essay
Mit Goethe lasst uns hoffen
Klaus Bölling über die ersten Auswirkungen des Umzugs auf die Politik
War der Mann ein Schandmaul? Nein, ein großer Deutscher war er, der heutzutage nur selten noch gelesen wird, seltener noch als Karl Marx, sein engster Freund. "Ich freue mich", schrieb Friedrich Engels vor mehr als hundert Jahren in einem Brief an Minna Kautsky, "dass es in diesem Unglücksnest endlich gelingt, Weltstadt zu werden." Sodann zitierte der Mitverfasser des "Kommunistischen Manifestes" Rahel Varnhagen: "In Berlin wird alles ruppig." Engels setzte hinzu: "So scheint Berlin der Welt zeigen zu wollen, wie ruppig eine Weltstadt sein kann. Bauen Sie das ganze Nest von oben bis unten um, dann kann vielleicht noch etwas Anständiges draus werden."
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Der alt-neue Reichstag: zeigen, dass hier springlebendige Demokratie zu Hause ist. |
Bonn ist nun gewiss etwas Anständiges gewesen. Die "Kleine Stadt in Deutschland", wie der Thriller-Autor John Le Carré die Universitätsstadt am Rhein liebenswürdig ironisiert hat, war die Wiege der Zweiten deutschen Republik. Die war und ist ein Glücksfall. Wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Willi Geiger geurteilt hat: "Unsere Verfassung ist gut: Wir hatten niemals eine bessere. Auf ihrer Grundlage haben sich politische Verhältnisse entwickelt, die so zufrieden stellend sind, dass wir von unseren Nachbarn darum beneidet werden."
Nur darf nicht verschwiegen werden, dass viele Deutsche, ob Parlamentarier wie Norbert Blüm oder Publizisten wie Marion Gräfin Dönhoff oder auch Helmut Schmidt, nach dem Beschluss des Bundestages über den Umzug an die Spree allerhand Befürchtungen gehegt haben. Sie sorgten sich, dass Parlament und Regierung nach der Wiederherstellung der nationalen Einheit womöglich vom Geist eines Neo-Wilhelmismus angesteckt werden könnten. Kenner des großen Theodor Fontane erinnerten sich seiner Beobachtung, dass Berlin eine "gewisse Schusterhaftigkeit" eigne, "die sich vor allem in dem Glauben ausspricht: ,Mutters Kloß sei der beste'", und der Romancier notierte über die Reichshauptstadt, es gebe dort "nur Nachahmung, guten Durchschnitt und respektable Mittelmäßigkeit".
Haben sich derlei Befürchtungen, die sich auf die Vergangenheit und zugleich auf den Charakter der Berliner beziehen, im neuen Jahrtausend ganz und gar verflüchtigt, oder hat sich die Politik in der nationalen Kapitale, belastet noch heute mit den Hypotheken der Geschichte, auffällig und substanziell verändert? Regiert die Regierung im Stil einer auftrumpfenden europäischen Großmacht? Präsentiert sich der Bundestag unter der schönen Kuppel des Reichstages anders, als er das im lichtdurchfluteten Parlamentsgebäude am Rhein getan hat? Gibt es Anflüge neudeutscher Selbstgefälligkeit?
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Bonner Plenargebäude: vorbildlich demokratische Architektur. |
Mit gutem Gewissen und ohne einen Hauch von Lokalpatriotismus kann der Berliner Autor die Frage verneinen. Der Umzug hat die deutsche Politik nicht merklich tangiert. Nur das Umfeld hat sich verändert, atmosphärisch jedenfalls und nicht unbedingt zum Guten. Schon in Bonner Tagen hat das Parlament den elektronischen Medien mehr Tribut gezollt, als der Sache einer von außen unbeeinflussten Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bekömmlich ist. In Berlin ist, von den Bürgern unschwer mitzuerleben, der Stil der Fernsehleute im Sinne von Friedrich Engels und Rahel Varnhagen ruppiger geworden. Fast kann man von einer gewissen Brutalisierung im Umgang mancher Presseleute mit der politischen Klasse sprechen. Eine Tendenz zum Sensationalismus macht sich breit. Die Verknappung der sachlichen Information zugunsten der journalistischen Pointe, des Knalleffektes, ist ein neues und unschönes Phänomen.
Auf die Volksvertretung bleibt das nicht ohne Wirkung. Bei Debatten des hohen Hauses ist das Niveau der Reden mitunter ohne die wünschenswerte inhaltliche Tiefe, weil auch die MdBs nach dem Zeitgeist-Motto "Wer nicht im Fernsehen ist, der ist nicht" den Schlagzeilen-Hunger der Medien zu stillen bemüht sind. Immerhin, Wolfgang Thierse, dem Hausherrn, wird von seriösen Presseleuten das Kompliment gemacht, dass er als Vorbild für die argumentative Auseinandersetzung im Bundestag zu wirken und das Gespräch mit dem geistigen Berlin zu stimulieren versuchte.
Wer von Berlin eine ganz neue Qualität der Politik erwartet hat, immer neue parlamentarische Sternstunden, sieht sich getäuscht. Der Alltag des Bundestages unterscheidet sich nicht von dem am Ufer des Rheins.
Haben sich die Abgeordneten verändert? Natürlich macht es, zumal für die Jungen unter ihnen, emotional einen Unterschied, ob sie heute den von gewaltigen Säulen geschmückten Reichstag betreten, dieses 1894 fertig gestellte Bauwerk, oder ob sie früher in der modernen Architektur von Günter Behnisch zu ihrem Platz strebten. Daran werden sich die Volksvertreter gewöhnen. Auch werden Frauen und Männer des Bundestages ertragen müssen, dass, sehr anders als am Rhein, das Parlament in einer großen Stadt wie Berlin, in der es fortwährend brodelt, in der vieles noch unfertig ist und wo sich eine metropolitane Kultur erst noch formieren muss, das Parlament nur eine wichtige Institution unter anderen ist.
Die Volksvertretung wird im Wettbewerb um das Interesse der Berliner zu zeigen haben, dass im alt-neuen Reichstag springlebendige Demokratie zu Hause ist, dass unabhängige Köpfe ans Rednerpult treten, ohne lederne Manuskripte, dass bei wichtigen Debatten über Wohl und Wehe der Nation die Bürger im Plenum nicht gähnende Leere wahrnehmen, dass die Redner Sprechblasen für die Kameras tunlichst vermeiden und dass der Streit der Parteien hart und doch mit Fairness ausgetragen wird.
Das politische Klima in Berlin ist bestimmt kühler und rauer als in Bonn. Die Aussichten sind dennoch günstig: Auch aus Berlin kann etwas "Anständiges" werden. Vielleicht werden die Abgeordneten und mit ihnen die meisten aller Deutschen eines Tages mit Johann Wolfgang von Goethe sagen: "Von Bonn und Berlin ist mir viel Gutes geworden."
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Klaus Bölling wurde 1929 in Potsdam geboren. Er war Chefredakteur des NDR, Amerika-Korrespondent der ARD, Intendant von Radio Bremen, Regierungssprecher von Bundeskanzler Helmut Schmidt und Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR. Klaus Bölling lebt jetzt als freier Publizist in Berlin.