machen. Söder hat unter Tränen beklagt, was mit den Kindersparbüchern passiert.

   Sie spielen hier mit gezinkten Karten. Sie haben im Vermittlungsausschuss durchsetzen wollen, dass die Leistungen niedriger sind. Sie wollten keine Kinderzuschüsse für Leute mit geringem Einkommen, die verhindern, dass sie in die Sozialleistung abrutschen. Sie wollten Verschärfung der Sanktionen. Sie haben es durchgesetzt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten – zum Beispiel bis 400 Euro – erheblich schlechter sind, als wir das wollten. Dort machen Sie also eine Politik, die Verschärfung zum Inhalt hat. Auf der Straße spielen Sie eine andere Melodie.

Meine Damen und Herren, das ist unredlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist verlogen!)

Wir müssen jetzt, hier und heute, die Reformen angehen; dabei steht die Umsetzung im Vordergrund. Deshalb macht es keinen Sinn mehr, noch hier und da Veränderungen zu fordern. Wir werden den Umsetzungsprozess, der am 1. Januar 2005 beginnt, sehr genau beobachten.

   Diese Reform ist deshalb so notwendig, weil sie eine Etappe markiert: Wir verabschieden uns jetzt von einer Politik, die von Ausgrenzung und Alimentierung geprägt war, und treten in eine Politik ein, die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zum Ziel hat. Es geht darum, ernst zu nehmen, dass Langzeitarbeitslosigkeit eine der schlimmsten Geißeln für die Betroffenen und übrigens auch für die Ökonomie ist. Wir haben in Deutschland eine überdurchschnittlich hohe Dauer der Arbeitslosigkeit; im Schnitt beträgt sie 32 Wochen. Das ist schlimm für die Betroffenen. Wir müssen ihnen helfen, da schneller wieder herauszukommen. Das ist das Ziel dieser sehr schwierigen und unbequemen Arbeitsmarktreform.

   Das ist, wie ich glaube, noch nicht überall angekommen, beispielsweise auch nicht bei unseren Freunden vom DGB. Herr Sommer hat letztens – ich glaube, es war vor zwei Wochen – gesagt, mit der Reform werde die Würde der Beschäftigten angegriffen. Ich entgegne darauf: Langzeitarbeitslosigkeit greift die Menschenwürde an. Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir diese Politik weiter verfolgen, auch gegen den von Ihnen organisierten Widerstand.

   Wir können nicht akzeptieren, dass es in Deutschland zwei Klassen von Langzeitarbeitslosen gibt: die einen in der Arbeitslosenhilfe, die anderen in der Sozialhilfe. Dabei haben die, die von Sozialhilfe leben, so gut wie keine Chance, wieder in den Arbeitsmarkt hereinzukommen, da sie keinen Zugang zu den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben. Das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Reform. Gegen diese Neuorientierung hin auf Integration wird jetzt von außen mit Ihrer Unterstützung – ich nenne beispielsweise Herrn Milbradt –

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatsch!)

vorgegangen und Wind gemacht.

   Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal an die Adresse all derjenigen, die jetzt auf Montagsdemonstrationen oder anderswo falsche Parolen gegen dieses Gesetz in Umlauf bringen,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Lafontaine! Ströbele!)

Folgendes zur Klarstellung sagen: Es ist schlichtweg falsch, dass die Leute, wie es beispielsweise die PDS unermüdlich behauptet, massenhaft ihre Wohnungen verlassen müssten. Sie haben vielmehr die Möglichkeit, in ihren Wohnungen zu bleiben. Angemessener Wohnraum wird zugestanden. Auch andere Dinge sind übrigens verbessert worden; so werden sogar die Zinsen für Darlehen weiter gezahlt, wenn es sich um eine Eigentumswohnung handelt.

   Die Menschen, die das neue Arbeitslosengeld II beziehen, werden alle sozialversichert sein. Es handelt sich um eine Verbesserung für all diejenigen, die vorher Sozialhilfeempfänger waren.

   Denjenigen, die immer wieder das Prinzip „Fördern und Fordern“ problematisieren, sage ich: In diesem Gesetz wurde eine richtige Balance zwischen Fördern und Fordern gefunden. Ich nenne beispielsweise die Maßnahmen für Jugendliche. Jugendliche haben erstmals Anspruch auf eine elternunabhängige Leistung. Das wollten Sie von der Union übrigens nicht. Ab 1. Januar haben sie auch einen Rechtsanspruch auf ein Arbeits- oder Ausbildungsangebot. Dem steht gegenüber, dass ihnen, wenn sie Angebote nicht annehmen, die Leistungen für eine bestimmte Frist gestrichen werden. Ich glaube, meine Damen und Herren, dass diese beiden Punkte, nämlich auf der einen Seite das neue Angebot einer Unterstützung in Form einer eigenständigen Leistung und auf der anderen Seite die Forderung nach eigener Aktivität, in guter Weise beschreibt, was dieses Gesetz will, nämlich fördern und fordern. Wir werden in Zukunft speziell auf das Fördern unser Augenmerk richten.

   Das Gesetz hat Schwächen. Für viele dieser Schwächen sind Sie von der Opposition verantwortlich.

(Widerspruch der Abg. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU))

Ich nenne nur zwei Beispiele. Das eine Beispiel ist die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen. Allen Kritikerinnen und Kritikern, die uns anmailen und von uns fordern, diesen Punkt zu ändern, sage ich: Schickt eure Beschwerden bitte zielgerichtet und direkt an die CDU/CSU und an die FDP; denn die haben uns diese Regelungen im Gesetz eingebrockt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

   Wir werden natürlich eine Debatte über das Thema Lohndumping führen müssen. Wir werden beobachten müssen, ob es zu Lohndumping kommt, und eventuell Maßnahmen dagegen ergreifen müssen. Eine Maßnahme kann durchaus ein branchenbezogener Mindestlohn sein, wenn die Tarifautonomie dadurch gewahrt bleibt. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Wir brauchen auf jeden Fall eine Debatte, denn wir wollen nicht das Lohndumping, das Sie durchgesetzt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss. Aber ich möchte an dieser Stelle noch auf einen fundamentalen Unterschied in unseren arbeitsmarktpolitischen Ansätzen hinweisen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin – –

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das ist wirklich der letzte Satz, Herr Präsident.

   Frau Merkel hat gestern den flächendeckenden Niedriglohnsektoren, mit viel Geld staatlich subventioniert, das Wort geredet, übrigens ohne Gegenfinanzierungsvorschlag. Wir wollen eine Arbeitsmarktpolitik, die für das Individuum, für den Langzeitarbeitslosen Brücken in den Arbeitsmarkt baut, finanziert durch Lohnkostenzuschüsse, durch eine ganze Reihe von Angeboten. Wir sehen keine Möglichkeit, den Menschen in Deutschland in irgendeiner Weise durch einen flächendeckenden Niedriglohn zu helfen; das wäre auch ökonomisch fatal.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist aber ein langer Satz!)

Wir können mit Tschechien nicht konkurrieren, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Clement, auch ich will mit einer Bemerkung zu Herrn Tacke beginnen. Es ist unbestritten, dass Herr Tacke ein hoch qualifizierter, verdienter Staatssekretär ist. Es ist auch völlig unbestritten, dass ein Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft wünschenswert ist. Aber für mich ist und bleibt es schlechter politischer Stil, wenn ein Staatssekretär, der kurz vor der Bundestagswahl eine höchst umstrittene Ministererlaubnis gegen das Kartellamt und gegen die Monopolkommission durchgezogen hat und damit die Fusion von Eon und Ruhrgas mit einem Marktanteil von 85 Prozent – das soll mir einer erläutern, dass man in einer sozialen Marktwirtschaft einen Marktanteil von 85 Prozent braucht – ermöglicht hat

(Zuruf der Abg. Dr. Elke Leonhard (SPD))

- was haben Sie bis hin zum Regierungssprecher in dieser Geschichte nicht alles verkündet; heute sind Sie schön ruhig –, anschließend bei einem wesentlich von Eon Ruhrgas bestimmten Unternehmen Vorstandsvorsitzender wird. Ich empfehle Ihnen dringend, einen Ehrenkodex zu entwickeln, in dem wenigstens eine Schamfrist fixiert wird. Es geht nicht um eine Rechtsfrage; das hat der Ausschuss heute geklärt. Beamtenrechtlich ist nichts zu beanstanden, denn er scheidet aus dem öffentlichen Dienst aus. Aber guter politischer Stil ist das für mich nicht; es dient nicht dazu, das Ansehen der Politik in der Bevölkerung zu stärken.

(Beifall bei der FDP)

   Wir befinden uns im vierten Jahr der Stagnation der Binnenwirtschaft. Kernbereich wirtschaftlicher Belebung ist der private Konsum. Fast 60 Prozent des Sozialprodukts entstehen durch den Konsum. Dort kommen wir im vierten Jahr in Folge nicht voran. Heute hat das Kieler Institut seine Wachstumsprognose für das nächste Jahr auf 1,2 Prozent gesenkt. Sie kennen die Risiken draußen. Wir profitieren – ich füge hinzu: Gott sei Dank – von Boomregionen wie China und Teilen Amerikas. Der Export ist davon abhängig; er ist in der Tat ein Stück geborgte Wertschöpfung – Herr Kollege Merz hat dazu Ausführungen gemacht –; denn vieles, was als Siemens-Produkt verkauft wird, beinhaltet China. Das ist alles begrüßenswert. Aber die Risiken – die Überhitzung in China, die Entwicklung in Amerika – sind sehr groß.

   Das Entscheidende ist: Der Transmissionsmechanismus, das Überspringen der Exportimpulse auf die Binnenkonjunktur, funktioniert nicht mehr. Das hat seine Ursache. Es liegt an der tiefen Verunsicherung der Verbraucher und von Teilen unserer Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands. Deshalb birgt Ihr Haushalt große Risiken. Mein Kollege Niebel wird zu den Wackelpositionen bei der Finanzierung der Arbeitslosigkeit später noch detailliert Stellung nehmen. Ihre Inkonsistenz und die fehlende Klarheit der Politik verstärken die Verunsicherung in der Bevölkerung und deshalb kommen wir nicht voran.

   Herr Bütikofer erklärt gestern, die Erbschaftsteuer müsse erhöht werden; das betrifft zu zwei Dritteln die Betriebsübergänge. Frau Simonis will die Mehrwertsteuer erhöhen. Dadurch wird die Verunsicherung ständig vergrößert.

Es ist ein natürlicher Reflex, sein angespartes Geld zurückzuhalten, wenn man nicht weiß, ob man einen Job bekommt oder seinen Job behält. Die Sparquote hat eine Rekordhöhe von über 11 Prozent erreicht. Eine hohe Sparquote ist aber nicht hilfreich in einer Situation, in der die Binnenkonjunktur anspringen muss. Denn sie macht 60 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.

(Beifall bei der FDP)

Da hilft uns der Export allein nicht weiter und der Staat kann eh nicht eingreifen.

   Die Situation in Europa hat sich verschärft. Mit dem Beitritt von zehn weiteren Ländern zur Europäischen Union sind Länder wie Estland und Slowenien hinzugekommen, in denen es eine Flat Tax gibt. Das heißt, bis zu einer bestimmten Grenze gilt Steuerfreiheit und die maximale Besteuerung liegt bei unter 20 Prozent. Es wird den Firmen und Holdings bald relativ egal sein, ob sie ihren Sitz in Tallin oder in Ljubljana bzw. in Düsseldorf oder Berlin haben. Der Unterschied liegt darin: Hier zahlen sie mehr als 50 Prozent Steuern und dort weniger als 20 Prozent.

   Wir haben Niedriglohngebiete auf dem gemeinsamen Binnenmarkt. Die Relation der Facharbeiterlöhne zwischen Deutschland und Polen beträgt eins zu zehn bis eins zu zwölf. Die IG Metall hat bei den großen Konzernen kapiert – die können ihren Standort nämlich schnell verlagern –, dass sich etwas tun muss. Dort akzeptiert sie Nullrunden. Wir brauchen aber auch einen Spielraum beim Mittelstand. Denn im Mittelstand entstehen die Jobs und nicht in den großen Konzernen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Mittelstand haben wir Zehntausende von Arbeitsplätzen verloren. Eine Gewerkschaftspolitik, die sich auf die Großkonzerne konzentriert, ist falsch angelegt.

   Man muss in diesem Zusammenhang folgendes Tabuthema ansprechen. Die paritätische Mitbestimmung in Deutschland ist eine Fehlentwicklung. Ich weiß sehr gut, wie sie entstanden ist. Das ist die Gedankenwelt der Wirtschaftsdemokratie: Es war die Zeit der Gemeinwirtschaft, der Neuen Heimat und der Bank für Gemeinwirtschaft – die kennt gar keiner mehr; dort wurden viele Arbeitergroschen versenkt. Damals entstand die Idee, dass man etwas anderes dazwischen erfinden müsste, eine Art Rätesystem.

   Dieses System ist zunehmend ein Standortnachteil. Andere werben inzwischen damit, die Holdings nach Holland oder in die Schweiz zu verlagern, weil es dort solche Regelungen nicht gibt. In der Diskussion, ob die Deutsche Bank mit einem anderen großen europäischen Bankinstitut zusammengeht, war immer klar, dass der Standort in Luxemburg oder in London sein würde, weil es dort andere Regelungen gibt. Man muss offen darüber reden, dass sich ein Mechanismus entwickelt hat, der ein Standortnachteil geworden ist. Dieses Thema kann man nicht einfach tabuisieren und fortschreiben; darüber muss ein Dialog stattfinden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nächster Punkt: Energiegipfel. Ich bin froh, dass der Bundeskanzler unsere Anregung aufgegriffen hat und jetzt zu einem entsprechenden Gipfel eingeladen hat. Aber ein bisschen zwiespältig ist es schon. Diese Bundesregierung hat den Konzentrationsprozess am Gasmarkt – 85 Prozent Marktanteil – zugelassen und wundert sich jetzt, dass die Gaspreise steigen.

(Beifall bei der FDP)

Wettbewerb ist der beste Schutz vor überzogenen Preisen. Deshalb gilt es, den Wettbewerb zu stärken. Die Regulierungsbehörde kommt nicht in die Pötte. Ich bin kein Freund der Regulierungsbehörde. Es wäre besser, die Kompetenzen wären bei einer Wettbewerbsbehörde, dem Kartellamt, konzentriert. Die Regulierungsbehörde funktioniert nicht, weil Sie keine vernünftigen Regelungen hinbekommen. Wahrscheinlich haben die Grünen noch einen Postenwunsch.

   Sie kriegen die Energiewirtschaftsgesetzverordnung nicht hin. Da besteht seit einem Jahr Unsicherheit; sie ist immer noch nicht in Kraft. Das verunsichert natürlich die Energieunternehmen.

   Sie senden falsche Signale aus. Sie sollten überdenken, ob das ERP-Sondervermögen, das einen Symbolgehalt für den Mittelstand hat, verkauft und der KfW als Eigenkapitalhilfe übertragen werden soll. Das soll wahrscheinlich deshalb gemacht werden, damit Herr Eichel seine Telekom- und Postaktien besser platzieren kann.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin (FDP))

Denn es handelt sich um Aktien mit einem Kursrisiko, das durch Eigenkapital abgedeckt werden muss. Das ist der falsche Ansatz.

   Herr Clement, Sie sind so etwas wie der letzte Mohikaner der Marktwirtschaft in dieser Regierung.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die anderen roten Brüder haben sich schon längst in die Büsche geschlagen. Sie träumen wahrscheinlich davon, wie sie in der Opposition Marterpfähle wie Bürgerversicherung und Steuererhöhungen, mit denen die deutsche Volkswirtschaft getroffen werden soll, errichten können.

(Widerspruch des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

   Was Sie zur Forschung gesagt haben, unterschreibe ich alles. Man muss an das Thema Biotechnologie herangehen. Auf diesem Gebiet gibt es im Moment noch Entwicklungshemmnisse in Deutschland.

Warum gehen Sie nicht wirklich glaubwürdig an den Bürokratieabbau heran? Wir diskutieren seit Jahrzehnten – auch mein Verein – über den Abbau von Bürokratie. Ich sehe nur einen Weg, wie wir es schaffen können: Sie müssen die kommunale Selbstverwaltung und damit den Föderalismus in den Wettbewerb einbeziehen. Lassen Sie doch beispielsweise die Ostländer Gesetze außer Kraft setzen! Lassen Sie Kommunen den Spielraum, Gesetze außer Kraft zu setzen! Nur wenn wir den Wettbewerb innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung und des föderalen Systems nutzen – wer Arbeitsplätze schafft, Investitionen anzieht und wer eine geringere Regelungsdichte hat, hat den attraktiveren Standort –, kommen wir voran. Sonst fördern wir nur die Auswanderung aus Deutschland. 120 000 Spitzenkräfte in Forschung, Wirtschaft und Wissenschaft verlassen Deutschland jedes Jahr. Kaum einer kommt zurück. Kapital wandert aus, weil die Situation bei uns so schwierig ist und weil wir keine Beweglichkeit und Flexibilität hinbekommen. Da liegen Sie zwar im Ansatz richtig; aber mehr erreichen Sie nicht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich will nicht wiederholen, was Kollege Merz richtigerweise angesprochen hat. Sie haben auf die Energiepreise permanent Belastungen geknallt. Die damalige Liberalisierung hat eine Entlastung von 18 Milliarden DM gebracht. Die ist voll geschluckt worden. Damit werden die Windrädchen der Grünen finanziert. Diese sollen ein Drittel der Kernenergie ersetzen.

   Ich halte es übrigens für falsch, dass wir aus dieser Technologie ausgestiegen sind. Wir sollten uns sehr wohl überlegen, diese Technologie weiterzuentwickeln und die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wir werden noch große Probleme bekommen. Lieber deutsche Ingenieure als verrückte Derwische in Nahost als Garanten unserer Energieversorgung! Sie haben einen falschen Ansatz gewählt.

   Wir brauchen das Vertrauen der Bevölkerung. Es ist nicht vorhanden, weil es keinen klaren Kurs gibt. Schauen Sie einmal die Ergebnisse im Saarland und die Umfragen in Sachsen an! Das Schlimme im Saarland ist: Rund 10 Prozent der jungen Wähler bis 25 Jahre haben NPD gewählt. Die Wähler der NPD sind keine alten Nazis, sondern junge Leute. Wir alle haben nur ein begrenztes Zeitfenster, um notwendige Veränderungen zu vollziehen; ansonsten werden alle Parteien verlieren.

   Schauen Sie einmal über die Grenzen unseres Landes! Ich bin in der Südpfalz aufgewachsen. Das Elsass ist eine wohlhabende Region. Dort ist kein Militär einmarschiert; dort waren keine Panzer. Bei der letzten Regionalwahl hat der Front National, die DVU Frankreichs, mehr als 30 Prozent der Stimmen erhalten. Schauen Sie nach Italien! Da gibt es im Grunde keine Sozialdemokratie und keine liberale Partei. Die Democrazia Cristiana ist eine Splitterpartei, die 1 Prozent der Stimmen erhält. Dort gibt es völlig andere politische Strukturen, wobei ich nicht glaube, dass wir mit diesen Strukturen glücklicher wären.

   Deshalb ist es höchste Zeit. Was zu tun ist, wissen wir. Dies steht jedes Jahr im Gutachten des Sachverständigenrats. Es ist in Veröffentlichungen der Bundesbank und des IWF nachlesbar. Die Europäische Kommission mahnt Deutschland, endlich glaubwürdige, mit Prinzipien und Charakter versehene Reformen durchzuziehen. Warum tun wir das nicht? Warum verharren wir vordergründig bei Detailpunkten, während das Land weiter vor sich hindümpelt? 6 Millionen Arbeitslose sind 6 Millionen Schicksale, die nach Veränderung schreien.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Ludwig Stiegler von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ludwig Stiegler (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie alle Jahre wieder: Herr Brüderle bläst Trübsal und lässt die Welt untergehen. Herr Merz teufelt schneidig aus dem Handtäschchen von Frau Merkel,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

und zwar mit herzlich wenig Kenntnissen versehen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Und was kommt jetzt?)

   Alle seine Prognosen sind am unteren Rand. Er nimmt nicht zur Kenntnis, was die Fachleute sagen, weil er ansonsten nicht mehr anklagen könnte. Er ist ein gelehriger Schüler von Franz Josef Strauß: nur anklagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was er zum Export erzählt, ist Unsinn. Wir haben mit der internationalen Arbeitsteilung in der Wertschöpfungskette der Exportindustrien Erfolg gehabt. Wir haben mehr Arbeitsplätze als vorher, auch wenn die eine oder andere Arbeitsteilung notwendig war und notwendig bleiben wird.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Mehr als wann?)

   Man sollte zumindest die Zahlen zur Kenntnis nehmen und man sollte froh sein, dass Deutschland in der Welt von morgen und insbesondere in einer Zeit, in der sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft in Richtung Asien bewegt, eine starke Exportnation ist und bleibt. Wir sollten alles dafür tun, dass wir an dieser Stelle stark bleiben, und sollten uns nicht mit Mäkeleien aufhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Was Herr Merz über die PSA sagt, ist pure Mäkelei.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Aber wahr!)

Was er über die IchAGisten sagt, ist im Grunde völlig daneben. Noch nicht einmal ein Jahr wirkt das Instrument und schon weiß Herr Merz, dass nur 10 Prozent überleben.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Es sind ja schon 30 000 pleite! – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Das sind die Fakten! Zahlen lesen!)

Sie plaudern nur die Dampfplaudereien von Herrn Philipp nach. Dieser will keine Ich-AGs. Sie wollten die Ich-AGisten von vornherein nicht haben. Darum mussten Sie sie schon von vornherein zum Untergang verurteilen.

   Herr Clement geht den richtigen Weg. Wir unterstützen die Ich-Ags jetzt mit Qualifizierungen und mit Businessplänen. Wir sollten den Menschen Mut machen und nicht sagen; jeder Zehnte wird scheitern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Besonders unsinnig waren die Bemerkungen zum Jobfloater. Es hörte sich an, als hätten wir Geld in einer Zeit weggegeben, in der die Kreditwirtschaft den Mittelstand hat verhungern lassen. In dieser Situation hat der Jobfloater der KfW dazu beigetragen, dass Investitionen wieder in Gang gekommen sind. Es waren keine Zuschüsse, sondern Kredite, mit denen Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Dafür muss sich niemand entschuldigen. Wäre Herr Merz auf der Höhe der Zeit – als Verwaltungsratsmitglied der KfW müsste er es eigentlich sein –, wüsste er, dass die Jobfloater längst in die Kategorie Unternehmerkredit weiterentwickelt worden sind und dass die KfW daraus ein wirklich Wachstum schaffendes Finanzierungsinstrument gezaubert hat. Dies alles erfolgte, wie gesagt, in einer Zeit, in der die Banken ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wo leben Sie denn?)

   Einen besonderen Pappkameraden stellen seine Anmerkungen zu Hartz IV dar. Er beklagt die fehlende Dezentralisierung, obwohl das ganze Konzept auf Dezentralisierung angelegt ist. Wir haben immer gesagt, dass im Gegensatz zu Ihrer Zeit, als Herr Stingl und andere das Sagen hatten, nicht mehr der Wasserkopf in Nürnberg alles entscheiden darf, sondern die vielen kreativen Köpfe vor Ort die notwendigen Entscheidungen treffen sollen. Schauen Sie doch wenigstens einmal ins Gesetz hinein, bevor Sie polemisieren! Es wäre dann im Hinblick auf die politische Kommunikation vielleicht leichter.

   Meine Damen und Herren, um das, was er heuchlerisch – –

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Na! Na! – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Vorsicht!)

– Vielleicht auch nicht. Ich nehme das Wort Krokodilstränen; das klingt etwas neutraler. – Hinsichtlich dessen, was er zur Ost-West-Spaltung gesagt hat, muss ich seinem Gedächtnis ebenfalls nachhelfen. All das, was momentan bestritten wird, haben die Herren Ministerpräsidenten aus den neuen Ländern kurz vor Weihnachten mit verabschiedet. Heute geht es nicht um das, wogegen sie im Juli gestimmt haben; für die Frage der kommunalen Option hat sich bei den Montagsdemonstrationen kein Mensch interessiert. Die Grundentscheidung ist mit der Zustimmung von Herrn Milbradt im Dezember gefallen. Damals hat er die 349 Millionen Euro gerne mitgenommen.

(Beifall bei der SPD – Waltraud Lehn (SPD): Alles andere ist schlicht gelogen!)

   Auch das, was Sie zum Haushalt der GA sagten, ist falsch. Meine Damen und Herren, wir haben bei der GA nachgebessert.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein!)

Dort, wo es um ein paar aktuelle Dinge am Rand geht, werden wir es auch noch hinbekommen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wo wurde denn nachgebessert?)

– Entschuldigung, es ist bei den Haushaltssperren und den Verpflichtungsermächtigungen nachgebessert worden. Inzwischen können die Länder über den größten Teil der Mittel verfügen. Jetzt geht es noch um ein Delta,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Und warum?)

weil die Baransätze für die Folgejahre mit den Verpflichtungsermächtigungen noch nicht hundertprozentig übereinstimmen. Auch dies werden wir noch hinbekommen. Das ist eine Folge der Verabredungen von Koch und Steinbrück.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Nein! Das stimmt so nicht!)

Daran, dass Mittel nicht vorhanden sind, wird jedenfalls keine Investition scheitern.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Doch! Das scheitert zurzeit schon!)

– Das werden Sie nicht erleben. Das würden Sie zwar gern beklagen; das werden Sie aber nicht erleben.

   Was der Bierdeckelexperte dann zu Steuern und Abgaben im internationalen Gefüge sagte, folgte der Methode: Ich glaube nur der Statistik, die ich selber gefälscht habe. Inzwischen habe ich mir von Karl Diller sagen lassen, dass der von Herrn Merz zitierte famose Professor auf Malta so viele Unternehmen wie in Deutschland befragt hat. Sie haben sich hier also auf ein verdammt „repräsentatives“ System bezogen. Bevor man hier über das komplexe Steuersystem in Deutschland redet, sollte man lieber über Berater reden, die die Kommunen und den Staat um ihren gerechten Anteil am Unternehmensertrag bringen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Berater, das ist ein gutes Stichwort! 500 Millionen Euro haben Sie für Berater ausgegeben!)

Unser Steuerrecht ist nur deshalb so komplex geworden, weil viele den stillen Gesellschafter Staat um seinen Anteil bringen wollen, gleichzeitig aber beklagen, dass zu wenig in Infrastruktur oder Bildung investiert werde.

   Herr Austermann, Sie mit Ihren Zahlenprognosen sind ohnehin kein guter Kronzeuge.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Es reicht ja nicht einmal für den Ortsverein!)

Herr Merz sollte sich mehr um Herrn Rüttgers kümmern. Er hätte genug damit zu tun, wenn er seinen Rückwärts- und Vergangenheitsminister nach vorne holte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Tätä! Tätä!)

   Meine Damen und Herren, niemand kann davon ablenken, dass die Erholung der Wirtschaft in Gang kommt. Niemand kann davon ablenken, dass die Exporte brummen und Marktanteile in der Weltwirtschaft errungen worden sind.

Auch wenn Sie sich noch so sehr in Ihrem Bärenstall suhlen wollen, auch wenn Ihnen der Sumpf noch so sehr gefällt, der Sonnenstrahl des Optimismus wird Ihren Sumpf des Pessimismus austrocknen. Es wird dort zunehmend ungemütlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn die deutsche Wirtschaft zu Ihrer Regierungszeit solche Rahmenbedingungen gehabt hätte, wie sie heute bestehen, hätte sie Feste gefeiert, gegen die der Tanz um das Goldene Kalb ein kleiner Event gewesen ist. Das muss man Ihnen immer wieder entgegenhalten. Noch nie waren die Steuern für die Untenehmen so niedrig wie heute. Die Lohnnebenkosten sinken und die Gesundheitsreform wirkt.

   Mit der Gesundheitsreform war das auch so eine Sache. Als wir sie mit Ihnen zusammen ausgearbeitet haben, hat sich Horst Seehofer feiern und fotografieren lassen und von der glücklichsten Nacht seines Lebens schwadroniert. Mancher hat damals gezweifelt, ob er noch nichts Anständiges erlebt hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dann ist er davongelaufen und wollte die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Jetzt hat Ulla Schmidt das Kind großgezogen, jetzt würde er sich wieder gern mit dem Töchterchen fotografieren lassen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Art und Weise kann weiß Gott nicht angehen. Die Gesundheitsreform erzielt gerade erste Wirkungen und die Arbeitsmarktreformen schaffen bei den Beteiligten neues Vertrauen in die Handlungsfähigkeit dieses Landes.

   Schauen Sie sich doch an, was wir zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und im Bereich der Schulen geleistet haben. Damit wollen wir die künftige Erwerbstätigkeit von Frauen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. Das ist eine Riesenaktion für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Wir wollen damit das Potenzial der Frauen für dieses Land voll nutzbar machen und gleichzeitig die Chancengleichheit verbessern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Schauen Sie sich an, was wir für die Kommunen tun: Die Steuerreform hat gegen Ihren Widerstand Verbesserungen für die Kommunen gebracht; 2,5 Milliarden Euro werden durch die Arbeitsmarktreform freigesetzt,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Witzbold!)

das heißt, das Handwerk kann wieder auf kommunale Investitionen bauen. Wir fordern die Innenminister der Länder von dieser Stelle aus auf: Lockert den Schuldendeckel in den Städten und Gemeinden, die noch unter Kuratel stehen. Die Steuersenkungen und die Entlastungen durch Hatz IV sind nicht beschlossen worden, um Schulden von einem Titel auf den anderen zu buchen, sondern sie sind beschlossen worden, um wieder Investitionen in den Kommunen zu finanzieren. Darüber sollten wir uns miteinander unterhalten. Hier müssen alle Chancen genutzt werden. Dann lacht auch Ernst Hinsken wieder.

(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Bei der verheerenden Politik gibt es nichts zu lachen!)

   Auch der Haushalt trägt dazu bei, und zwar in der Fassung, in der wir ihn vorgelegt haben. Wir gehen nicht vor wie Herr Stoiber, der hier mit seiner 5-Prozent-Rasenmähermethode alles durcheinander bringt, oder wie Herr Austermann, der von der Hälfte des Preises spricht. Das ist übrigens wieder typisch Union: Die einen singen das Lied „Spart!“ und die anderen singen das Lied „Gebt mehr aus!“. Das ist die reinste Kakophonie. Moderne Musik ist im Vergleich zu dem, was Sie hier aufführen, ein Ohrenschmaus. Sie müssen die Konsequenzen ziehen und deutlich machen, was Sie eigentlich wollen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Der ist ja betrunken!)

   Wollen Sie, dass der Haushalt seinen Beitrag zur Stabilisierung der Konjunktur leistet, oder möchten Sie lieber alles abwürgen? Wenn Sie Letzteres wollen, könnten die Pessimisten unter Ihnen wieder klagen. Wir werden ihnen diese Gelegenheit aber nicht geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Hören wir auf, den Aufbau Ost schlecht zu machen! Auch im Osten ist das Glas mehr als halb voll. Wenn ich die von Ihnen zu verantwortende Überhitzung der Bauwirtschaft – Sie haben durch Ihre Abschreibungsmodelle eine Fehlinvestitionswelle im Osten ausgelöst, die jetzt abebben muss – außer Acht lasse, kann ich feststellen: In der gewerblichen Wirtschaft kommt der Aufbau Ost voran und wir sollten niemandem erlauben, das mies zu machen.

   Schauen Sie nach Dresden. Was haben der Bundeswirtschaftsminister und Edelgard Bulmahn in Dresden geleistet! Wir können darauf stolz sein, dass sich die IT-Region so entwickelt hat. Bedanken Sie sich dafür, statt alles mies zu machen!

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Bei Herrn Milbradt!)

– Was heißt „Herr Milbradt“? Ohne das Geld von Edelgard Bulmahn hätte Herr Milbradt auf Demonstrationen mit dem Fähnchen hinterherlaufen, aber nicht investieren können.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das konnte überhaupt nur mit dem Geld der Bundesregierung gehen.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Geld der Steuerzahler, nicht der Bundesregierung!)

Es gehört zum Grundanstand, einen gemeinsam errungenen Erfolg auch gemeinsam zu feiern und nicht zu versuchen, die Partner zu betrügen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Aufbau Ost kommt voran. Die I-Zulage ist sichergestellt und die letzten Ungereimtheiten der Gemeinschaftsaufgabe werden so beseitigt, dass im Osten keine Investitionen verloren gehen werden.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Seit einem halben Jahr!)

– Im letzten halben Jahr ist eine Menge passiert.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nichts Gutes!)

Wir sagen den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Osten aber auch: Wir brauchen mehr Mut zur Selbstständigkeit. Wir werden den Schwerpunkt auf die Gründung neuer Unternehmen setzen müssen. Es kann keiner darauf warten, dass ihm gebratene Tauben in Form von Investitionen aus dem Westen ins Land fliegen. Wir müssen hier Hilfe zur Selbsthilfe organisieren.

   Dafür hat diese Koalition mit der Mittelstandsfinanzierung eine Menge getan.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Eine Drohung! – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Das ist ja der Höhepunkt!)

Wir haben die Steuern deutlich gesenkt. Wenn der Aufschwung kommt, kann wieder Eigenkapital aufgebaut werden.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Der Minister hat gesagt, das sei schon da!)

Die Mittelständler haben ganz erhebliche Probleme. Wir haben aber mit der Restrukturierung der Mittelstandsbank des Bundes die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Mittelstand Beteiligungskapital bekommt, ohne an die Börse gehen zu müssen, dass er in den Genuss der Mezzanininstrumente sowie der Nachrangdarlehen kommt. In diesem Herbst werden die entsprechenden Gründungsfonds, die Dachfonds, eingerichtet werden, was der Bundeswirtschaftsminister eingeleitet hat und wofür wir die steuerlichen Voraussetzungen geschaffen haben.

   Das Hauptproblem war, dass sich die hier gestern von Michael Glos so bedauerten Banken mit ihren Investmentbankern an den internationalen Börsen verspekuliert und Geld in der Größenordnung von zwei bis drei Bundeshaushalten verloren haben. Sie haben dann den Mittelstand nicht mehr mit Krediten versorgt, sodass selbst der normale Geschäftsbetrieb nicht aufrechterhalten werden konnte. Hier haben Wolfgang Clement und Hans Eichel mit der KfW dem Mittelstand mit neuen Programmen unter die Arme gegriffen und dafür bin ich dankbar.

(Beifall bei der SPD)

   Jetzt fängt selbst die Deutsche Bank an, über den Kreditkanal zu klagen, obwohl sie früher selbst zu den Schlimmsten gehört hat. Fragen Sie einmal die Mittelständler in den Flächenstaaten, wie die Bank mit ihnen umgegangen ist! – Herr Präsident, der Kollege Hinsken möchte meine Redezeit verlängern.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Stiegler, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie die Zwischenfrage zulassen wollen.

Ludwig Stiegler (SPD):

Immer.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Herr Kollege Stiegler, Sie haben eben das Hohelied des Mittelstands gesungen und darauf verwiesen, dass es gilt, Existenzen zu sichern und neue Existenzen zu schaffen. Meine Frage lautet deshalb: Worauf führen Sie es zurück, dass allein in den letzen zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland 80 000 Betriebe in Konkurs gegangen sind und diese Zahl in letzter Zeit leider wieder steigt und somit zu befürchten ist, dass es in diesem Jahr sogar einen neuen Konkursrekord in der Bundesrepublik Deutschland gibt?

Ludwig Stiegler (SPD):

Ich empfehle die Studie der Creditreform. Ihr kann man entnehmen, dass die Gründe dafür sind: 75 Prozent eigene Schuld, kein Controlling, keine Unternehmensplanung, zu einem großen Teil fehlendes Eigenkapital.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Und schlechte Politik!)

Unsere Maßnahmen zielen genau auf diese Punkte: Der Beratungsetat wird entsprechend erhöht. Es gibt auch verstärkt die Möglichkeit, Beteiligungskapital zuzuführen. Hinzu kommt, dass viele Banken in den letzten Jahren aufgrund ihrer eigenen Krise den Kredithahn zu früh zugedreht und dadurch Zehntausende von Unternehmen ruiniert haben, die eigentlich hätten überleben können. Das habe ich in meiner Region immer wieder erlebt. Jetzt, da die KfW und auch die Landesförderbanken zur Unterstützung bereit sind, gibt es wieder Überbrückungsdarlehen und auch Kredite für Sanierungen.

   Aber der Mittelstand muss sich auch Kenntnisse über moderne betriebswirtschaftliche Instrumente aneignen. Die Hosentaschenbuchhaltung hat ein Ende. Eine mittelfristige Finanzplanung gehört ebenfalls dazu. Man kann nicht immer sagen, die bösen Rahmenbedingungen hätten den Mittelstand ruiniert.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die falsche Politik der Bundesregierung!)

Gerade als Handwerksfunktionär muss man sich auch einmal an die eigene Nase fassen und fragen, wer vielleicht mit Schuld hat. Das sind nicht immer der Staat und die Rahmenbedingungen. Man muss sich fragen, ob man alles getan hat, was man heute für eine kaufmännische Unternehmensführung braucht.

(Beifall bei der SPD – Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Das ist nach dem Motto “Haltet den Dieb!”)

Meine Damen und Herren, zum Thema Beteiligung gehört auch die Mitarbeiterbeteiligung. In Zukunft werden wir Mitarbeiter in zunehmendem Maße ermutigen müssen, sich an den Unternehmen, in denen sie arbeiten, zu beteiligen. Hier besteht noch die Notwendigkeit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Mitarbeiter werden nicht dem reinen Shareholder-Value-Denken verfallen, sondern gerade in Zuliefererbetrieben und in ländlichen Regionen zur Stabilität ihrer Unternehmen beitragen. Wir haben die Weichen in Richtung Wachstum des Sozialprodukts und nicht nur in Richtung Verteilung des Sozialprodukts gestellt. Es wird eine große Aufgabe sein, nun eine neue Kultur der Selbstständigkeit zu begründen. Dazu gehören die Qualifikation und die notwendige Finanzierung.

   Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einer Branche Dank sagen, die sehr viel für unsere Arbeits– und Ausbildungsplätze tut, dem Tourismus. Sie hat in den letzten Jahren weiß Gott einen großen Beitrag geleistet Wir wünschen dem Tourismus, gerade dem Deutschlandtourismus, durch die Weltmeisterschaft Erfolge. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister, dass die Zuschüsse an die Deutsche Zentrale für Tourismus stabil geblieben sind, sodass wir den Incoming-Tourismus entsprechend fördern können.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wir haben bundesweit 2 Prozent minus!)

– Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich einen Zuwachs an Ausbildungsplätzen. Ich denke, wir werden hier auch in Zukunft vorankommen. Jedenfalls müssen wir alles dafür tun, dass diese Branche ihren Beitrag leistet.

   Zur Energiepolitik hat Wolfgang Clement alles gesagt. Aber ich warne Sie vor kurzatmigem Populismus, wenn Sie meinen, jetzt über die Unternehmen herfallen zu können. Sie kriegen die Prügel, die sie brauchen. Wer Luftballonpreiserhöhungen ankündigt und sich dann, wenn auf diese Luftballons geschossen wird, zurückzieht, der ist nicht sonderlich seriös. Grundsätzlich ist aber klar: Wir werden die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Versorgungssicherheit und stabile Netze gewährleistet sind. Ich möchte das Geschrei hören, sollte das eines Tages anders sein.

   Es zeigt sich auch angesichts der Entwicklung im Energiebereich, dass die Politik nach dem Motto „weg vom Öl“ richtig war. Herr Brüderle, Ihre Rückkehr zur Atomwirtschaft, ohne dass die Entsorgung gewährleistet ist, bleibt ein alter Irrtum. Hören Sie endlich mit Ihrer Atommeilerei auf! Wenn Sie den Dreck selbst zu sich in die Pfalz nehmen, dann können wir miteinander reden. Aber zu glauben, dass die Entsorgung in anderen Regionen stattfindet und Sie den Nutzen davon haben, das haut nicht hin.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Stagnationskrise ist überwunden. Die Innovationen kommen voran. Sie wollen zwar, wie auch Professor Sinn, Herr Milbradt und andere, Niedriglöhne einführen, aber diesen Weg gehen wir nicht mit. Nein, dieses Land soll eine hoch qualifizierte Volkswirtschaft sein und bleiben. Dazu gehören die Erneuerung der Bildungskette, die Qualifikation, der Technologietransfer und nicht zuletzt der Ausbildungspakt. Denn unsere Zukunft hängt davon ab, dass jeder junge Mensch in das Wirtschaftsleben integriert wird. Dafür schaffen wir mit Hartz IV die Voraussetzungen. Erstmalig wird jeder junge Mensch ab dem 1. Januar 2005 einen Rechtsanspruch auf eine Arbeit, eine Arbeitsgelegenheit, eine Ausbildung oder eine Qualifikation haben. Helfen Sie dabei mit! Das ist die beste Zukunftssicherung. Aber hören Sie mit Ihrem Pessimismus auf!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 20 Minuten Ludwig Stiegler haben zwar einen großen Unterhaltungswert, aber leider wenig Inhalt. Seit sechs Jahren erleben wir jedes Jahr im September dasselbe Trauerspiel:

(Ludwig Stiegler (SPD): Jetzt kommen 15 Minuten Pessimismus!)

In einer unwahrscheinlichen Dreistigkeit wird uns ein Fantasieprodukt unter die Nase gehalten, von dem wir wissen, dass es das Papier, auf dem es gedruckt ist, nicht wert ist.

(Zuruf von der SPD: Diese Aussage war dreist!)

Alle sechs Jahre legen Sie Zahlen zugrunde, die sich nicht halten lassen, und jedes Mal wissen Sie, dass Sie vor einem Haushaltsfiasko stehen. Sie bringen keinerlei Ideen, wie Sie den Haushalt wieder in die richtige Richtung lenken können, wie Sie die Staatsschulden in den Griff bekommen wollen, wie Sie die Ausgaben unter Kontrolle bekommen wollen und wie Sie wenigstens mittelfristig die Finanzen des Staates auf eine seriöse, solide und berechenbare Grundlage stellen wollen.

   Das allergrößte Defizit Ihrer Haushaltsplanung ist der Vertrauensverlust, den Sie verursachen,

(Ludwig Stiegler (SPD): Diese Rede haben Sie schon zehnmal gehalten!)

der Vertrauensverlust bei der Bevölkerung und auch bei den Unternehmen vor Ort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wissen ganz genau, dass dieser Vertrauensverlust der größte Wachstumskiller ist, den wir haben. Auch wenn Herr Eichel sich hierhin stellt und sagt, das wäre die Konsolidierung – von dieser Regierung wird keine Konsolidierung betrieben. Das zeigt die Tatsache, dass es allein 26 Milliarden Euro Mehrausgaben gegenüber 1998 gibt.

   Wenn man sich andere Länder anschaut, Irland, Spanien, Dänemark oder Finnland, stellt man fest: Diese Länder haben es geschafft, in der Krise mit dem Sparen anzufangen, und zwar mit Erfolg. Sie haben gezeigt, dass es keine Diskrepanz gibt zwischen Sparen und Wachstum. Wir haben ein anderes Problem mit dem Sparen, nämlich bei unserer Bevölkerung. Warum spart unsere Bevölkerung, warum wächst unsere Sparquote? Das ist ein Angstsparen aufgrund der Politik, die Sie praktizieren. Die Sparquote kann nicht sinken, solange die Menschen nicht wissen, wie Sie in der Zukunft für die Schulden des Staates aufkommen wollen, und solange sie das Gefühl haben, dass Sie die Zukunft ihrer Kinder verfrühstücken: mit Ihrer Schuldenmacherei, durch das Verscherbeln des letzten Tafelsilbers

(Ludwig Stiegler (SPD): Den Rekord bei den Schulden hält immer noch Theo Waigel, kein anderer!)

und durch Ihren fehlenden Sparwillen. Sie machen wirklich eine Politik nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Von Nachhaltigkeit, die Sie immer wieder anzubringen versuchen, findet man in Ihrer Politik, durch alle Ressorts hindurch, nicht das Geringste.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was schlagen Sie denn jetzt vor, zum Beispiel beim Wirtschaftswachstum?)

Unsere Situation verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Immer mehr Unternehmen verlassen fluchtartig das Land. Wieso wollen denn inzwischen 43 Prozent der Unternehmen abwandern? 2003 waren es erst 38 Prozent. Was kam denn bei der Umfrage des DIHK heraus?

Ausländische Standorte stellen also zunehmend eine echte Alternative zur heimischen Produktion ... dar.

Das ist die Realität. Das kann man doch nicht leugnen. Es ist nicht mehr wie früher, als es nur die Großindustrie war, die ins Ausland gegangen ist. Inzwischen sind es die kleinen und mittleren Betriebe, die die Flucht ergreifen, um wirtschaftlich überleben zu können.

   Deutschland ist wegen seiner Sozialbeiträge eines der teuersten, wenn nicht sogar das teuerste Produktionsland der Welt. Die Kostendifferenzen betragen bis zu 80 Prozent. Der Satz, den man früher immer im Mittelstand gesagt hat – „lebenslang Deutschland“ –, gilt schon lange nicht mehr.

   Unser Problem ist ein ganz anderes: Wir haben eine neue Art der Verlagerung. Inzwischen sind es die kapital- und wissensintensiven Unternehmensteile – Verwaltung, Forschung, Entwicklung –, die ins Ausland gehen. In der Elektrobranche, in der chemischen Industrie, im Maschinenbau wird zukünftig in Breslau und in Bratislava entwickelt, geforscht und investiert, nicht mehr in Baden-Württemberg und Berlin, wie es vorher gewesen ist. Die Folge ist, dass hier immer mehr Arbeitsplätze gestrichen werden, dass Arbeitsplätze nicht mehr hier geschaffen werden, sondern in Polen, Tschechien und Ungarn. Wir werden es erleben, dass allein dieses Jahr 50 000 neue Arbeitsplätze im Ausland geschaffen werden, und zwar von deutschen Unternehmen. Das bedeutet netto einen Beschäftigungsverlust für Deutschland. Das ist das, was uns zu denken geben sollte. Unser betonierter, überregulierter Arbeitsmarkt schafft es nicht, die verlagerten Arbeitsplätze durch neue zu ersetzen; dieses Problem müssen wir angehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Stiegler, Sie können sich hierhin stellen und nochmals das Hohelied des Exportweltmeisters bringen. Exportweltmeister kann man auch ohne Wertschöpfung sein.

(Ludwig Stiegler (SPD): Ist man aber nicht!)

Es stimmt nicht, dass die Wertschöpfung bei uns zunimmt. Nehmen Sie allein die Automobilindustrie: In der Automobilindustrie haben wir in Deutschland inzwischen nur noch eine Wertschöpfung von 20 Prozent.

(Ludwig Stiegler (SPD): Ist doch nicht wahr!)

Wir verlieren nicht nur Fertigungstiefe, wir haben auch das weitere Problem, dass hier nicht mehr so investiert wird wie früher. Inzwischen sind die Auslandsinvestitionen unserer Unternehmen genauso hoch wie die Investitionen hier in Deutschland. Wie Umfragen ergeben haben, verschieben 40 Prozent aller kleineren und mittleren Unternehmen ihre Investitionen. Zudem halten sie Investitionen in einer Höhe von 15 Prozent des Jahresumsatzes zurück. Rechnen Sie das einmal gesamtwirtschaftlich hoch! Investitionen in Höhe von 15 Prozent des Jahresumsatzes werden zurückgehalten. Das bedeutet längerfristig, dass die Wachstumsrate um 5 Prozent niedriger ausfällt. In unserer jetzigen Situation würden wir uns die Finger lecken, wenn wir eine solche Steigerung hätten. Das ganz große Problem ist: Wo sind Ihre Antworten auf diese wirklich drängenden Fragen?

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die wollen nicht antworten!)

   Herr Stiegler, um die Haushaltslöcher zu stopfen, tun Sie etwas, bei dem Ihnen das Herz bluten müsste. Unser bester Mittelstandstopf, den wir seit vielen Jahrzehnten haben, das ERP-Sondervermögen, wird für 2 Milliarden Euro cash an die KfW weggegeben, sozusagen verschenkt. Das Eigenkapital dieses Mittelstandstopfes beträgt 12,7 Milliarden Euro. Seine Bilanzsumme beläuft sich auf 32,9 Milliarden Euro. Ein solches Vorgehen ist gesetzlich eigentlich gar nicht zulässig, weil wir ein Substanzerhaltungsgebot bezüglich des ERP-Sondervermögens haben. Diese Mittel werden aber an die KfW fließen. Dadurch wird dieser Förderungstopf, der zentrale Baustein der Mittelstands- und der Existenzgründungspolitik, 2 Milliarden Euro weniger enthalten.

   Dieser Topf hat eine Erfolgsbilanz ohnegleichen: Allein seit 1949 wurden 111 Milliarden Euro zur Wirtschaftsförderung eingesetzt. Mit ihm wurden gut 8 Millionen neue Arbeitsplätze gefördert und wurde dazu beigetragen, Arbeitsplätze zu sichern. 1,7 Millionen Betriebe haben davon profitiert.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Wöhrl, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Barnett?

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Frau Barnett.

Doris Barnett (SPD):

Vielen Dank, Kollegin Wöhrl. Sie singen hier das Hohelied des Arbeitsplatzabwanderns und sagen, dass nicht abgebaut, sondern alles vernichtet wird. Ich nehme an, dass Sie die KfW nicht als einen Klickerverein, sondern als eine Institution betrachten, deren Arbeit auf fundierten Daten beruht.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie ist sehr regierungsnah!)

– Ach so, ob sie richtig oder falsch arbeitet, hängt davon ab, wer gerade an der Regierung ist. Ich verstehe.

   Wie stehen Sie zu der Aussage, die in der Septemberausgabe des „Wirtschaftsbarometers“, herausgegeben von KfW-Research, steht? Ich zitiere:

Die im Juli von der KfW-Bankengruppe geförderten Mittelständler wollen im Gefolge des finanzierten Investitionsprojekts ihre Arbeitsplatzzahl um 5,9 Prozent erhöhen, genauso viel wie im Monat zuvor.
(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die Frage ist ja, wo!)

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Gut, Sie müssen natürlich auch sagen, in welchem Bereich erhöht werden soll. Wenn Sie sich die DIHK-Umfragen, die Kammerumfragen und viele andere Umfragen anschauen, dann erkennen Sie, dass es im Moment vor allem im industriellen Bereich einen immensen Arbeitsplatzabbau gibt.

   Unser ganz großes Problem momentan ist, dass unser industrieller Bereich schrumpft, während andere Länder, die die gleichen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingen wie wir haben, ihre Industriebereiche ausbauen. Ohne die Industriebereiche werden aber auch die Dienstleistungsbereiche nicht wachsen, sodass dort keine weiteren Arbeitsplätze entstehen. Deswegen bezweifle ich die hier angeführte Aussage, dass das für alle Bereiche zutrifft.

   Der Kollege Hinsken hat vorhin die Zahl der Insolvenzen angesprochen. Diese werden in diesem Jahr auf über 40 000 wachsen. Damit ist der Verlust von Arbeitsplätzen verbunden. Daran sehen wir, dass es keinen Arbeitsplatzaufbau gibt. Wie könnte es sonst sein, dass wir innerhalb von zwei Jahren über eine Million weniger Beschäftigte haben

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Leider wahr!)

und dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten jeden Tag um 1 600 sinkt? Die Zahlen würden ja nicht stimmen, wenn in diesem Bereich ein Arbeitsplatzzuwachs gegeben wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich auf unseren Mittelstandstopf zurückkommen. Diesen Topf, der unabhängig vom Haushalt existiert und den wir immer als etwas ganz Wertvolles und Wichtiges gehütet haben, entziehen Sie dem Einfluss des Parlaments. Das Parlament kann zukünftig nicht mehr über die Programme zur Mittelstandsförderung entscheiden. Es kann nicht mehr – darüber haben wir bisher entscheiden können – den Nachteil des Mittelstands gegenüber den Großunternehmen, die von den Banken immer leichter Geld bekommen als die kleinen Unternehmen, ausgleichen, weil Sie in einem Jahr kurzfristig Ihre Haushaltslöcher stopfen wollen. Sie singen zwar immer das Hohelied des Mittelstands, aber bei den Fakten versagen Sie kolossal.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Da Sie von den Energiepreisen gesprochen haben, möchte auch ich dieses Thema aufgreifen. Der Energiepreis ist nicht irgendeine Variable der Volkswirtschaft. Er ist ein immens wichtiger Standortfaktor, mit dem unheimlich viele Arbeitsplätze verbunden sind. Es ist für mich schon erstaunlich, mit welch populistischem Pathos die Preistreiberei einiger Stromkonzerne – es sind ja nicht alle – vollkommen zu Recht angeprangert wird. Es ist wirklich unverschämt, sozusagen am Vorabend der Regulierung noch einmal richtig Kasse zu machen. Ich glaube, auch Sie, Frau Hustedt, stimmen mir da zu. Aber wäre das Wirtschaftsministerium in der Lage gewesen, die EU-Richtlinie rechtzeitig umzusetzen, nämlich bis zum 1. Juli eine Regulierungsbehörde einzurichten, wäre das gegenwärtige Vakuum gar nicht erst entstanden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler (SPD): Nur ein halbes Jahr später!)

   Noch etwas muss man sehen: Es ist schamlos, in diesem Zusammenhang den Versuch zu unternehmen, zu verschleiern, wie diese Regierung dazu beigetragen hat, dass sich die Energiepreise in den letzten sechs Jahren erhöht haben. Allein für die Kunden waren das 40 Prozent; denn 40 Prozent des Strompreises hat die Politik zu verantworten. Die 2,3 Milliarden Euro, die der Verbraucher 1998 an den Staat, nicht an die Energieversorgungsunternehmen zahlen musste, sind inzwischen auf 12,3 Milliarden Euro im letzten Jahr gestiegen. Über die Benzinpreise, bei denen über 18 Milliarden Euro über die Ökosteuer abkassiert werden, will ich überhaupt nicht reden. Es gäbe noch viele andere Beispiele. Immer nur auf den anderen zu zeigen, um nicht selbst die Verantwortung zu übernehmen, ist die falsche Politik.

   In unserem Land leben 82 Millionen Menschen, davon 26,4 Millionen Sozialversicherungspflichtige, denen über 20 Millionen Rentner gegenüberstehen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen beträgt 4,5 Millionen. Wie viele es in Wirklichkeit sind, darübear möchte ich gar nicht erst mutmaßen. Statistikänderung lässt grüßen! Das bedeutet, dass de facto jeder Beschäftigte inzwischen seinen eigenen Transferbezieher hat, den er aus seinem Arbeitseinkommen mitfinanziert. Das Missverhältnis zwischen denen, die mit ihrer Arbeit durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zum Wohlstand aktiv beitragen, und denen, die die Wertschöpfung konsumieren, wird immer größer.

   Ich habe vorhin schon angesprochen, dass bei uns die Zahl der Beschäftigten rückläufig ist, während es europaweit einen Zuwachs an Beschäftigung von 0,25 Prozent gibt. Dadurch kommen wir in die Situation, dass die Sozialbeiträge unter Druck geraten. Niemals in der deutschen Geschichte ist der Faktor Arbeit mit derart hohen gesetzlich fixierten Lohnzusatzkosten so verteuert worden wie unter Rot-Grün. Das ist ein Fakt. Auf den Jobfloater und die anderen falschen Subventionen, die auf den Weg gebracht wurden, will ich gar nicht näher eingehen. Man muss sich das bear einmal vorstellen: 72 000 Euro pro Arbeitsplatz für den Jobfloater. Ein PSA-Arbeitsplatz wird mit 38 000 Euro pro Jahr subventioniert. – Angesichts dieser Zahlen fragt man sich schon: Wird hier das Geld richtig angelegt? Wie Sie sich vorstellen können, bezweifeln wir das.

(Ludwig Stiegler (SPD): Der Jobfloater subventioniert nicht! Was für ein Unsinn!)

   Die Wahrheit ist – das wissen Sie –, dass man in unserem Land mit Ende vierzig nur sehr schwer eine Arbeit findet und dass die 1,7 Millionen Langzeitarbeitslosen von Maßnahme zu Maßnahme gereicht werden, ohne je wieder einen wettbewerbsfähigen Arbeitsplatz zu bekommen. Über 50 Milliarden Euro geben wir in diesem Land inzwischen für die Arbeitslosigkeit aus, fast die Hälfte davon für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Wöhrl, bitte.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Kein Land auf der Welt – danke, Herr Präsident – betreibt mehr aktive Arbeitsmarktpolitik als wir und kein Land ist so erfolglos wie wir. Das kann man nur damit begründen, dass von Rot-Grün bei der Arbeitsmarktpolitik und in vielen anderen Bereichen ein falscher Weg eingeschlagen worden ist. Man versucht immer, den Kuchen zu verteilen, der vorhanden ist, aber man versucht nie, den Kuchen zu vergrößern. Man geht Arbeitsmarktreformen nicht an,

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was?)

man bringt kein modernes Kündigungsschutzgesetz auf den Weg, man fördert den Niedriglohnsektor nicht –

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist ein Witz!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Wöhrl, bitte.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

– und viele andere Dinge mehr.

(Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Arbeit ist vorhanden, aber sie ist nicht bezahlbar, Herr Stiegler. Die Schattenwirtschaft mit einem Volumen von 400 Milliarden Euro spricht für sich.

   Wir haben ein Problem, wir haben eine Verunsicherung, die Menschen haben keine Hoffnung mehr. Die Hoffnung braucht Träger und die sind Sie ganz bestimmt nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler (SPD): Das musste kommen! Das kommt seit zehn Jahren! Bonjour Tristesse!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die hochverehrte Frau Wöhrl hat gerade das Wort Angstsparen gebraucht. Wenn man eine Rede wie die Ihre hört, dann kommt Angstsparen erst richtig auf.

(Zuruf von der SPD: Das ist wahr!)

Das ist doch logisch. Sie machen nichts anderes, als Ihre Redezeit mit Aussagen darüber zu füllen, wie mies und elend es in Deutschland ist.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Sie sagen jedes Mal das Gleiche, wenn Sie anfangen, Herr Kuhn!)

Wer dies an den Fernsehschirmen hört, der muss denken, er sei der letzte Idiot, wenn er überhaupt noch einen Euro ausgibt. Das ist die Wirkung Ihrer Reden. Ich bitte Sie, in einer ruhigen Minute – das müssen Sie nicht jetzt tun – darüber einmal nachzudenken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben eine Haushaltsdebatte. Dazu haben Sie auch eine Bemerkung gemacht. Darauf will ich kurz antworten. Ich habe mir die Reden gestern und vorgestern angehört, auch das, was Sie gesagt haben. Ich stelle Folgendes fest: Sie werfen der Regierung a) vor, sie gebe zu viel aus, und Sie werfen ihr b) vor, sie gebe zu wenig aus, zum Beispiel für Investitionen. Das ist ein bisschen widersprüchlich, aber Sie und auch Herr Austermann haben bislang keine Sparliste vorgelegt, auf der steht, wo die Union einsparen will. Der einzige Vorschlag ist die Einsparung von 5 Prozent nach der Rasenmähermethode von Herrn Stoiber. Ich bin mir sicher, dass niemand von Ihrer Fraktion diese Forderung in der letzten Konsequenz durchhält, weil wir sonst bei entscheidenden Zukunftsinvestitionen sparen müssten. Das heißt, Sie erheben Kritik, haben aber in diesem Parlament in keiner Weise gesagt, wie Sie das insgesamt machen wollen. Deswegen ist die Kritik billig und in der Weise auch nicht zu rechtfertigen.

(Beifall der Abg. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Herr Merz, ich will etwas zum Standort Deutschland sagen, weil Sie darauf eingegangen sind. Es ist doch völlig klar, dass wir positive Seiten haben und dass wir noch Schwächen haben. Nur in diesem Bewusstsein kann man eine vernünftige wirtschaftspolitische Debatte führen. Lasst uns zu unseren Stärken stehen und lasst uns an unseren Schwächen arbeiten!

   Ich will zwei Punkte aufgreifen, weil Frau Wöhrl gesagt hat, wir hätten keine Arbeitsmarktreform. Erstens. Frau Wöhrl, der Chefökonom der Allianz, Michael Heise, hat vor zwei Wochen in den Medien gesagt, mit diesen Reformen, die wir gerade machen, nämlich Hartz IV und den anderen Hartz-Gesetzen, würden wir die Beschäftigungsschwelle in Deutschland, die bei einem Wirtschaftswachstum von 2 Prozent liegt, auf 0,8 bis 1 Prozent senken können. Das heißt, in einiger Zeit kann es gelingen, dass wir bei viel geringerem Wachstum als in der Vergangenheit neue Jobs schaffen. Sie aber stellen sich hier frohgemut, wie Sie nun einmal sind, hin und sagen, uns fehle eine Arbeitsmarktreform. Gehen Sie doch nach München und informieren Sie sich, wie das dort gesehen wird!

   Zweitens. Lesen Sie das Augustheft der Deutsche Bank Research. Darin werden klare Prognosen für den Standort Deutschland gemacht. Danach steigen die Ausrüstungsinvestitionen im Jahr 2004 um 3 Prozent und im Jahr 2005 um 6,5 Prozent. Das heißt, wir haben bei einem entscheidenden ökonomischen Indikator, den die Ausrüstungsinvestitionen darstellen, einen Zuwachs. Die Gesamtinvestitionen inklusive Bau wachsen – so die Aussage – im Jahr 2004 um 3 Prozent und im Jahr 2005 um 4,5 Prozent. Eine weitere Zahl aus dieser Untersuchung betrifft die Lohnstückkosten, Herr Merz. Diese sind vom Jahr 2000 bis heute im EU-Raum ohne Deutschland um 9,25 Prozent gestiegen, in der Bundesrepublik im selben Zeitraum um 2,25 Prozent. Das heißt, beim entscheidenden Indikator für das produzierende Gewerbe haben wir durch die Kombination einer guten Lohnentwicklung und Produktivitätssteigerungen eine positive Entwicklung. Dieses muss man an der Stelle der Debatte auch einmal sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie versündigen sich am Standort Deutschland, wenn Sie aus politischem Kalkül heraus die Zahlen nicht zur Kenntnis nehmen wollen.

Deswegen will ich sie hier in aller Deutlichkeit nennen.

   Nachdem ich gestern Frau Merkel und andere aus der Union gehört habe, habe ich folgenden Eindruck: Sie sagen, die Reformen müssten schon sein. Sie stehen zu Hartz; denn Sie wissen genau, dass diese Reformen notwendig sind, damit in Deutschland wieder mehr Beschäftigung entsteht. Das heißt, die Reformen nehmen Sie gerne in Kauf, Sie wollen aber dafür sorgen, dass die Stimmung in Deutschland schlecht bleibt. Die Strukturreformen soll die Regierung machen und die schlechte Stimmung heizen Sie aus billigem politischen Kalkül an. Ich kann Ihnen nicht ersparen, hier ganz klar darauf hinzuweisen. Anders kann man die Doppelstrategie ja nicht erklären: Milbradt mosert in Sachsen und will am Montag demonstrieren und Sie sagen hier im Parlament, dass Hartz IV notwendig ist. Die schlechte Stimmung soll verstärkt werden. Aber das Positive, was die Regierung leistet, sacken Sie schon einmal ein; denn man kann ja vernünftigerweise nicht dagegen sein. Das ist eine doppelzüngige, scheinheilige Politik, die die Union hier macht. Sie macht diese Politik zulasten der Arbeitslosen; denn die Schlechtrederei, die Sie hier betreiben, Frau Wöhrl – Sie reden das Kaputtsparen ja herbei –, geht natürlich zulasten der Arbeitslosen. Es ist doch völlig klar, dass die Situation auf dem Binnenmarkt schlecht aussieht und dass wir sie verbessern müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Merz und Frau Wöhrl haben beide das Argument gebracht, unsere Exportstärke sei im Wesentlichen eine Basarökonomie, das heißt, wir hätten gar nicht die Wertschöpfung, die in der Bundesrepublik notwendig wäre, da wir anderswo vorproduzieren ließen. Herr Merz, die Betrachtung, die Sie da angestellt haben, ist falsch. Schauen Sie sich das in den einzelnen Branchen einmal an. Wir haben in der Automobilindustrie ganz klar und eindeutig mehr Arbeitsplätze, weil wir in Billiglohnländer vorproduzieren.

(Klaus Brandner (SPD): So ist es!)

Das können Sie jederzeit feststellen. Dass der Produktionswert und die Wertschöpfung nicht gleich laufen und dass es da eine Lücke gibt, hat ganz andere Gründe, die zum Beispiel mit Statistik zu tun haben. Da viele Betriebe in Deutschland ihre Dienstleistungskomponenten und die produktionsnahen Dienstleistungen ausgelagert haben – und zwar im Binnenmarkt –, steigt die Wertschöpfung in diesen Bereichen nicht mehr; sie steigt aber natürlich bei den ausgelagerten Firmen. Herr Merz, schauen Sie sich, ehe Sie das Argument von Herrn Sinn wiederholen, noch einmal in Ruhe an, wie sich in Deutschland die Dienstleistungen – auch die produktionsnahen Dienstleistungen – entwickelt haben. Dann kommen Sie, glaube ich, zu einem anderen Urteil. Aber Sie wollen politisch ja etwas anderes erreichen.

   Auch die Exportstärke Deutschlands – wir können sagen, das ist ein aktives Pfund unserer Wirtschaft – soll schlecht geredet werden. Ihr Argument ist natürlich: Auch die gesteigerte Wertschöpfung bei den ausgelagerten Unternehmen taugt nichts; denn sie sind ja nur vorgelagert. Da liegen Sie falsch. Noch einmal, Frau Wöhrl: In der Automobilindustrie ist es anders, in der chemischen Industrie ist es anders; bei der Elektrotechnik hat Herr Merz Recht; beim Maschinenbau hat er wiederum nicht Recht, vor allem weil der Maschinenbau mittelständisch geprägt ist und deswegen Wertschöpfung und Produktionswert nicht so auseinander laufen.

   Jetzt komme ich zum Abschluss zu der Diskussion über die Energiepolitik, die Sie aufgemacht haben. Frau Hustedt wird dazu nachher noch einiges ausführen. Ich will Ihnen nur sagen: Die Polemik von Herrn Merz, die wir gehört haben, es liege alles nur am Erneuerbare-Energien-Gesetz und an der Energiepolitik, ist wirklich Kappes. Im letzten Jahr hat die Menge des eingespeisten Stroms aus erneuerbaren Energiequellen in Deutschland nicht zugenommen. Dennoch sagt RWE, dass die Kosten steigen würden und man jetzt so unsittliche Preiserhöhungen machen müsse. Ich glaube, diese Tour zieht einfach nicht. Eine Betrachtung der Zahlen gibt das nicht her, was Sie da darstellen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Im Übrigen, Herr Merz, müssten Sie einmal erklären, warum die Ministerpräsidenten der Länder dem Erneuerbare-Energien-Gesetz im Bundesrat zugestimmt haben, oder Sie müssen den Wählerinnen und Wählern erklären, ob Sie es abschaffen wollen. Ganz konkret: Wollen Sie das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen? Dann sagen Sie es ganz deutlich! Sagen Sie dann auch den 130 000 Menschen, die in diesem Bereich seit 1998 neue Arbeitsplätze gefunden haben, dass Sie das Gesetz abschaffen möchten. Das wäre doch eine interessante Botschaft aus einer solchen Debatte: Der Großökonom Merz will 130 000 Arbeitsplätze in der Wind- und Solartechnik gefährden. Prost Mahlzeit, Herr Merz, da haben Sie eine tolle Aussage geliefert!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Merz (CDU/CSU): Sie sind ein Schwätzer! Reden Sie doch nicht so einen Quatsch daher!)

   Ich muss zum Schluss kommen und will noch darauf hinweisen, Herr Minister, dass wir, auch wenn vieles positiv läuft, mit den Befunden beim Bürokratieabbau nicht zufrieden sind. Nach der Studie der Weltbank, müssen wir uns nach meiner Überzeugung noch einmal hinsetzen und die Frage stellen, in welchen Bereichen wir zusätzlich etwas erreichen können.

Ich finde, dass wir darauf umgehend reagieren sollten. Der Masterplan ist zwar in Ordnung. Aber angesichts der jetzt vorliegenden Daten sollten wir uns erneut fragen, was wir darüber hinaus noch tun können. Herr Brüderle hat Recht: Das Ganze hat viel mit einer Föderalismusreform zu tun. Ich meine, dass es des Schweißes der Edlen wert ist, sich darum zu kümmern.

   Damit komme ich zum Schluss.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Aber jetzt ganz schnell!

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich bin eigentlich schon am Schluss, aber nicht am Ende.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.

Dirk Niebel (FDP):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Leider ist es schon Tradition geworden, dass uns hier ein Haushalt vorgelegt wird, der das Jahr nicht überstehen wird. Das gilt auch für den Haushalt des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers. Sein eigenes Institut, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, kommt in einer neuen Studie zu dem Ergebnis – Herr Clement, Sie hätten sich das heute Morgen um 6.50 Uhr ausdrucken können –: Die neuen Daten bergen auch Risiken im Hinblick auf den erwarteten Jahresdurchschnitt der Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II sowie bei den vorgegebenen Budgets für Personal, Verwaltung und Eingliederung sowie in der Kalkulation von Betreuungsschlüsseln und Pro-Kopf-Sätzen.

(Bundesminister Wolfgang Clement übergibt dem Redner ein Schriftstück)

– Das ist fein. Vielen herzlichen Dank. Das werde ich mir nachher durchlesen.

   Ihr eigenes Forschungsinstitut sagt also, dass es allein im Bereich des Arbeitslosengeldes II Risiken in Bezug auf die Anzahl der betroffenen Personen und des benötigten Personals – wir wissen, dass es eine Aufblähung der Bundesagentur für Arbeit geben wird – sowie andere Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung gibt. In diesem Jahr sind in den Bundeshaushalt 5,2 Milliarden Euro für den Bundeszuschuss eingestellt. Das wird nicht reichen, weil das Defizit schon im August 4,8 Milliarden Euro betrug. Aber Sie gehen in Ihrem Haushaltsansatz für das kommende Jahr von einem Bundeszuschuss in Höhe von 3,5 Milliarden Euro aus. Das ist nicht sonderlich realistisch, wenn wir ehrlich sind.

   Herr Clement, ich habe die Sorge, dass Ihre Ansätze im Endeffekt auch Auswirkungen auf die tatsächliche Arbeitsmarktpolitik haben. Sie haben einen Haushalt von 34,3 Milliarden Euro. Davon sind insgesamt 24,4 Milliarden Euro für die neue Grundsicherung, das Arbeitslosengeld II, vorgesehen. Ein weiterer großer Posten mit gut 1,7 Milliarden Euro sind die Steinkohlesubventionen. Wir diskutieren also in diesem Jahr – das trifft auch auf die Haushalte in den vorangegangenen Jahren zu – über einen Haushalt für Grundsicherung und Steinkohlesubventionen, aber nicht über einen Haushalt, der Impulse für neue Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum setzt und der die Chancen der Arbeitslosen verbessern hilft, wieder in Arbeit zu kommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ist der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit eigentlich viel interessanter. Er hat in diesem Jahr ein Volumen von 57 Milliarden Euro. Auf diesen Haushalt hat aber das Parlament keinen Zugriff.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Gott sei Dank!)

Er wird aufgestellt vom Vorstand – das ist Herr Weise –, festgestellt von der Selbstverwaltung – das ist Frau Engelen-Kefer – und genehmigt von der Bundesregierung. 57 Milliarden Euro! Allein der Eingliederungstitel liegt bei über 20 Milliarden Euro. Das ist fast so viel wie der gesamte Haushalt des Bundesverteidigungsministers. Trotzdem hat das deutsche Parlament keinen Zugriff. Das ist ein Skandal. Wir brauchen dringend eine Redemokratisierung der Arbeitsmarktpolitik.

(Beifall bei der FDP)

   Eine Redemokratisierung muss mit einer Dezentralisierung der Arbeitsmarktpolitik einhergehen. Wir alle wissen – das konnte man auch den Worten des Kollegen Merz entnehmen –, dass die Bundesagentur für Arbeit, die mit 90 000 Mitarbeitern versucht, 4,5 Millionen Arbeitslose zu vermitteln – das kann sie bestenfalls mehr schlecht als recht –, überfordert sein wird, wenn sie zusätzlich die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und deren Bedarfsgemeinschaften betreuen soll. Deshalb haben wir im Dezember letzten Jahres vereinbart – wir haben das trotz unserer unerfüllten Wünsche mitgetragen –, zumindest den Kommunen, die sich das zutrauen, eine Chance zum Optieren zu geben. Das haben Sie aber konterkariert, indem Sie in dem kommunalen Optionsgesetz – das hat die FDP-Bundestagsfraktion als einzige abgelehnt – dafür gesorgt haben, dass bundesweit nur 69 Kommunen überhaupt die Chance erhalten zu optieren. Statt einen Wettbewerb um die besten Vorschläge zur Integration von Langzeitarbeitslosen zwischen Bundesagentur und den kommunalen Trägern der Sozialhilfe in Gang zu setzen, haben Sie einen Wettbewerb der Kommunen untereinander um die Chance kreiert überthaupt optieren zu dürfen. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte jetzt auf Hartz IV eingehen. Nach einer Umfrage von Infratest-dimap haben sich in den letzten Tagen bundesweit 58 Prozent der Bevölkerung persönlich mit diesem Thema beschäftigt. Das ist also ein sehr virulentes Thema. Ich sage ausdrücklich: Die FDP-Bundestagsfraktion war und ist für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, weil es sinnvoll ist – das haben wir schon vor Jahren beantragt –, zwei steuerfinanzierte Transferleistungen für den gleichen Sachverhalt zusammenzulegen. Es ist auch eine Frage der Würde der Betroffenen, ob sie sich in Bezug auf ihre intimsten Daten vor zwei unterschiedlichen Behörden oder nur vor einer entkleiden müssen. Aber da hören die Gemeinsamkeiten dann auch schon auf.

   Herr Kuhn hat sich hierhin gestellt und von Doppelzüngigkeit und von Heuchelei gesprochen. Dazu möchte ich anmerken, dass er, was den sächsischen Ministerpräsidenten Milbradt angeht, Recht hat. Als wir im Vermittlungsverfahren gesagt haben: Hinzuverdienst muss sich lohnen – nach unserem Konzept sollen 50 Prozent des Hinzuverdienstes anrechnungsfrei gelassen werden –, saß er dort mit einem Taschenrechner und hat uns entgegnet: Das ist zu teuer.

   Aber auch die Grünen sind doppelzüngig und scheinheilig. Der grüne Verdi-Vorsitzende, Herr Bsirske, der sich in seiner Funktion als Aufsichtsratsmitglied der Lufthansa selbst bestreikt hat, heizt doch die Stimmung in Ostdeutschland an. Herr Ströbele geht auf Montagsdemonstrationen, die von den ehemaligen SEDKadern missbraucht werden. Das müsste einen eigentlich wirklich zur Weißglut bringen. Natürlich muss man die Ängste der Betroffenen aufnehmen. Erst jetzt lassen Sie Ihre Propagandamaschine mit 11 Millionen Euro anlaufen. Das ist viel zu spät. Man hätte viel schneller informieren müssen und man hätte viel mehr dafür sorgen müssen, dass die handwerklichen Fehler, die zu befürchten waren, nicht eintreten.

   Sie haben vorhin als letzten Punkt den Rücklauf der Anträge angesprochen. Vielleicht sind es in Ludwigshafen 40 Prozent. Sie sagten, in Leipzig seien es 4 Prozent. Nach Auskünften der Bundesagentur sind bundesweit bisher nur 10 Prozent der ausgegebenen Anträge zurückgekommen. Das bedeutet in der Konsequenz nicht nur einen Antragsstau und Verwaltungsaufwand, sondern auch, dass die EDV, die noch nicht getestet ist, nicht die nötigen Daten hat, um sie tatsächlich im Echtlauf zu prüfen. Das heißt, dass es dort weitere Gefahrenpunkte gibt.

   Wir müssen diese Reform, wenn sie denn nicht funktionieren sollte, zumindest verschieben. Denn wenn sie nicht funktioniert, werden wir die Reformbereitschaft der deutschen Bevölkerung auf Jahre hinaus verloren haben.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Niebel.

Dirk Niebel (FDP):

Das ist ein ganz großes, staatsgefährdendes Risiko. Das sollten Sie nicht eingehen, Herr Clement.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Es gab den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Dirk Niebel (FDP):

Ja, gerne, selbstverständlich. Ich wäre ja sowieso fertig gewesen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Sie waren fertig. Ich bitte Sie, nur die Frage zu beantworten und danach nicht in Ihrer Rede fortzufahren.

Dirk Niebel (FDP):

Jawohl.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Bitte schön, Frau Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Es tut mir Leid, dass wir uns nicht schon vorher verständigen konnten.

   Sie haben gerade noch einmal dargestellt, dass Sie im Prinzip für all die mit Hartz IV getroffenen Regelungen jenseits der Optionsregelung sind. Außerdem haben Sie aufgezählt, wer sich wie zu den Protesten verhält. Ein Rätsel treibt mich seit meinem letzten Besuch in Sachsen vor zwei Wochen um. Was meint Ihre Partei mit den Wahlkampfplakaten in Sachsen, auf denen der Slogan „Herz statt Hartz“ steht?

Dirk Niebel (FDP):

Das kann ich Ihnen problemlos erklären, liebe Kollegin. Ich habe eben angeführt, dass die FDP im Rahmen des Vermittlungsverfahrens, was die Möglichkeit, etwas hinzuzuverdienen, anbetrifft, der Ansicht war: 50 Prozent des Hinzuverdienstes sollten anrechnungsfrei gelassen werden, damit – wie in Sonntagsreden immer wieder gefordert – derjenige, der arbeitet, mehr in der Tasche hat, als derjenige, der nicht arbeitet.

(Beifall bei der FDP)

   Wir waren im Vermittlungsverfahren der Ansicht, dass es nicht sein kann, dass derjenige, der sein Geld ein Leben lang versoffen hat, besser dasteht, als derjenige, der Eigenvorsorge betrieben hat. Deswegen waren wir der Ansicht, dass nachweislich für die Altersvorsorge bestimmtes Kapital, zum Beispiel eine Lebensversicherung, die nach dem 60. Lebensjahr ausgezahlt wird, anrechnungsfrei bleiben muss.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nebel statt Niebel!)

Herr Kuhn, Sie waren beim Vermittlungsverfahren leider nicht dabei; deswegen können Sie das nicht wissen.

   Wir waren der Ansicht, dass es sinnvoll ist, für die Ausbildung der Kinder vorzusorgen, und dass die entsprechenden Freibeträge deswegen höher sein müssen. Wir waren diejenigen, die mit Herzblut dafür gekämpft haben, den Menschen die Möglichkeit zu geben, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Leider hatten wir im Vermittlungsverfahren nur eine Stimme. Das reicht manchmal nicht.

   Aber vom Grundsatz her ist diese Reform richtig und notwendig. Alle die, die Panikmache betreiben, verhalten sich staatspolitisch in höchstem Maße gefährlich. Das gilt ganz besonders für die PDS, für die NPD und für die anderen Splittergruppen, die versuchen, die Ängste der Menschen in Ostdeutschland zu instrumentalisieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Tenor der Reden der Opposition und die Konjunkturentwicklung stehen aus meiner Sicht in diametralem Widerspruch.

   Beispiel eins: Sie klagen über die fehlende Wirtschaftsdynamik. Die Realität: Gestern hat das Institut für Weltwirtschaft seine Wachstumsprognose für dieses Jahr auf 1,9 Prozent angehoben.

(Rainer Brüderle (FDP): Falsch! Gesenkt haben sie sie!)

Beispiel zwei: Herr Glos jammert über den Ausverkauf der deutschen Wirtschaft und über die Standortverlagerung deutscher Unternehmen. Die Realität: Die Direktinvestitionen nach Deutschland waren in 2002 netto mit gut 29 Milliarden Euro und im letzten Jahr mit gut 9 Milliarden Euro im positiven Bereich. Das heißt, das ausländische Kapital kommt nach Deutschland. Dahinter steht auch: Das Ausland nimmt wahr, dass Deutschland auf Modernisierungskurs ist. Dafür steht diese Bundesregierung. Dafür steht diese Koalition. Miesmache, meine Damen und Herren, schadet dem Land. Verunsicherung hemmt die Kauflust der Menschen. Sie dürfen ruhig fröhlicher und mit größerer Zuversicht durch das Land ziehen. Damit helfen Sie den Menschen mehr als mit Ihrer dauernden Miesmacherei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brüderle?

Klaus Brandner (SPD):

Bitte, Herr Brüderle.

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Kollege Brandner, können Sie mir darin zustimmen, dass Ihnen ein Fehler unterlaufen ist? Das Kieler Institut hat seine Wachstumsprognose, wie ich vorhin ausführte, von 1,9 Prozent auf 1,2 Prozent zurückgenommen. Wenn Sie mir das nicht glauben: Ich habe einen schriftlichen Beleg dabei.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für 2005 oder 2004?)

Klaus Brandner (SPD):

Herr Brüderle, die Institute insgesamt – nicht nur das Kieler Institut – haben die Wachstumsprognosen in den letzten Wochen und Monaten eher angehoben als nach unten korrigiert.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Was ist mit dem Jahr 2005, für das wir den Haushalt beraten?)

Insofern ist in diesem Land mehr Zuversicht angesagt. Darauf sollten wir auch bauen.

   Ich finde es wichtig, dass eine Partei wie Ihre, die sich als wirtschaftsnah versteht, dabei mithilft, nicht nur positive Stimmung in diesem Land zu verbreiten, sondern auch die positiven Fakten zu nennen, weil das am ehesten dazu beiträgt, dass sich die Wirtschaft positiv entwickelt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das wurde für das Jahr 2005 gesagt! Das ist eine objektive Tatsache!)

Zur Verunsicherung haben wir aus meiner Sicht keinen Grund.

   Es ist bedauerlich, dass insbesondere führende Persönlichkeiten der CDU/CSU massenhaft zur Verunsicherung in diesem Land beitragen. Herr Milbradt ist mehrfach erwähnt worden. Erst stimmt er dem Hartz-Gesetz zu, wie wir alle wissen, dann will er von alledem nichts mehr wissen und dann lässt er auch noch offen – um das klar zu sagen –, ob er Arm in Arm mit der PDS und der NPD, mit den Populisten also, bei den so genannten Montagsdemonstrationen mitmacht.

(Klaus Brähmig (CDU/CSU): So ein Quatsch!)

Das zeigt nur, wie Verantwortungslosigkeit und böse Stimmungsmache zusammenkommen. Das ist etwas, was wir aufs Schärfste verurteilen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Klaus Brandner (SPD):

Bitte.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich würde sagen: Das sollte ein bisschen zurückhaltender geschehen. Der Kollege kommt gar nicht zu seiner Rede. – Bitte, Herr Kollege Bergner.

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Herr Kollege, da Sie so auf den Kollegen Milbradt schimpfen und auf seine angebliche Bereitschaft, bei den Demonstrationen mitzulaufen, fragen ich Sie: Wie beurteilen Sie es eigentlich, dass bei der so genannten Montagsdemonstration in Halle in der letzten Woche Ottmar Schreiner Chefredner war, dass das, was er gesagt hat, keinesfalls eine Loyalitätsadresse an Ihre Politik gewesen ist und dass diese Montagsdemonstration maßgeblich von einem Hallenser Sozialdemokraten organisiert wird? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass Sie erst einmal vor der eigenen Tür kehren sollten, ehe Sie ostdeutsche Ministerpräsidenten kritisieren?

(Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Lehn (SPD): Das ist aber ein Unterschied, ob jemand Privatperson oder Ministerpräsident ist!)

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrter Herr Abgeordneter, meine Kritik richtet sich in allererster Linie an diejenigen, die in diesem Land zur Unglaubwürdigkeit und zur Verunsicherung dadurch beitragen, dass sie in ihrem Auftreten nicht ehrenhaft sind. Gerade Herr Milbradt als Person

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sagen Sie doch was zu Schreiner!)

hat im Vermittlungsausschuss, im Bundesrat offensivst ständig Verschärfungen der Hartz-Gesetze verlangt. Er konnte an Schärfe kaum überboten werden. Dass sich diese Person, die in Ihren Reihen durchgesetzt hat, dass erhebliche Verschärfungen eingefordert worden sind, anschließend auf die Seite der Protestler schlägt und sagt, mit denen könne sie gemeinsam gegen die Politik der Bundesregierung demonstrieren, ist etwas, was ich verurteile und was ich als nicht charakterfest bezeichne.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Schreiner – um es deutlich zu sagen – hat immer gegen die Hartz-Gesetze gestimmt. Er ist offen aufgetreten. Wir sind eine demokratische Partei. Wir als SPD stehen mit großer Mehrheit geschlossen hinter dem Reformkurs. Diese Unterscheidung will ich ganz deutlich machen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Milbradt hat auch nicht für Hartz IV gestimmt!)

– Herr Milbradt hat den Hartz-Gesetzen zugestimmt, lieber Abgeordneter Kampeter. Im Dezember hat Herr Milbradt im Bundesrat den Gesetzen zugestimmt. Wir haben im Juli dieses Jahres nichts anderes mehr beschlossen, als im Rahmen der Experimentierklausel die Optionsmöglichkeit zuzulassen. Dem – um das ganz deutlich zu sagen – hat Herr Milbradt nicht zugestimmt. Insofern bitte ich hier einfach um Ehrlichkeit und Klarheit. Darum ging es mir. Das musste hier einmal gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Jetzt möchte auch noch der Kollege Laumann eine Zwischenfrage stellen.

Klaus Brandner (SPD):

Mit Blick auf die Uhr denke ich, dass mit Zwischenfragen jetzt einmal Schluss sein sollte.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Eben dies wollte auch ich sagen. Ich werde auch keine weitere Zwischenfrage außer dieser mehr zulassen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Einmal noch!)

Klaus Brandner (SPD):

Na gut.

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Kollege Brandner, auch Sie haben ja jetzt in Ihrer Rede wieder erwähnt, Milbradt und andere von der Union – das ist ja zurzeit eine durchgehende Argumentation bei Ihnen –

(Klaus Brandner (SPD): Das sind Fakten!)

hätten Verschärfungen im Vergleich zu Ihren Vorstellungen in das Gesetz gebracht.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie war das denn mit der Zumutbarkeit?)

Deshalb möchte ich folgende Fragen stellen:

   Ist es richtig, dass Rot-Grün bei Hartz I beschlossen hat, den Freibetrag an Geldvermögen, den Arbeitslosenhilfebezieher behalten dürfen, von 500 auf 200 Euro pro Lebensjahr herabzusetzen?

   Ist es richtig, dass die B-Länder und unsere Fraktion schon damals sehr stark dafür geworben haben, nicht Lebensalter, sondern Beschäftigungsjahre zu zählen, und dass wir entsprechende Anträge in den entsprechenden Ausschüssen des Deutschen Bundestages vorgelegt haben, wodurch höhere Vermögen hätten behalten werden dürfen?

   Ist es richtig, dass die von Ihnen gewählte Lösung dazu führt, dass ein 55-Jähriger, der mit 44 Jahren nach Deutschland gekommen ist, neun Jahre lang in einem Beschäftigungsverhältnis stand und jetzt arbeitslos wird, 18 Monate Arbeitslosengeld beziehen kann und ihm der höhere Vermögensfreibetrag für Ältere – Sie haben ihn ja zur Schonung des Vermögens Älterer eingeführt – zugestanden wird, während ein Mensch, der mit 14 Jahren in die Lehre gegangen ist, 31 Jahre lang Beiträge und Steuern gezahlt hat, diesen Schutz bei Ihnen nicht hat?

   Nachdem Sie die entsprechenden Anträge von uns, in denen das geändert werden sollte, niedergestimmt haben, sollten Sie ein wenig vorsichtiger argumentieren und nicht pauschal behaupten, wir hätten alles verschärft. Richtig ist – dazu stehen wir auch –, dass wir bezüglich der Zumutbarkeitsregelungen einen Vorschlag aufgenommen haben, der aus dem Ministerium von Herrn Clement kam. Nachdem er von Ihrer Fraktion verwässert worden war, haben wir da den ursprünglichen Zustand wieder hergestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Klaus Brandner (SPD):

Kollege Laumann, Sie brauchen gar nicht so laut zu sprechen. Wir können jedes Argument Stück für Stück zusammen durchgehen.

   Das Erste ist, dass wir im Rahmen der Arbeitsmarktgesetze, nicht erst jetzt im Zusammenhang mit Hartz III und Hartz IV, sondern viel früher, die Freibetragsgrenze für Arbeitslosenhilfebezieher von 520, nicht 500 Euro pro Lebensjahr auf 200 Euro gesenkt haben. Zusätzlich haben wir, ohne dass es einen entsprechenden Antrag von Ihrer Seite gab, einen Vermögensfreibetrag von 200 Euro für die Altersversorgung eingeführt. Sie werden kein Beispiel anführen können, wo Sie in Ihren Anträgen höhere Freibeträge für die Betroffenen gefordert haben, als diese rot-grüne Koalition schließlich durchgesetzt hat. Ich sage ganz klar: Wir sind bereit, hierfür jederzeit den Beweis anzutreten.

   Zwischenzeitlich haben wir dadurch – und das wissen Sie –, dass auch für jedes Kind ein Freibetrag in Höhe von 4 100 Euro angerechnet wird, einen riesigen Freibetrag vorgesehen, den Sie sich selbst in Ihren besten Zeiten nicht erträumt hätten. Sie können sich dieser Leistung nicht rühmen, weil wir die Vermögensfreibeträge in dieser Größenordnung organisiert haben. Sie können, wenn Sie übers Land ziehen, den Menschen nicht einen einzigen verlässlichen Beleg vorzeigen, aus dem hervorgeht, dass Sie diejenigen gewesen wären, die das Schonvermögen vergrößert hätten. Sie haben es reduziert, Sie haben es gekürzt und im Kern gefordert, dass im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe das Sozialhilferecht auf beide Gruppen, sowohl auf die Arbeitslosenhilfebezieher als auch auf die Sozialhilfebezieher, angewendet wird.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Senkung der Regelleistungen! – Dirk Niebel (FDP): Ihr Kanzler wollte das!)

Genau das bedeutet, dass es für Kinder nur einen Freibetrag von 256 Euro und für den Ehepartner nur einen Freibetrag von 680 Euro und für den Haushaltsvorstand einen Freibetrag von 1 556 Euro geben würde.

   Der zweite Punkt, den Sie angesprochen haben, war die Dauer der Versicherungsleistungen. Sie geben mir damit die Gelegenheit, deutlich zu machen, dass es sich hierbei um zwei Systeme handelt. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung besteht ein Versicherungssystem, wobei letztlich die Versicherung für einen bestimmten Zeitraum ein Risiko abdeckt.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Richtig!)

In den Debatten der Vergangenheit haben Sie gesagt, man müsste für die Dauer der Abdeckung dieses Risikos vielleicht einmal andere Bemessungsgrundlagen einführen, also längere Versicherungszeiten anders bewerten. Ihre Parteivorsitzende hat auf die Rede des Bundeskanzlers am 14. März letzten Jahres gesagt: Wir sind bereit, den Versicherungszeitraum auf ein Jahr festzulegen, nicht mehr. Im Gegensatz dazu hat die Koalition einen besseren Vorschlag gemacht und eine Abstufung zwischen zwölf und 18 Monaten vorgenommen.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sie kennen doch unsere Anträge!)

   Dann zu dem, was Sie zur Ausdehnung der Versicherungsleistungen gesagt haben. Die Versicherungsleistungen waren ja wohl keine Wohltat, sondern Sie wollten damit seinerzeit arbeitsmarktpolitisch korrigierend eingreifen und verhindern, dass von der IG Metall die Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt wird und die Vorruhestandsregelung zulasten der Versichertengemeinschaft erfolgt. Das haben Sie unterstellt. Sie haben damit den Prozess ausgelöst, dass in Deutschland massenhaft Frühverrentungen auf Kosten der Versichertengemeinschaft durchgeführt worden sind.

   Ich dachte, wir wären einvernehmlich zu dem Ergebnis gekommen, diese Fehlsteuerung gemeinsam zu beenden. Das würde im Übrigen ein Stück weit das Vertrauen in diesem Land fördern. Es wäre anständig gewesen, wenn wir uns darauf gemeinsam verständigt hätten, eine erkannte Fehlsteuerung, die so nicht mehr finanzierbar und arbeitsmarktpolitisch so nicht gewollt war, zu durchbrechen.

   Man kann sagen, was man will; es ist einfach so, dass sich die Opposition einen schlanken Fuß machen will. Herr Rüttgers ruft: Verschiebung um ein Jahr! Generalrevision! Ihr CDA-Bundesvorsitzender fordert einen Vermögensanrechnungsfreibetrag von 1 000 Euro pro Lebensjahr. Ich habe mich gefragt: Wann haben Sie das jemals hier im Parlament beantragt? Herr Merz will den Kündigungsschutz im Prinzip völlig abschaffen. Kollege Laumann sagt, über den Kündigungsschutz könne man mit ihm reden, ebenso über das Schleifenlassen der betrieblichen Bündnisse und der Tarifautonomie. In diesen Fragen ist man sich recht nahe, bei manchen Dingen im sozialpolitischen Bereich nicht. Ich sage an diesem Punkt gern, dass der Kollege Karl-Josef Laumann bezüglich der Umsetzung von Hartz IV in der Öffentlichkeit klare Worte gefunden hat, im Unterschied zu dem, was er den Arbeitnehmern bei der Tarifautonomie und dem Kündigungsschutz zumuten will.

   Frau Wöhrl beklagt das mangelnde Ansparen; Kollege Kuhn hat schon etwas dazu gesagt. Wie soll denn die Wirkung aussehen, wenn dauernd verunsichert wird? Wer wird denn konsumieren, wenn eine Politik der Verunsicherung betrieben wird? Herrn Brüderle kann man in der Richtung nur Recht geben, wenn er sagt, wir müssten die Linie halten, Charakterstärke zeigen und die Reformen durchführen. Aber wenn die Opposition in der Öffentlichkeit so uneinheitlich auftritt und sich nicht mit Ruhm bekleckert, dann kann in diesem Land kein Vertrauen für den notwendigen und von den im Bundestag vertretenen Fraktionen ansonsten gemeinsam getragenen Grundkurs geweckt werden, sondern dann muss Unsicherheit entstehen.

   Unabhängig von dieser Verunsicherung – lassen Sie mich das klar sagen – ist die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland positiv. Alle wichtigen Forschungsinstitute und internationalen Organisationen haben, wie ich bereits angesprochen habe, ihre Schätzungen korrigiert; ein Wachstum von 2 Prozent ist gegebenenfalls möglich. Die positiven Indikatoren will ich, Kollege Brüderle, auch mit einigen anderen Fakten belegen.

   Der Auftragseingang der Industrie lag im Juli dieses Jahres um 3 Prozent höher als im Juni, die Industrieproduktion hatte im Juli eine Steigerung von 1,6 Prozent gegenüber Juni zu verzeichnen und auch die Einzelhandelsumsätze sind in demselben Monatsvergleich um 1,1 Prozent gestiegen. Die Informations- und Telekommunikationsindustrie als Barometer für die Investitionsattraktivität rechnet in ihrem Bereich mit einem Wachstum von 2,5 Prozent in diesem Jahr und für das nächste Jahr sogar mit einem Umsatzplus von 3,7 Prozent.

   Der Aufschwung wird in den nächsten Monaten auch neue Arbeitsplätze schaffen, wenn das Land nicht weiterhin mit solcher Wucht mit einer Verunsicherungsstrategie überzogen wird. Die Arbeitsmarktreformen – einige Vorredner haben es angesprochen – führen zu einem kräftigeren Beschäftigungszuwachs, als es früher bei einem Konjunkturaufschwung der Fall war. Alle Experten gehen davon aus, dass die Beschäftigungsschwelle deutlich sinken wird und schon bei einem geringeren Wachstum arbeitsmarktpolitische Erfolge sichtbar und zählbar gemacht werden können.

   Zu den Konjunkturrisiken gehört ohne Frage, dass die hohe Abhängigkeit von der internationalen Entwicklung und natürlich auch die von vielen angesprochenen hohen Ölpreise im Auge behalten werden müssen. Als Grund für die Ölpreisentwicklung kann man zum einen durchaus die zusätzliche Nachfrage aus China auf diesem Markt angeben. Zum anderen ist die Preisentwicklung aber auch ein Indikator für die Endlichkeit der Energien.

Im Kern ist es die Bestätigung dafür, dass wir unsere nachhaltige Energiepolitik zugunsten der erneuerbaren Energien und zugunsten des Einsparens von Energie fortsetzen müssen. Wir müssen vorsorgen. Die Ölpreiserhöhungen sind zum großen Teil spekulativer Natur. Insofern ist es richtig, dass wir auf größere Unabhängigkeit in diesem Bereich setzen.

   Ich will an dieser Stelle ganz klar sagen: Es ist unverständlich, dass die großen Energieunternehmen in dieser labilen Situation unverfroren Energiepreiserhöhungen ankündigen. Auch Energieoligopolisten tragen eine Verantwortung für die Konjunktur. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Aktivitäten des Bundeskartellamtes in dieser Angelegenheit.

   Der Standort Deutschland ist nicht so schlecht, wie ihn so mancher Oppositionspolitiker, auch in der Haushaltsdebatte, darstellt.

(Zuruf des Abg. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU))

– Ich möchte über die 16 Jahre Ihrer Regierungszeit kein Referat halten. Ich will nur sagen, dass es wirklich keine glanzvollen Ergebnisse gab.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genau das erleben wir jetzt von Unionspolitikern: Anstatt zu helfen, gemeinsam den notwendigen Kurs einzuschlagen – nämlich mehr Spielräume für Innovationen zu erreichen –, wird die alte Leier angestimmt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Zuwächse im Export zeigen die hohe Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit. Es ist im Übrigen unsere tiefe Überzeugung, dass eine bessere Wettbewerbsfähigkeit nicht durch einen Lohnsenkungswettbewerb und durch einen radikalen Abbau der Arbeitnehmerrechte zu erreichen ist. Der Umbau wird am ehesten gelingen, wenn sich das Investitionsklima noch weiter verbessert, wenn es mehr öffentliche Investitionen gibt und wenn mehr Effizienz auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten erreicht wird. Für mich ist klar: Deutschlands Stärke ist die Innovationskraft. Damit das so bleibt, müssen wir bessere Produkte herstellen, effizientere Produktionsverfahren entwickeln und eine schnellere Umsetzung von Forschungsergebnissen in den Unternehmen erreichen.

   Mehr Investitionen – das ist ein weiterer Punkt – fehlen uns gerade im Bereich der Kommunen. Durch Hartz IV eröffnen wir den Kommunen größere finanzielle Spielräume. Durch die Anhebung der Gewerbesteuerumlage wird die Finanzausstattung der Kommunen verbessert. Für den Abbau des Investitionsstaus der Kommunen müssen aber nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Urbanistik in diesem Jahrzehnt insgesamt 685 Milliarden Euro veranschlagt werden.

   Ein weiteres Stichwort ist ÖPP. Öffentlich-private Partnerschaften sind sicherlich eine gute Möglichkeit, zusätzliche Investitionen auf kommunaler Ebene schneller durchzuführen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Internationale Erfahrungen bestätigen: Mit ÖPP können öffentliche Leistungen früher, schneller und kostengünstiger bereitgestellt werden. Deshalb ist es sinnvoll – das will ich ganz deutlich sagen –, dass der Aufbau von Kompetenznetzwerken gefördert wird, wie er beispielsweise in Nordrhein-Westfalen schon in vorbildlicher Weise erfolgt. An diesem positiven Beispiel sollte man anknüpfen und dafür sorgen, dass diese Maßnahme in der Fläche schneller umgesetzt wird und von diesem Instrument Gebrauch gemacht werden kann.

   Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Deutschland befindet sich in einem weit gehenden Modernisierungsprozess, den viele Nachbarländer schon längst hinter sich haben. Große Veränderungen verunsichern viele Menschen. Sie suchen Stabilität und glauben gern an die Versprechungen so genannter Problemlöser. Alle demokratischen Kräfte haben in diesen Monaten die Aufgabe, sachlich zu informieren. Wir müssen gemeinsam den Spaltern und Brandstiftern entgegentreten. Dies müssen wir tun, um auch die Glaubwürdigkeit der Politik zu bewahren. Das wird eine wichtige Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich nach dieser Gesundbeterei des Kollegen Brandner einige nüchterne Bemerkungen zur Haushaltslage in diesem Land mache.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es hätte mich auch gewundert, wenn Sie nicht schwarz malen würden!)

Dieser Haushaltsentwurf ist nach dem Motto aufgestellt: Nach uns die Sintflut. Normalerweise tun sich die Haushaltslöcher am Ende eines Haushaltsjahres auf. Am Anfang des Jahres werden die Haushaltslöcher versteckt. Aber noch nicht einmal dazu ist die Regierung fähig. Die Haushaltslöcher treten vielmehr offenkundig zutage; so dramatisch ist die Haushaltslage in diesem Jahr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

   Herr Minister Clement, in Ihrem Haushalt ist bereits, gesetzlich definiert, eine Lücke von 2,8 Milliarden Euro und prognostisch von 4,5 Milliarden Euro festzustellen. Darüber sind sich alle Fachleute einig. Das sind 8 bzw. 13 Prozent Ihres gesamten Haushaltes. Ich kann dazu nur sagen: Der Minister sitzt hier mit abgeschnittenen Haushaltshosen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Er hat kein Wort dazu gesagt, wie auch alle anderen von der Koalition heute kein einziges Wort dazu gesagt haben, wie sie das Problem lösen möchten. Daran erkennen wir, dass keine Kompetenz vorhanden ist. Wahrscheinlich versuchen Sie wieder, dieses Problem durch globale Minderausgaben zu lösen. Aber davor kann im Wirtschaftsförderungsbereich – da bin ich mit dem Kollegen Brüderle völlig einig – nur gewarnt werden.

   Ihre heutige Rede lässt vermuten, dass Sie, Herr Superminister, noch keine Zeit gehabt haben, die von Ihren tüchtigen Beamten zur Vorbereitung der Berichterstattergespräche verfassten Papiere zu lesen. Damit die Öffentlichkeit endlich einmal mitbekommt, wie groß der Unterschied zwischen dem ist, was in Ihrem Haus gedacht wird, und dem, was Sie uns hier erzählen, möchte ich exemplarisch den Kommentar der Beamten zu Seite 20 der Haushaltsvorlage zur globalen Minderausgabe für das Jahr 2005 vortragen. Dort heißt es, zunächst bezogen auf das Jahr 2004 – ich zitiere –:

Die Umsetzung dieser Einsparauflagen erforderte, dass zu Jahresbeginn rd. 20 % der Ansätze mit frei verfügbaren Mitteln nicht zur Bewirtschaftung übertragen werden konnten. In der Konsequenz konnten bereits veröffentlichte Förderaktivitäten nicht oder zumindest nur verspätet begonnen werden.

Es heißt weiter:

Die politische Glaubwürdigkeit insbesondere in zukunftsorientierte Programmbereiche und Mittelstand hat dadurch gelitten.

Das schreiben Ihnen Ihre Beamten auf. So ist es. Da glaubt doch niemand mehr an eine verlässliche Mittelstandspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das ist eben der Unterschied zu dem, was eine bürgerliche Regierung machen würde. Eine bürgerliche Regierung würde diese psychologische Frage anders behandeln, mit der Folge, dass dann wieder mehr Vertrauen entsteht und aus diesem Vertrauen ein Klima, in dem wieder Arbeitsplätze entstehen. Das ist der Unterschied zwischen Rot-Grün und dem bürgerlichen Lager in dieser Frage.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich zitiere weiter – jetzt wird es besonders wichtig –, was Ihre Beamten – es sind gute deutsche Beamte; die wissen, dass sie der Sache verpflichtet sind – schreiben:

Dieses Szenario wird sich 2005 möglicherweise wiederholen.

Natürlich wird es sich wiederholen! Wenn Sie schon jetzt eine Haushaltslücke in Höhe von 2,8 Milliarden Euro haben und diese nicht stopfen können, dann werden Sie diese Verunsicherung weiter betreiben, mit der Folge, dass im Mittelstand keine Arbeitsplätze entstehen. Man muss die Leute verstehen, die sich auf eine solche Politik nicht verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, die rot-grüne Regierung hat, seitdem sie im Amt ist, für Zuschüsse an die Bundesagentur und für die Arbeitslosenhilfe Schulden in Höhe von 114,3 Milliarden Euro – das ist fast eine Viertelbillion D-Mark – gemacht. Aber sie bringt noch nicht einmal die paar 100 Millionen Euro auf, die nötig sind, um eine vernünftige Mittelstandsförderung zu betreiben. Hier sieht man das Ungleichgewicht, das verändert werden muss. Wenn es verändert wird, dann tut sich auch wieder etwas zum Wohle aller – und hoffentlich vor allem in Ostdeutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Stattdessen gibt es ideologische Spielwiesen, Beraterverträge, Dialogprogramme, Aktionismus. Ich sage: So nicht!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ohne ein mittelstandsfreundliches Wirtschaftsklima wird es auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Erfolg geben. Daher werfen wir Ihnen besonders vor, dass Sie keine Perspektiven für die Menschen eröffnen. Wenn man schon von jedem Einsparungen verlangt, dann brauchen die Leute auch Perspektiven. Man muss sonst verstehen, dass sie sich aggressiv gebärden und auf die Straße gehen. Das haben Sie zu verantworten. Dabei geht es nicht um Hartz IV, sondern um die Tatsache, dass es 4,3 Millionen Arbeitslose gibt. Das und die Versprechungen, die Sie 1998 und 2002 im Französischen Dom gegeben haben, als es hieß: „Wir fahren die Arbeitslosigkeit durch Hartz zurück“, treiben die Menschen auf die Straße.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht so schreien!)

Meine Damen und Herren, ich vermute, dass man Sie ein zweites Mal in den Französischen Dom einlädt.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht so schreien!)

Bei diesem zweiten Mal werden Sie eingeladen, um Buße zu tun und sich beim deutschen Volk für Ihre Unkenntnis zu entschuldigen. Das wäre wohl das Wichtigste, was man mit Ihnen machen müsste.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie haben genug Geld gehabt, um Ihre Konzeptionen öffentlichkeitswirksam herüberzubringen. Sie haben 30 Millionen Euro für die Agenda 2010 verplempert, indem Sie an den Themen vorbei argumentiert haben. Das Volk will nicht wissen, wer der Schönste im Lande ist, sondern es will wissen, wo es sachlich entlang geht. Es will nicht, dass Sie vor lauter Aktionismus von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpern.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

– Ich muss mich ja gegen diese Oberschreier wehren. Deswegen müssen Sie verstehen, dass es auch von meiner Seite etwas lauter dröhnt.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Herr Kollege!)

   Meine Damen und Herren, Sie haben 11 Millionen Euro allein für Hartz eingeplant.

(Rainer Brüderle (FDP): Für Propaganda!)

Sie haben 42 Millionen Euro bei der Bundesagentur für Arbeit deponiert. Geld haben Sie genug. Trotzdem geschieht nichts. Das ist auch ganz klar: Die Leute können bei einer Politik, die wie ein Fass ohne Boden ist und in der alles Mögliche probiert, aber nichts Vernünftiges daraus gemacht wird, natürlich auch nicht an die Werbung glauben. Sie können nicht erwarten, dass die Menschen darauf reinfallen. Sie haben von der Schönwetterpolitik genug, die Sie auch heute wieder vorgetragen haben: Es wird alles besser! Seit ich mit Ihnen hier im Parlament zusammenarbeiten darf, erzählen Sie dieselbe Story vom lahmen Gaul. Dass diese Story nicht besser wird, muss dann wohl an Ihnen liegen. Daher sollten Sie Konsequenzen ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, einige konkrete Beispiele, warum so manches nicht läuft. Jeder weiß über den Pflegenotstand Bescheid. Sie legen kein Programm auf, mit dem Sie einmal 50 000 Pflegekräfte ausbilden. Nein, Sie halten an unwirtschaftlichen Programmen wie Jump plus fest und verstecken sie jetzt in den Sozialgesetzbüchern. So kann es nicht funktionieren. Sie müssen alles auf den ersten Arbeitsmarkt ausrichten und dürfen nicht im zweiten Arbeitsmarkt verharren. Auch dies werden wir anders machen, wenn wir wieder an der Regierung sein werden.

(Waltraud Lehn (SPD): Das wird noch lange dauern!)

   Zum Thema Vermittlungsgutscheine: Es ist doch unsinnig, dass es nicht möglich ist, dass ein Langzeitarbeitsloser durch einen Vermittlungsgutschein ins Ausland vermittelt wird. Das heißt, lieber lange Zeit arbeitslos im Lande als irgendwo draußen in Europa in Brot und Arbeit. Dies ist ein Unsinn sondergleichen, der geändert werden muss. Es muss doch unterstützt werden, wenn es jemand auf sich nimmt, im Ausland zu arbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel stellt das Betreuungspersonal im Zusammenhang mit Hartz IV dar. Gestern hat der Herr Bundeskanzler selbst ganz sang- und klanglos versucht, das Verhältnis 1 : 75, von dem in allen Papieren die Rede war, in 1 : 140 zu modifizieren. Hier geht es um 16 000 Stellen. Wir werden in den Haushaltsgesprächen ganz genau kontrollieren, was es damit auf sich hat. Hier schleicht sich eine Manipulation sondergleichen im Nachhinein in das Hartz-IV-Gesetzgebungsverfahren hinein. Wir werden nicht akzeptieren, dass Sie auf dieser Basis versuchen, sehr viel Geld für Kampagnen auszugeben, sich aber der eigentlichen Aufgabe, der Betreuung und Vermittlung der Menschen, nicht richtig widmen. Wir werden dieses Thema mit Ihnen im Haushaltsausschuss ganz ernst diskutieren; darauf können Sie sich verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wurde hier schon mehrmals gesagt, wie doppelzüngig und widersprüchlich die Politik der Opposition ist. Hartz zuzustimmen und dann auf der Straße zu polemisieren oder wie Herr Rüttgers sogar eine Generalrevision zu fordern ist in der Tat verlogen.

(Dirk Niebel (FDP): Oder wie Bsirske!)

Wenn ein Haushälter hier Sparen einfordert, aber nicht einen einzigen Vorschlag dazu macht, wie tatsächlich gespart werden kann, ist das unsolide und unlautere Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die Menschen im Land beobachten das zunehmend und auch aus diesem Grunde verschlechtern sich die Umfrageergebnisse für die CDU/CSU. Ich halte eine solche unlautere, doppelzüngige und verlogene Politik für eine riesige Gefahr; denn sie führt dazu, dass die Politikverdrossenheit größer wird, und treibt die Leute in fundamentalistische Positionen. Ich möchte Sie daher bitten, Ihre Position genau zu überdenken.

   Dieselbe doppelzüngige Politik betreiben Sie auch im Energiebereich, vor allem dann, wenn es um die hohen Energiepreise geht. Sie empören sich über die hohen Energiepreise und fordern lautstark eine stärkere Regulierung. Überraschend ist das, was hier passiert, aber nicht. Ich möchte daran erinnern, dass wir seit Jahren davor warnen, dass die Selbstverpflichtung oder die Selbstregulierung der Industrie bei der Preisfestsetzung nicht funktioniert. Deshalb fordern wir schon seit Jahren eine Wettbewerbsbehörde.

   Als die rot-grüne Regierung diesen starken Schiedsrichter am Markt beschlossen und sich an die Umsetzung der Novellierung des Gesetzes begeben hatte, war von der Opposition – von der FDP wie von der CDU/CSU – nur zu hören, dass die Selbstregulierung der Stromkonzerne doch der bessere Weg sei.

   Ich bin sehr froh, dass auch Sie inzwischen bei der rot-grünen Politik angekommen sind. Ich hoffe, dass wir im kommenden Gesetzgebungsverfahren das Gesetz noch einmal verbessern können. Tun Sie aber nicht so, als hätten Sie die Stromkonzerne an ihrem Vorgehen hindern wollen. Die rot-grüne Regierung hat bereits Konsequenzen gezogen.

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Die Konsequenzen spürt der Verbraucher!)

   Auch bezüglich der erneuerbaren Energien ist Ihre Politik doppelzüngig. Auf der einen Seite stimmen Sie im Bundesrat zu – das wurde hier bereits gesagt –, auf der anderen Seite sagt Herr Merz hier, dass die erneuerbaren Energien die Preistreiber seien. Er entschuldigt die Preiserhöhung der Stromkonzerne am Anfang des Jahres mit dem Verweis auf die erneuerbaren Energien. Das zeigt: Herr Merz ist auf einem Auge blind.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf beiden!)

   Fakt ist: Die Stromkonzerne haben im letzten Jahr mehr auf die Strompreise umgelegt, als tatsächlich eingespeist wurde. Ursache dafür war der heiße Sommer. Die Stromkonzerne hätten die Strompreise also am Anfang des Jahres mit dem Hinweis auf das EEG senken und nicht erhöhen müssen. Dass Herr Merz das Verhalten der Stromkonzerne entschuldigt, zeigt, dass er auf einem Auge blind ist. Statt die Stromkonzerne anzugreifen und sie an ihre Pflicht zu erinnern, schiebt er alles nur auf die erneuerbaren Energien. Das ist keine richtige Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Was macht Herr Stoiber? Er führt als Erstes den Ministerpräsidenten Chinas durch eine Biogasanlage, die nur gebaut werden konnte, weil ein rot-grünes Gesetz es ermöglicht hat, sie zu betreiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat es vorher schon gegeben! Die war vorher schon längst da!)

Er schmückt sich mit Lorbeeren unserer Politik, steht aber nicht dazu, dass diese Politik etwas kostet.

(Zuruf von der SPD: Man darf ihn nicht überfordern!)

Das nenne ich: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Das ist eine unsolide, eine verlogene Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die wahren Preistreiber sind die Stromkonzerne. Wir haben die höchsten Durchleitungspreise in Europa. Die Investitionen sind aber seit 1995 um 30 Prozent gesunken. Die staatlichen Auflagen – um es Ihnen ganz klar zu sagen – sind seit 2000, also seit vier Jahren, konstant geblieben. Jetzt kündigen die Stromkonzerne weitere Erhöhungen an, obwohl in den letzten drei Jahren bei allen großen Stromkonzernen wie RWE und Vattenfall die Gewinne mehr als verdoppelt wurden. Ich bin froh, dass inzwischen nicht nur bei uns, sondern bei allen Parteien angekommen ist, dass die Selbstregulierung nicht funktioniert, sondern wir einen starken Schiedsrichter am Markt brauchen.

   Wir werden in den Verhandlungen sehen, ob Ihre Ankündigungen wirklich ernst gemeint sind. Ich nehme gern die Anregung auf, über eine Form der Anreizregulierung zu sprechen. Ich finde den Vorschlag, den Herr Claassen von EnBW gemacht hat, sehr interessant. Den sollten wir uns genau anschauen. Ich möchte dann aber auch sehen, dass Sie dazu stehen und sich nicht wieder vom Acker machen, wenn es ernst wird. Ich freue mich auf die Gespräche.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt Rossmanith.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der erste Fakt ist, Frau Kollegin Hustedt, dass 40 Prozent des Energiepreises, den die Verbraucher heute zu zahlen haben, von dieser Bundesregierung aufoktroyiert wurden und daher zu verantworten sind.

(Zuruf von der SPD: Falsch!)

Der zweite Fakt ist – was hier bereits des Öfteren dargelegt wurde –, dass wir in dieser Woche einen Haushaltsentwurf in erster Lesung beraten, der von Hause aus unseriös und mit so vielen Risiken behaftet ist, dass er im Endeffekt gar nicht beratungsfähig ist.

   Ich brauche überhaupt nicht zum Beispiel auf die „Berliner Morgenpost“ zurückzugreifen, in der Graf von Hohenthal von einem „Witz“ spricht, „wenn der Bundesfinanzminister noch von seinem Konsolidierungskurs spricht“. Ich werde auch hier im Hause fündig. Die Mitberichterstatterin für das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, die Kollegin Anja Hajduk vom Bündnis 90/Die Grünen, hat gestern im „Inforadio“ zu den erwarteten Privatisierungserlösen – es sind immerhin 15 Milliarden Euro als Einnahmen eingesetzt worden – gesagt:

Die können ausfallen. Aber es ist doch wichtig, dass wir die Verfassung einhalten.
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr richtig!)
Wir legen bei diesem Haushaltsplan vor, dass wir dazu Privatisierungserlöse in einem hohen Maße brauchen.

Sie sagt also selber nicht, dass diese Erlöse erzielt werden, sondern sie sagt einfach: Die setzen wir ein, damit die Bilanz ausgeglichen ist. Dazu fällt mir nur ein: Entweder hat sie eine Anleihe am damaligen österreichischen Kaiserreich genommen, wo man in derartigen Situationen zu sagen pflegte: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“ – das ist eigentlich das, was die Kollegin zum Ausdruck gebracht hat –, oder sie wartet auf einen Deus ex Machina, der kommen soll, um diese Koalition mit ihrer Finanzmisere aus dem Untergang zu retten.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor!)

– „Vor“. Ich bedanke mich, Herr Kollege Kuhn, für diese Korrektur.

(Ute Kumpf (SPD): Von Allgäuer zu Allgäuer!)

– Es ist immer gut, wenn man hier als Allgäuer Unterstützung hat. Es wäre gut, wenn das in anderen politischen Positionen auch der Fall wäre. Aber der Kollege Kuhn ist sicherlich noch lernfähig.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich glaube, grammatikalisch geht beides.

Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):

Ich will den Versuch unternehmen, den mit circa 34,3 Milliarden Euro vorgesehen Haushaltsentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit anhand einiger Beispiele insbesondere mit Blick auf Anspruch und Realität zu durchleuchten.

   Heute wurde wieder mehrfach von der Koalition richtigerweise gesagt, welch große Bedeutung der Mittelstand für die wirtschaftliche Entwicklung hat. In der Tat sind laut neuester Statistik im mittelständischen Sektor von 1996 bis 2003 1,5 Prozent zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden, während in den Großkonzernen im gleichen Zeitraum 15 Prozent der Arbeitsplätze abgebaut wurden.

   Aber, Herr Bundesminister Clement, in diesem Haushaltsentwurf lassen Sie den Mittelstand schlicht und einfach links liegen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

Lassen Sie mich hierzu ein Faktum nennen: den Bereich „Förderung der Leistungs– und Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft sowie freier Berufe“. Auch hier beschreiben Sie in Ihren Erläuterungen die Wichtigkeit des Mittelstandes, also kleiner und mittlerer Betriebe. Aber die Fakten und Zahlen, die Sie in Ihrem Haushaltsentwurf anführen, um diese Aussage zu untermauern, sprechen eine ganz andere Sprache. Trotz Lehrstellenmisere werden die überbetrieblichen Lehrgänge im Handwerk gekürzt. Bei der Modernisierung und Ausstattung von überbetrieblichen Fortbildungseinrichtungen wird sogar drastisch gekürzt, um 7,5 Millionen Euro.

   Von der Meisterausbildung, lieber Bundesminister Clement, verabschieden Sie sich gänzlich. Ich glaube, Sie hätten gut daran getan, im Sommer einmal bei Hans Sachs nachzulesen, der schreibt: „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“ Weiter heißt es: „Ehrt eure deutschen Meister! Dann weckt ihr gute Geister.“ Aber mit diesem Haushalt, lieber Herr Bundesminister, wecken Sie keine guten, sondern sehr schlechte Geister. Denn Sie wissen, dass gerade die Meisterausbildung ein ganz wesentlicher Faktor für die Selbstständigkeit ist und dass durch sie Arbeitsplätze und Lehrstellen geschaffen werden. Aber Sie sagen: Damit will ich überhaupt nichts mehr zu tun haben.

   Im vergangenen Jahr haben Sie noch ganz groß die Außenwirtschaftsinitiative gepriesen; es wurde ja schon einiges dazu gesagt, dass wir Exportweltmeister sind. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Die Bundesregierung will die Mittel für Auslandsmessen um weitere 1,5 Millionen Euro kürzen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau das betrifft den Mittelstand!)

sodass für Auslandsmessen, die insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen – genau für diese Unternehmen, nicht etwa für die großen – eine Hilfe sind, im nächsten Jahr nur noch 34,5 Millionen Euro zur Verfügung stehen sollen.

   Ich hoffe, dass wir in der Berichterstatterrunde noch einiges hiervon korrigieren können. Denn, Herr Bundesminister, Sie wissen so gut wie ich: Allein durch die Messeförderung, also dadurch, dass kleine und mittlere Unternehmen an Messen teilnehmen können und die entsprechenden Hilfen bekommen, werden zusätzlich Exportumsätze in Höhe von 3,6 Milliarden Euro erwirtschaftet.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Richtig!)

20 000 Arbeitsplätze werden dadurch gesichert. Steuereinnahmen von über 170 Millionen Euro werden erreicht; allein für den Bund sind es über 77 Millionen Euro. Das ist ein Betrag, der doppelt so hoch ist wie Ihre Anschubhilfe. Ich muss sagen: Jeder Kaufmann, der diese Rechnung sieht, würde seinen Einsatz erhöhen und nicht absenken, damit die Steuereinnahmen noch stärker fließten.

   Auf der einen Seite lässt der Bundeskanzler der Steinkohlenindustrie – das hat er in einem Nebensatz gesagt – für den Zeitraum von 2006 bis 2012 noch einmal 16 Milliarden Euro zukommen.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Das war doch gar nicht so!)

– Doch, so war es. Er hat Sie ja nicht einmal gefragt, sondern Sie, Bundesminister Clement, haben hinterher in der Zeitung lesen können, was er dort zugesagt hat. – Auf der anderen Seite sagen Sie, dass Sie im Steinkohlebereich, dem Sie im kommenden Jahr nur noch 1,6 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, doch kürzen. Auch hier erkennt man die Unseriosität dieses Haushalts. Denn eigentlich handelt es sich um 2 Milliarden Euro, aber Sie haben gleich gesagt: Lieber Kollege Müller, die restlichen 400 Millionen Euro bekommst du erst im Januar 2006, damit unser Haushalt einigermaßen in Ordnung ist. Offiziell sind es also 1,6 Milliarden Euro, aber im „Kleingedruckten“ steht, dass im folgenden Jahr 400 Millionen Euro hinzukommen.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Vielleicht habe ich das von Herrn Kohl gelernt!)

Eines will ich am Schluss noch sagen. Der Kollege Stiegler war vorhin noch da. Entschuldigung, da ist er ja. Er hatte nur den Platz gewechselt. Er ist jetzt dahin gegangen, wohin er gehört: nach ganz links außen. Respekt und Anerkennung für diese auch nach außen hin sichtbare Standortbestimmung. Lieber Kollege Stiegler, Sie haben davon gesprochen, die Bundesregierung habe bei der Gemeinschaftsaufgabe nachgebessert.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, Sie sehen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU):

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Was unwahr ist, muss man richtig stellen. – Ich will diesem Hohen Hause und der Bevölkerung sagen, was diese Bundesregierung unter Nachbesserung versteht: Seit 1998 werden 1 Milliarde Euro weniger an Bundesleistung bereitgestellt; das sind insgesamt 2 Milliarden Euro einschließlich der Ländermittel. Von diesem Jahr, 2004, zum nächsten Jahr, 2005, werden die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe überdies um weitere 200 Millionen Euro zurückgeführt. Das sind die Fakten, und da spricht die große derzeitige Regierungsfraktion von „Nachbesserung“. Das kann nicht angehen. Hier werden wir in den Haushaltsberatungen, die vor uns liegen, den Finger auf die Wunde legen, auch wenn wir nicht alles korrigieren können. An sich müsste dieser Haushalt sofort wieder im Papierkorb verschwinden. Er ist das Papier nicht wert, auf dem er steht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Finanzminister Eichel hat vorgestern vorsichtigen Optimismus versprüht: Die Wirtschaft springe an, die Exporte boomten und vielleicht, so der Minister, gesunde alsbald auch der Binnenmarkt. Dann lobte er Hartz IV. Genau das hätte er nicht tun sollen. Denn kommt Hartz IV, dann – so haben die Wirtschafts- und Arbeitsminister aller neuen Bundesländer hochgerechnet – geht allein in den neuen Bundesländern 1 Milliarde Euro an Kaufkraft verloren. Anders gesagt: Der Binnenmarkt wird geschwächt, kleinen und mittleren Betrieben drohen Konkurse und die Arbeitslosigkeit wird eher zu– als abnehmen. Das ist ein Grund, warum die PDS Hartz IV ablehnt.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

„Hartz“ wurde mit dem Versprechen präsentiert, binnen zwei Jahren werde die Arbeitslosigkeit halbiert. Davon ist längst nicht mehr die Rede. Die jüngste Arbeitslosenstatistik sagt ohnehin etwas anderes und hinzu kommt: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist deutlich gestiegen. Zugleich ist die Zahl der Arbeitsplätze spürbar gesunken.

   Aber es geht in diesen Debatten nicht nur um Hartz IV. Sie machen eine Steuerreform, bei der Großverdiener gewinnen, und Sie machen eine Arbeitsmarktreform, bei der die Schwachen verlieren. Sie nehmen also denjenigen, die konsumieren, und Sie geben denjenigen, die spekulieren. Für die Grünen, die neue Partei der Besserverdiener, mag das ja inzwischen normal sein, aber sozialdemokratisch ist das, was Sie hier an Politik abliefern, nie und nimmer.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Die Wirkungen von Hartz betreffen übrigens alle strukturschwachen Regionen, auch die im Westen. Deshalb ist es ein schnödes Ablenkungsmanöver, wenn Hartz IV und die Proteste dagegen in einen Ost-West-Konflikt umgedeutet werden. Meine Generalthese ist vielmehr: Die Agenda 2010 insgesamt ist der Gegenentwurf zu einem modernen sozialen Rechtsstaat.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Nun ist ja viel von Populismus die Rede, auch heute wieder, und der Vorwurf wird mit Vorliebe gegen die PDS geschleudert. Ich finde das wenig souverän. Sie haben in Ihrem Wahlprogramm versprochen – ich zitiere –:

Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.

Bei den Grünen heißt es:

ArbeitslosenhilfebezieherInnen sollen nicht schlechter gestellt werden als bisher.

Deshalb behalten Sie bitte Ihre Populismusvorwürfe für sich. Übrigens keinen Deut besser sind die Ministerpräsidenten Milbradt und Böhmer: Sie suggerieren immer noch, sie hätten im Dezember gegen Hartz IV gestimmt. Etwas anderes war der Fall.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Dagegen ist der Wirtschaftsminister Clement übrigens eine ganz ehrliche Haut. Er kämpft für Hartz IV, zwar mit bitterböser Miene, aber ich finde, das ist dem Gesetz dann auch angemessen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Ein letzter Punkt. Sie – von CDU bis zu den Grünen – haben die PDS mehrfach mit der NPD in einen Topf geworfen. Ich finde, diejenigen, die das getan haben, sollten sich schämen und entschuldigen. Nicht nur, dass sie damit Antifaschisten, die der Folter im KZ knapp entronnen sind und heute in der Nähe der PDS stehen, schlimm beleidigen. Sie verharmlosen mit diesem Vorwurf auch die NPD, die mit nationalistischen und rassistischen Parolen durchs Land zieht. Ferner gefährden Sie mit dieser absurden Gleichsetzung das gesellschaftliche Bündnis gegen rechts und für Toleranz. Ich finde, so kurzsichtig darf man auch im Wahlkampf nicht denken.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Es kommt immer die Frage nach den Alternativen der PDS. Ich finde, wir brauchen Reformen, allerdings wirkliche. Erstens wollen wir eine andere Steuerpolitik, eine, die von oben nach unten umverteilt und nicht anders herum. Zweitens wollen wir eine andere Sozialpolitik, eine, die gerecht ist und solidarisch wirkt. Drittens wollen wir mehr Demokratie und keine „Basta-Politik“.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Bergner.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist auf den Tag genau zwei Monate her, dass der Bundesrat über das Kommunale Optionsgesetz zu Hartz IV entschieden hat. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten haben einheitlich gegen dieses Gesetz votiert. Ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag bei einem so akzentuierten Minderheitenvotum unserer Länderkammer die Pflicht haben, uns etwas seriöser mit den Beweggründen zu beschäftigen, als das hier mit manchem platten Populismusvorwurf geschehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Nun kann ich schlecht für Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin und ihre rot-roten Koalitionen sprechen. Frau Pau ist da möglicherweise kompetenter. Ich bin aber bereit, hier um Verständnis und Unterstützung für die Motive der CDU-Ministerpräsidenten zu werben.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Was denn nun? Dafür oder dagegen?)

   Die Ministerpräsidenten haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auch unter den sehr viel schwierigeren Bedingungen in den neuen Bundesländern richtig und notwendig ist.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Deswegen waren sie dagegen! Schwachsinn!)

Deshalb haben sie am 19. Dezember 2003 für das Grundsatzgesetz zu Hartz IV gestimmt. Das sollten Sie ihnen nicht zum Vorwurf machen.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Ja, aber!)

Sie haben dann allerdings gehofft – das habe ich auch getan –, dass es im Zusammenhang mit den Beratungen zum Kommunalen Optionsgesetz zu Lösungen kommt, in denen eine einfache Tatsache besser berücksichtigt wird, als es bisher geschehen ist, nämlich die Tatsache, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt haben,

(Arnold Vaatz (CDU/CSU): Richtig!)

   sodass man also mit Instrumenten, die im Main-Taunus-Kreis sehr leicht anwendbar sind, in den Bereichen Vorpommerns oder Ostsachsens auf Schwierigkeiten stößt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es ist aus meiner Sicht ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Bevölkerung, dass man sein Votum im Bundesrat dafür nutzt, für weitere Verbesserungen im Sinne einer Spezifizierung für Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit einzutreten. Genau darum geht es.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollten das Geld dafür!)

   Herr Minister Clement, auch wenn die Abstimmungen stattgefunden haben und Sie jetzt sagen, dass 42 Prozent der Eingliederungsmittel in den Osten kommen sollen, ist das Thema noch nicht erledigt. Denn das Grundproblem ist folgendes: Mit Hartz IV erhöhen Sie den Druck auf Langzeitarbeitslose. Dort aber, wo keine Arbeitsplätze sind, können Sie denen, auf die Sie einen verstärkten Druck ausüben, keine Option bieten. Da nützt auch die größere Zahl an Fallmanagern nichts. Dies bedeutet nichts anderes, als wollten Sie einen Nahrungsmangel durch eine höhere Zahl an Brotverkäufern beheben. Es muss darum gehen, dass an der Substanz etwas geändert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Haltung der CDU zu Hartz! Sie machen sich einen schlanken Fuß!)

   Friedrich Merz hat hier einiges zur Gemeinschaftsaufgabe gesagt. Ich möchte noch auf weitere Änderungsnotwendigkeiten hinweisen.

Sie erzeugen also Druck, für den es nur noch wenig Ausweichmöglichkeiten gibt. So wird es zu einer Flucht in die 1-Euro-Jobs kommen. Herr Minister Clement, ich sehe mit großer Sorge, wie diese Situation – ich habe versucht, sie kurz zu beschreiben – dazu führt, dass es in den neuen Bundesländern zu einem, wie ich meine, ungesunden Druck im Zusammenhang mit den so genannten 1-Euro-Jobs auf reguläre Beschäftigungsverhältnisse kommen wird. Ich kann sehr gut verstehen, wenn Vertreter privater Pflegedienste – um nur ein Beispiel zu nennen – vor dem, was jetzt auf sie zukommt, Sorgen und Befürchtungen haben. Ich kann Sie nur auffordern, im Rahmen der Monitoringgruppe und bei anderen Gelegenheiten, alle Möglichkeiten zu nutzen, damit wir möglichst viele zusätzliche arbeitsmarktkonforme Beschäftigungsverhältnisse für Langzeitarbeitslose finden. Auch auf die Gefahr hin, Widerspruch zu wecken – ich saß nicht mit im Vermittlungsausschuss, Frau Dückert –:

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Das merkt man!)

Ich bin dafür, die Zuverdienstmöglichkeiten im Niedriglohnbereich zu erweitern und zu verbessern, da Sie nicht bereit waren, die Lohnergänzungsleistungen in der geforderten Weise zu ermöglichen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Partei hat im Vermittlungsverfahren durchgesetzt, dass es so ist, wie es jetzt ist! Unglaublich!)

   Einen zweiten Punkt kann ich nur schematisch anreißen; Stichwort: 58er-Regelung. Gegenüber diesen Leuten, die Ihre Behörde, Herr Minister, überzeugt hat, dass sie der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen sollen, haben Sie Wortbruch begangen. Man muss sich etwas einfallen lassen, wie man mit dieser Bevölkerungsgruppe umgeht.

   Einen dritten Punkt kann ich leider ebenfalls nur sehr kurz anreißen. Ich kann nur mit Verwunderung vermerken, wie immer auf Einsparungen bei den Kommunen als Folge von Hartz verwiesen und gesagt wird, diese Gelder könne man für Tagesstätten und Investitionen nutzen.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Zusätzliche Zuweisungen!)

– Einschließlich der zusätzlichen Zuweisungen. Ich habe an Ihr Haus eine Anfrage über die Höhe der Einsparungen bei den Kommunen einschließlich der zusätzlichen Zuweisungen in den einzelnen Bundesländern gerichtet. Die Antwort ist ernüchternd. Daraus ergibt sich, dass hinsichtlich der Einsparungen die Stadtstaaten am besten dastehen. Die Hansestadt Bremen hat pro Einwohner eine Entlastung von 171 Euro, Hamburg von 107 Euro, der Freistaat Bayern von 5 Euro und der Freistaat Thüringen von 16 Euro.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Nennen Sie mal Berlin!)

– Berlin ist zwar ein Stadtstaat, aber ich habe keinen Anlass, für Berlin zu sprechen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie es doch mal!)

Sie werden doch eines zugeben müssen, Herr Clement: In der vorherigen Debatte haben die Redner Ihrer Fraktion diese Einsparungen als die Finanzierungsquelle für das Tagesbetreuungsausbaugesetz bezeichnet. Bei einer Verteilung der Einsparungen aufgrund von Hartz IV kommen Sie zwar bundesweit in auf eine Summe von 2,5 Milliarden Euro, zu denen Sie durch die Revisionsklausel verpflichtet sind. Die Tatsache, dass unterschiedliche Beträge in den Ländern ankommen und das Unterschiede innerhalb der Länder durch kommunale Ausgleichsgesetze ausgeglichen werden müssen, wird jedoch zu Ungerechtigkeiten führen. Das wird auch in der Zukunft nichts bringen.

   Mit der gegenwärtigen Gesetzeslage können wir die Probleme nicht lösen. Ich fordere die Bereitschaft ein, für Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit weiter um kreative Lösungen zu ringen, um zu passgenauen Konzepten zu gelangen. Genau deshalb sollte man den ostdeutschen Ministerpräsidenten keine ungerechten Vorwürfe machen, am wenigsten übrigens Herrn Milbradt, der heute von der „Wirtschaftswoche“ als „Ministerpräsident des Jahres“ ausgezeichnet wurde.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Leider! Wegen der Fluthilfegelder!)

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3674 und 15/3513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 123. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 10. September 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15123
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