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10/2001
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Schreibtisch

Papierstapel, die in den Himmel wachsen

Der Schreibtisch ist immer ein Original. Kaum ein Möbelstück erzählt so viel über einen Menschen wie dieses. Das trifft natürlich auch auf den Schreibtisch des Abgeordneten Winfried Hermann von Bündnis '90/Die Grünen zu.

Der Schreibtisch des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Der Schreibtisch des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Man kann sich den Abgeordneten Winfried Hermann als einen sehr nachsichtigen Lehrer vorstellen. Es ist zwar schon einige Zeit her, da er an einem Gymnasium in Stuttgart unterrichtete, aber sein heutiger Arbeitsplatz im Bundestag lässt den Schluss zu, dass er auch früher viel Einsicht in Notwendigkeiten zeigte. In aufregenden Zeiten, das wird er immer so gesehen haben, verschieben sich die Prioritäten. Kann sein, dass dann manche Arbeit in den Himmel wächst und sich in großen, größeren und richtig großen Papierstapeln manifestiert.

Der Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordnete Winfried Hermann.

Der Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordnete Winfried Hermann.

Sollte es manchen seiner Schüler mal so gegangen sein, hat Winfried Hermann vielleicht empfohlen, nicht in Panik zu verfallen, nichts aus den Augen zu verlieren und schöpferisch nach Auswegen zu suchen. Und so macht der 49-jährige Abgeordnete auch dieser Tage einen gelassenen Eindruck, als er gebeten wird, die Dinge zu erklären, die gerade auf seinem Schreibtisch liegen. Der in der Berliner Luisenstraße ist ja auch nur einer von vieren. Es gibt noch den in der Berliner Wohnung, den in der Stuttgarter Wohnung und den im Wahlkreisbüro. Keiner ist leer. Das sagt doch schon vieles und empfiehlt geradezu Gelassenheit.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen Abgeordneten-Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Vielleicht sollte man mit den Sachen beginnen, die nicht sofort ins Auge fallen. 18 Ringbücher zum Beispiel, die auf dem Schubschrank, der unterm Schreibtisch steht, liegen. Winfried Hermann schreibt alles, was erst einmal festgehalten werden muss, in diese Ringbücher. So entsteht ein fast chronologischer Nachweis dessen, was ihm so widerfährt. Der perfekten Chronologie steht Winfried Hermann selbst im Weg. Er benutzt oft mehrere Ringbücher gleichzeitig und vergisst manchmal, sich vorn auf dem Buchdeckel das Datum zu notieren, an dem er mit dem neuen Buch begonnen hat. Erfahrungsgemäß hat das allerdings wiederum den Vorteil, dass man beim Suchen auf viele Dinge stößt, die ansonsten vielleicht länger in Vergessenheit gerieten.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Die Ringbücher geben noch eine andere Auskunft: Winfried Hermann schreibt gern mit Kugelschreiber oder Füller. Das hat er schon immer getan. Als Schüler war erklärtes Ziel, möglichst schnell eine möglichst schöne Erwachsenenhandschrift zu haben. Eine Frage der Ästhetik. Winfried Hermann hat Schreibmaschinen lange ignoriert. Noch heute ist es so, dass er Texte, die viel Denkarbeit erfordern, handschriftlich fixiert. Sein Lieblingskugelschreiber befindet sich in einer grünen Brillenbox, die er immer dabei hat. Eine Brille ist auch drin. Er ist kein Ignorant. Laptop und Computer gehören zu den unabdingbaren Arbeitsmitteln. Aber handschriftlich zu notieren, Briefe zu verfassen, bleiben ihm ein Bedürfnis.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

In den vergangenen Wochen hatte der Abgeordnete Hermann eher wenig Zeit, an seinem Schreibtisch zu arbeiten. Trotzdem konnte ja zum Beispiel die Arbeit im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit nicht einfach beiseite gelegt, konnten Briefe nicht ungeöffnet liegen gelassen werden. Die anstrengenden und hektischen Zeiten manifestierten sich irgendwann auf dem Schreibtisch in der Luisenstraße.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Eigentlich ist Winfried Hermann jemand, der vor der Abreise aus Berlin in den Wahlkreis den Schreibtisch leer arbeitet. In diesen Tagen und Wochen klappt es nicht mit diesem Vorhaben. Die Papierstapel wachsen anstatt zu schrumpfen. Es gibt Altlasten, was der Abgeordnete hasst, und so passiert es, dass er sich eine mobile Telefonbox wünscht, mit integrierter Schreibfläche. Damit könnte er unterwegs schon eine Menge Dinge erledigen, die dann nicht mehr auf seinem Schreibtisch landeten. Zumal in diesen Zeiten noch eine seiner Charaktereigenschaften zum Tragen kommt, die ansonsten nicht so ins Gewicht fällt: Winfried Hermann ist ein Sammlertyp. Im Moment hofft er auf den bald anstehenden Umzug. Bei einem Umzug muss man ja sortieren und auch wegschmeißen. Aber es fällt ihm schwer, und sorgten seine Mitarbeiterinnen nicht für ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Bereich, müsste er wohl doch am Schreibtisch anbauen. So genügen noch die zu einem Turm gestapelten Ablagen links vom Schreibtisch.

Der umfangreichste Ordner auf dem Schreibtisch ist die Briefmappe, ein großer Ordner mit Register. Winfried Hermann liebt große Ordner mit Register und in unterschiedlichen Farben. Sie ermöglichen eine Unterordnung zur Ordnung – Grün für Umwelt, Blau für Verkehr, Gelb für Sport.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Aber das nützt bei der Briefmappe wenig. Sie ist und bleibt voll. Übervoll. Er bräuchte einen ganzen Tag, mindestens, um hier wieder auf den Stand zu kommen. Natürlich, es sind auch Sachen dabei, die lassen sich schnell erledigen. Manches bedarf nur der Unterschrift, manches nur einer schnellen Entscheidung – ob die Einladung angenommen werden kann oder nicht, der gewünschte Termin einzurichten ist oder verschoben werden muss.

Auf der Postmappe klebt ein Zettel, der die Dringlichkeit der enthaltenen Briefe und Schreiben in eine Reihenfolge bringt. Oft findet Winfried Hermann in der Fülle der Briefe persönliche Zeichen, begegnen ihm Menschen wieder, die er lange nicht gesehen oder gar schon fast aus den Augen verloren hat. Über diese Momente ist er erfreut, wenn ihm jemand schreibt: "Hallo, ich habe dich vorige Woche im Fernsehen gesehen. Erinnerst du dich noch, Examen in Tübingen ...? Wäre schön, wenn wir uns mal wiedersehen." Dann schreibt er einen Brief zurück, und manchmal klappt es mit dem Wiedersehen.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Detailansichten des Schreibtischs des Bündnis '90/Die Grünen-Abgeordneten Winfried Hermann.

Die anderen Papierstapel auf dem Schreibtisch sind zum großen Teil nicht weniger dringlich als die unförmig dicke Briefmappe. Auf manchen Blättern ist mit giftgelbem Marker hervorgehoben, was Sache ist. Marker sind für den Abgeordneten nach der Büroklammer so ziemlich die tollste Erfindung, seit es Büroausstattungen gibt. Er kann kein Schriftstück lesen, ohne sich zu markieren, was ihm wichtig erscheint. Das war schon immer so. Früher hat er die Zeilen und Passagen mit Bleistift unterstrichen. Er war perfekt im Ziehen von geraden Linien ohne Lineal. Auch der giftgelbe Marker zeichnet exakte Striche von links nach rechts.

Auf dem Schreibtisch von Winfried Hermann gibt es kein Foto, kein Geschenk, keine private Liebhaberei. Drei Bilder von seiner gerade vier Monate alten Tochter hängen im Büro seiner Mitarbeiterinnen an einem Schrank. Wenn allerdings die Weihnachtszeit näher rückt, verirrt sich doch manchmal ein Außenseiter auf den Schreibtisch des Abgeordneten. Dann nämlich kommen mit der Post diese wunderbaren Werbe-Adventskalender. Mit Schokolade gefüllt. Notration für hektische Zeiten. Da kann auch Winfried Hermann nicht widerstehen. Sollten die Zeiten etwas ruhiger werden, wird er es schaffen, in den nächsten Tagen ein wenig Platz dafür freizuarbeiten. Im Moment aber ist Nachsicht mit sich selbst gefordert. Zur Not müssen alle 24 Türchen des Adventskalenders gleichzeitig geöffnet und der Inhalt prompt konsumiert werden. Wenn kein Platz ist.

Kathrin Gerlof

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0110/0110081a
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