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> Parlament > Titelthema 03/05


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Langer Weg ins Plenum

Bild: Blick in den Plenarsaal
Der Plenarsaal.

Bild: Eine elektronische Tafel zeigt die Tagesordnungspunkte an
Tagesordnung digital.

Bild: Stapel mit Drucksachen
Drucksachen liegen im Plenarbereich aus.

Bild: Ein Papierstapel wird einer Maschine entnommen
Drucksachenverteilung in der Poststelle.

Bild: Christina Neunzig am Schreibtisch
Christina Neunzig.

Bild: Dokumente der Bunten Liste. Ein Blatt hat den Titel: Tagesordnung
Die „Bunte Liste“.

Bild: Ein breites Regal mit beschrifteten Fächern
Etagendienst.

Bild: Blätter werden in ein offenes Regalsystem eingeordnet
Drucksachenverteilung.

Bild: Mann in Anzug teilt Drucksachen aus
Vor einer Fraktionssitzung.

Bild: Viele geordnete Papierstapel in Reihe
Auslage vor dem Plenarsaal.

Bild: Die Parlamentarischen Geschäftsführer in Tischrunde
Sitzung der Parlamentarischen Geschäftsführer.

Bild: Blick in den Plenarsaal
Blick in den Plenarsaal.

Bild: Verschnürte Stapel mit der gedruckten Tagesordnung.
Druckfrische Tagesordnung.

Bild: Aufgeschlagene Akten
Aktenstudium.

Bild: Ein Postfach wird befüllt
Verteilung in die Postfächer der Abgeordneten.

Bild: Mit Parteinamen beschriftete PVC-Ausgangskörbe
Ausgangskörbe.

Bild: Akte mit dem Vermerk: SOFORT
In einer Fraktionssitzung.

Bis zu 30 Mal an einem Sitzungstag erfolgt der Aufruf zu einem neuen Tagesordnungspunkt, der mal als ausgiebige Debatte, mal als Beratung ohne Aussprache ausfallen kann. Hinter dem, was als Routine erscheint, steckt ein differenziertes Räderwerk, an dem viele Mitarbeiter in Parlament, Fraktionen und Verwaltung drehen. Wir blicken hinter die Kulissen: Wie entsteht eine Tagesordnung?

Freitag, 21. Januar 2005, 9.01 Uhr im Plenarsaal des Bundestages. Bundestagsvizepräsident Norbert Lammert eröffnet die 152. Sitzung des Bundestages: „Guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien – Drucksache 15/4538.“

Am Anfang steht die Nummer. Ohne Drucksachennummer ist eine Vorlage, die im Bundestag einmal auf die Tagesordnung kommen soll, gleichsam nicht existent. Egal, ob sie aus den Reihen der Fraktionen oder von der Bundesregierung kommt und vom Kanzler persönlich unterschrieben wurde. Insofern ist Frank Sobolewski, Leiter des Referats PD 1 im Bundestag, des Parlamentssekretariats, mit seinen 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine wichtige Anlaufstelle. Denn dort erblicken alle politischen Initiativen, die im Bundestag behandelt werden sollen, parlamentarisch „das Licht der Welt“.

Erst wenn die Mitarbeiter des Parlamentssekretariats eine Vorlage auf ihre geschäftsordnungsrechtliche Zulässigkeit überprüft haben (Besteht ein Initiativrecht? Liegen die nötigen Unterschriften vor? Sind eventuelle Fristen eingehalten worden? Sind die formalen Voraussetzungen erfüllt?), erhält sie eine Drucksachennummer und wird damit zum offiziellen Dokument, das nun seinen langen Weg bis zur Erledigung im Plenum antreten kann.

Dabei erlaubt das so genannte SysiVuS-System, offiziell „System zur integrierten Vorgangsverfolgung und Steuerung“ genannt, Sobolewski und seinen Mitarbeitern sowie den Fraktionen und Ausschüssen, den Beratungsstand jederzeit zu verfolgen. Was früher umständlich mit Karteikarten gehandhabt wurde, erledigt nun „SysiVuS“ präzise und sekundenschnell. Frank Sobolewski: „In diesem System geht nichts verloren; es erlaubt uns eine sekundenschnelle Recherche.“

Das Parlamentssekretariat gab unserem Beispiel, dem Antidiskriminierungsgesetz, die Drucksachennummer 15/4538. Das erfolgte am 16. Dezember 2004. Die politische Geburtsstunde der rot-grünen Gesetzesinitiative lag allerdings erheblich früher. Schon Monate zuvor war in den beiden Koalitionsfraktionen eine politische Diskussion darüber vorausgegangen, wie die in den Jahren 2000 und 2003 in der Europäischen Union verabschiedeten Antidiskriminierungsrichtlinien mit einem eigenen nationalen Gesetz zu präzisieren und umzusetzen seien. Damit der Bürger nicht nur im Verhältnis zum Staat, sondern auch innerhalb der Zivilgesellschaft vor jeglicher Diskriminierung – etwa seines Geschlechts, seines Alters, der ethnischen Herkunft, seiner sexuellen Identität oder seiner Behinderung – geschützt wird.

Als Bundestagsdrucksache Nr. 15/4538 wird der 56 Seiten starke Gesetzentwurf vom Parlamentssekretariat im SysiVuS-System geführt, drucktechnisch aufbereitet und unverzüglich per Kurier an die Vertragsdruckerei des Bundestages geschickt. Dort wird gewissermaßen Tag und Nacht für den Bundestag gearbeitet. Denn oft erreichen die Vorlagen, die bisweilen einen Umfang von 500 Seiten und mehr haben können, erst wenige Stunden vor der unbedingt einzuhaltenden Abstandsfrist das Parlamentssekretariat.

Die Geschäftsordnung des Bundestages bestimmt, dass eine Vorlage frühestens am dritten Tag nach ihrer Verteilung als Drucksache an die Abgeordneten im Plenum behandelt werden darf. Damit soll sichergestellt sein, dass jeder Abgeordnete die Chance hat, eine auf die Tagesordnung gesetzte Vorlage rechtzeitig zur Kenntnis zu nehmen und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Zudem müssen die Druckfahnen im Parlamentssekretariat noch von speziell ausgebildeten Lesekräften Korrektur gelesen werden, bevor es endgültig grünes Licht für Druck und Verteilung gibt.

Vor Mitternacht in den Fächern

Gelegentlich eilen deshalb nachts Sonderkuriere der Druckerei durch Berlin in die Postannahmestelle des deutschen Bundestages, damit die Drucksache noch vor Mitternacht in den Fächern der Abgeordneten liegt und die Dreitagesfrist nicht unterschritten wird. Die übliche Druckauflage umfasst rund 3.000 Exemplare, denn die Drucksachen gehen nicht nur an die 601 Abgeordneten des Bundestages, sondern insbesondere auch an den Bundesrat, die Bundesregierung, an Fraktionsstellen, an die Bundestagsverwaltung, an Landesparlamente, Universitäten, Bibliotheken und an die Medien.

Nach der offiziellen Einbringung einer Vorlage in den Kreislauf des Bundestages setzt das Parlamentssekretariat – für Frank Sobolewski eine „Dienstleistungsservicestelle“ im Räderwerk des Bundestages – die Drucksache auf die „Bunte Liste“ der beratungsreifen Vorgänge. Diese meist umfangreiche und immer wieder aktualisierte Liste heißt im Parlamentsjargon deshalb so, weil sie wirklich bunt ist: In ihr finden sich die zur zweiten und dritten Lesung reifen Gesetzentwürfe auf gelbem Papier, die für die erste Lesung auf blauem, von der Bundesregierung beantwortete Große Anfragen auf rosafarbenem, Fraktionsanträge auf grünem, Verschiedenes auf orangefarbenem und noch nicht beantwortete Große Anfragen auf grauem Papier. Diese Liste dient dem Ältestenrat und den Fraktionsführungen als Entscheidungsgrundlage darüber, was in der nächsten Sitzungswoche auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden soll.

Wie lange Vorlagen in der „Bunten Liste“ verbleiben, hängt vom politischen Willen der Fraktionen ab. Einige Vorlagen „schmoren“ jahrelang in ihr, weil man trotz ihrer Einbringung keinen aktuellen Handlungsbedarf sieht, andere – wie unser Beispiel Antidiskriminierungsgesetz – fallen schon nach wenigen Tagen oder Wochen wieder heraus, weil sich die Fraktionen über den Ältestenrat auf eine zügige Beratung im Plenum verständigten.

Die eigentlichen Herren der Tagesordnung sind die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer (PGF) der Fraktionen. Als von ihren Fraktionen beauftragte „Manager des Parlaments“ bereiten sie in ihren PGF-Runden an jedem Mittwochnachmittag in Sitzungswochen das vor, was das Plenum des Bundestages auf seiner(n) nächsten Sitzung(en) beraten und debattieren soll. Geben und Nehmen heißt dabei die Devise. Hat sich etwa die eine Seite bei der Aufsetzung der Schlusslesungen eines wichtigen Gesetzes gegen die andere durchgesetzt, wird sie sich bei deren Wunsch nach Aufsetzung eines bestimmten Antrags kompromissbereit zeigen. „Jeder weiß, was er dem anderen zumuten kann“, sagt einer, der oft dabei ist.

Dies schließt nicht aus, dass in der Runde auch politische Raffinesse üblich ist. Denn natürlich versuchen sowohl Regierungsseite wie Opposition, möglichst viele der eigenen Wünsche auf die Agenda der nächsten Plenarsitzung – und dabei möglichst zur besten Fernsehzeit – zu bringen. Insofern wird manchmal „mit der Brechstange“, dann wieder mit „ziselierten Finessen“ gearbeitet. Ein langjähriger Teilnehmer sieht in den Verhandlungen um die „Bunte Liste“ sogar Ähnlichkeiten mit einem Basar: Jeder versuche, das Beste für sich herauszuschlagen. Da aber alle daran beteiligt sind, entsteht in der Regel ein ausgewogenes Gleichgewicht.

Der in der Geschäftsführerrunde erarbeitete Entwurf einer Tagesordnung für die nächste Plenarwoche geht nun zurück zu Frank Sobolewski und seinen Mitarbeitern, um ihn für die Sitzung des Ältestenrates vorzubereiten und an dessen Mitglieder zu verteilen.

Leidenschaftliche Diskussion

Am Donnerstag schlägt dann für die Tagesordnung die entscheidende Stunde. Im Ältestenrat, dem obersten Verständigungsorgan über den Arbeitsplan des Bundestages, debattieren der Bundestagspräsident, seine Vizepräsidenten und 23 weitere Abgeordnete aus allen Fraktionen abschließend, was in der nächsten Sitzungswoche „auf den Tisch“ des Plenums kommt. Auch wenn vieles von den Parlamentarischen Geschäftsführern, die übrigens alle Mitglieder im Ältestenrat sind, vorbereitet sein mag – ein bloßes Abnickorgan ist der Ältestenrat keineswegs. Denn hier wird zuweilen leidenschaftlich nicht nur über die Auswahl der Vorlagen, sondern auch über die Dramaturgie, Mischung und Redezeitverteilung für die kommenden Plenarsitzungen diskutiert.

Mit in der Runde dabei ist Christina Neunzig. Schon seit 20 Jahren ist sie die „Seele“ des Parlamentssekretariats, und noch immer findet sie „viel Spaß und Freude“ an der Tagesordnungsplanung, die für sie „überhaupt keine trockene Sache“ ist. Denn: „Da ist ständige Bewegung drin“. Das erlebt sie bisweilen schon kurz nach der Ältestenratssitzung, wenn mit den Chefs der Fraktionsverwaltungen jene technischen Details besprochen werden, die im Ältestenrat noch offen geblieben sind, und sie dabei nicht selten mit neuen Wünschen – etwa bei der Reihenfolge der Themen – konfrontiert wird. Auch Frank Sobolewski bestätigt: „Die Erstellung der Tagesordnung ist ein bis zur letzten Minute laufender und damit spannender Prozess.“ So komme es sogar häufig vor, dass eine Fraktion ein Thema auf die Tagesordnung setzen wolle, das es als Vorlage und damit als Drucksache noch gar nicht gebe, politisch aber dringlich sei. Die Mitarbeiter des Parlamentssekretariats nehmen es gelassen hin, auch wenn dies bedeutet: Das Räderwerk muss wieder besonders schnell und reibungslos laufen, damit die Vorlage – sobald eingebracht – rechtzeitig die Abgeordneten erreicht. Denn die Devise lautet: „Wir sind Dienstleister für die Politik.“

Nachdem aus den vorläufigen Tagesordnungen der PGF-Runde und des Ältestenrats mit Hilfe des Parlamentssekretariats und der Druckerei eine an alle Abgeordneten verteilte offizielle Tagesordnung geworden ist, kommt am Plenartag die Stunde der Bewährung. Jetzt muss sich zeigen, ob die beschlossene Mischung „stimmt“, ob der Zeitrahmen nicht zu eng gefasst ist, die Abfolge der von den Fraktionen ausgesuchten Redner für Spannung sorgt.

Glas Wasser am Rednerpult

Technisch bleibt jetzt vor allem der Plenarassistenzdienst am Ball. Er sorgt dafür, dass alle für diesen Tag notwendigen Drucksachen vor dem Plenarsaal ausliegen, dass – bei namentlichen Abstimmungen – die Wahlurnen zur Stelle sind und, auch das ist wichtig, die Redner dank eines Glases Wasser keine trockenen Kehlen bekommen. Der jeweilige Sitzungspräsident oder die Sitzungspräsidentin wird von den Juristen des Fachbereichs Parlamentsrecht vor- und fürsorglich mit einem Sprechzettel versorgt, auf dem die beschlossene Tages- und Debattenordnung noch einmal akribisch aufgelistet ist und komplizierte Abstimmungsabfolgen strukturell geordnet werden. Eine möglichst gute und präzise Vorbereitung für den Präsidenten ist für die Parlamentsdienste Ehrensache.

Für Frank Sobolewski und sein Team gehört ein Sitzungstag des Bundestages zu den beruflichen „Großkampftagen“. Denn jetzt heißt es, genau mitzuverfolgen, was mit den aufgerufenen Vorlagen passiert, ob und in welche Ausschüsse sie überwiesen oder ob sie als Gesetz mit welcher Mehrheit abschließend verabschiedet werden. All dies wird im „Amtlichen Protokoll“ über den jeweiligen Sitzungstag genau festgehalten und auch im SysiVuS-System dokumentiert. Bei unserem Gesetz zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien heißt es etwa unter dem Stichwort „Plenardokumentation“: Behandlungsdatum: 21.01.2005; TOP (Tagesordnungspunkt): 16; Lesung: 1. Beratung; Beschluss: Überweisung (an insgesamt 14 Ausschüsse).

Solange der Gesetzentwurf in den Ausschüssen beraten wird, ist erst einmal Ruhe für Frank Sobolewski und sein Team. Doch sobald der Entwurf auf der „Bunten Liste“ die Farbe wechselt und nach vorn zur Schlusslesung rückt, beginnt erneut das komplizierte Spiel um die Tagesordnung.

Daneben warten natürlich schon wieder neue Vorlagen auf die Mitarbeiter im Referat. Damit es wieder heißen kann: „Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt …“

Text: Sönke Petersen
Fotos: Photothek
Erschienen am 18. April 2005


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