Deutscher Bundestag
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Mai 04/1999
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Alte Tugenden in neuer Dimension

Der Deutsche Bundestag kommt erstmals im umgebauten Reichstagsgebäude zusammen

Das Parlament

Ziemlich merkwürdig, am Abend des aufregenden Tages, an dem das deutsche Parlament seinen neuen Plenarsaal in Berlin in Besitz genommen hat, nach Bonn zurückzukommen, über die Rheinbrücke zu fahren, den "Langen Eugen" auftauchen zu sehen und sich zu sagen: Das war's. Gleicht die vertraute Silhouette schon der Kulisse eines abgedrehten Films? Natürlich, der parlamentarische Betrieb geht noch weiter bis zur Sommerpause. Aber der Abschied hat begonnen, noch lautlos und unauffällig, doch unaufhaltsam. Von der "Leichtigkeit am Rhein" spricht zum Beispiel die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Das klingt nicht nur nach ein bißchen Wehmut, sondern auch schon wie eine freundliche Reminiszenz.

Ja, Bonn war ziemlich weit entfernt an diesem 19. April in Berlin, nicht nur geographisch. Statt der ruhigen Idylle inmitten der Gärten und mit der Promenade am Fluß Baugetöse und Großstadtlärm. Kräne umzingeln noch immer den Reichstag. Baracken und Container umlagern ihn, überall Gruben, Schächte, Maschinen, halbfertige Rohbauten. In dem Getümmel wirkte das blankgeschliffene Reichstagsgebäude noch wie ausgesetzt und die Festversammlung zur Einweihung des neuen Bundestagssitzes wie eine Schar von Pionieren. Ebenso neugierig wie zögernd haben sie ihr Neuland betreten.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse würdigt die Geschichte des Reichstages

Kein hoher Ton, keine sehr großen Worte, kein Tusch und Trara, statt dessen nur ein bißchen Händel und Bach, eher am Rande und vor Beginn der Sitzung. Der angekündigte "Einzug der Abgeordneten", der eine Art Prozession vermuten ließ, ergab sich nur zum Teil. Vielmehr waren die Sitzreihen schon vorher mit Mitgliedern des Hauses gesprenkelt, blätterten Minister auf der Regierungsbank in ihren Akten, hielten Ministerpräsidenten der Länder Stehkonvente ab. Irgendwie waren plötzlich auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Kanzler im Saal. War dies wirklich ein besonderes Ereignis oder doch nur die 33. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages?

Aber gerade die beinahe Selbstverständlichkeit, mit der das Parlament seinen künftigen Tagungsort einweihte, hatte etwas Eindrucksvolles. Daneben verblaßte die so eifrig und manchmal eifernd besprochene Frage, ob denn nun auf die Bonner eine Berliner Republik folgen werde und ob die wechselvolle, durchaus nicht immer rühmliche Geschichte des Reichstags am Ende auch den Bundestag gefangennehmen könnte.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse

Statt dessen verband sich die Selbstverständlichkeit der Inbesitznahme mit der ruhigen und unprätentiösen Art, in der Wolfgang Thierse, ohne die Schattenseiten zu übertünchen, einiges von dem zurechtrückte und differenzierte, was über den Reichstag als negatives Symbol im Umlauf ist. Wohl wahr, so der Präsident dem Sinne nach, daß dieser Reichstag in seinen Anfängen auch den absolutistischen Geist der wilhelminischen Epoche widerspiegelte und dem "Hurra­Patriotismus" zu Beginn des Ersten Weltkrieges erlag. Aber zugleich bildete er, durch nicht wenige kritische Abgeordnete, die Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie und einer Emanzipation der Untertanen heraus. Ebenso wichtig, daß sich dann nach 1918 in ihm viel von jener Mentalität der "Republik ohne Republikaner" wiederfand, an der die erste deutsche Demokratie schließlich scheiterte. Aber mit den Namen sehr vieler Reichstagsmitglieder verknüpft sich auch das oft heroische Bemühen, der Demokratie und dem Parlamentarismus Atemluft zu schaffen und zu erhalten.

Nicht zu bestreiten schließlich, daß der Reichstag von Hitler überwältigt wurde, sofern er sich nicht schon in der Hand des Diktators befand. Aber abgesehen von Otto Wels' tapferer Rede gegen das Ermächtigungsgesetz – wie viele Reichstagsabgeordnete sind von den Nazis drangsaliert, verfolgt, ermordet worden? In dem Gruß der Abgeordneten Sabine Kaspereit an den 99jährigen Josef Felder, den einzigen noch lebenden Reichstagsabgeordneten, wurde die wechselvolle und widersprüchliche Reichstagsgeschichte noch einmal unmittelbar lebendig.

Die Parlamentarier erkunden das weitläufige Gebäude
Die Parlamentarier erkunden das weitläufige Gebäude

Aber Geschichte versinkt ja auch, nicht zuletzt architektonisch. Zwar hat sie Norman Foster, der englische Architekt des neuen Reichstages, in einigen Spurenelementen mit geradezu archäologischer Akribie bewahrt, etwa bei steinernem Zierrat, bei den Schußwunden des Krieges oder den kyrillischen Inschriften der sowjetischen Sieger, die 1945 den schwer zerstörten Koloß besetzten. Und äußerlich hat sich ja an seinen Ausmaßen nichts verändert. Sonst aber sahen nun alle an diesem Einweihungsmontag, wie neu und eigenständig das innere Gebäude ist, das der Bundestag in Berlin erhalten hat, ganz eigenständig auch gegenüber seinen früheren "Behausungen". Das allererste Plenum, kaum mehr als ein übergroßer Vortragssaal, ist längst vergessen. Kaum anders auch beim "Wasserwerk", das die Abgeordneten als Versammlungsort en miniature so liebten. Dann Günter Behnischs wunderbarer Bau in Bonn, dieses schwebende, gläsern flirrende Gebilde, bei dem Drinnen und Draußen ineinander überzugehen scheinen.

Nun aber in Berlin strenge Formen und Farben, in mächtigen Mauern und Quadern, eine gewisse Abgeschlossenheit und Konzentration, trotz riesiger Glaswände und der fabelhaften Kuppel, mit der Foster ein uraltes Hoheitssymbol spielerisch abgewandelt und aufgehoben hat. Mit ihren Spiegel­Effekten würde man sie einen Lichtdom nennen, wenn das dem ganzen unpathetischen Stil nicht widerspräche. Freilich gilt auch, daß der Stil nicht alles ist. Selbst das triste riesige Rechteck des ersten Bonner Plenums wurde zum faszinierenden Ort, wenn in den Debatten die Funken übersprangen. Und grau war umgekehrt selbst das Wasserwerk, wenn es nur um parlamentarische Routine ging. Nicht anders in Behnischs Wunderwerk.

Langsam, tastend, Schritt für Schritt gingen die Abgeordneten in ihr Berliner Domizil hinein. Beinahe vorsichtig erkundeten sie, die Gründlichen treppauf, treppab statt mit den gleißenden Fahrstühlen, Stockwerk für Stockwerk. Stießen sich zuweilen an Ecken und Kanten, versuchten mit der steilen Höhe zurechtzukommen, die fast alle Räume haben, mißtrauten ein wenig dem ungewöhnlichen Fliederlilablau, dem, wie Foster es nennt, "Reichstags­Blue", das ihre Plenarstühle nun haben, maßen die kathedralhafte Kuppelhöhe über ihnen erst einmal mit den Augen aus, bevor sie die Spiralen in der Kuppel bis zum offenen Rundfirst hinaufwanderten und über der Stadt Berlin standen – vor einem schier unendlichen Panorama.

So viele neue Größenordnungen, im buchstäblichen wie übertragenen Sinne. Wird die weitläufige Stadt, auch wenn die ganzen Parlamentsbauten ein Viertel für sich bilden werden, die Politiker stärker in ihren Sog ziehen als Bonn, wo die Politik, wie der Publizist Johannes Gross sagt, immer nur wie "einquartiert" war? Wird sie als Brennpunkt so vieler Schwierigkeiten und sozialer Spannungen auch unmittelbar für die Abgeordneten zu spüren sein? Und wird ihre östliche Lage die vielen Einheitsprobleme noch stärker ins Bewußtsein rücken?

Glaskuppel mit Wandelgang
Anziehungspunkt: Die beeindruckende Glaskuppel mit Wandelgang

Nicht wenige, die das in der kurzen Debatte nach der betont nüchternen Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum "Stand der deutschen Einheit" hofften. Es war das sinnfällige Thema an einem sinnfälligen Ort.

Aber die neuen Dimensionen reichen ja noch viel weiter, nicht nur bis zur weiteren Einbettung des wieder größer gewordenen Deutschland in das auch nach Osten wieder größer gewordene Europa. Sondern nun vor allem anderen: bis zur direkten Mitverantwortung für Freiheit, Menschenrechte, Frieden, für die das Stichwort "Kosovo" unvermittelt zum Schlüsselwort geworden ist. Viele nachdenkliche Worte darüber in der Debatte. Es gibt doch eine Zäsur. Die Bonner Epoche, die für die Gründung, den Aufbau und Ausbau der Republik und ihrer Demokratie steht, ist abgeschlossen. Nun steht Berlin nicht nur für die Fortführung, sondern auch für ganz neue Aufgaben, Probleme, Rollen – in einem weltpolitischen Kontext. Natürlich ist es nur ein zeitlicher Zufall, daß der Umzug damit einhergeht. Aber wie eine kleine List der Geschichte wirkt dieser Zufall doch.

Die Parlamentarier erkunden das weitläufige Gebäude

Andererseits Kontinuität: Das war der in den Reden am häufigsten benutzte Begriff. Der Umzug, so der Kanzler und viele andere, sei kein Bruch in der Kontinuität der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und auf seine lapidare Weise: "Wir gehen ja nicht nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären." Oder der Abgeordnete Werner Schulz: Er sprach davon, sich in Bonner Bescheidenheit der Berliner Verantwortung zu stellen. Auch für die neuen Dimensionen sollen die alten Tugenden gelten.

Aber buchstäblich funkelnagelneu ist eben noch alles. Man muß sich gewöhnen, vertraut machen. Nach zwei Stunden in der Sitzungsleitung von seinem Stellvertreter Rudolf Seiters abgelöst, saß Wolfgang Thierse für eine Weile auf einer der Publikumstribünen, um das Parlament, "sein" Parlament, auch von dort aus zu betrachten. Oder ein anderes Bild, ein bißchen symbolisch für den gesamtdeutschen Bundestag im gesamtdeutschen Berlin: Rita Süssmuth, als frühere Bundestagspräsidentin die eigentliche Bauherrin des neuen Parlamentssitzes, beharrlich gegen viele Schwierigkeiten, saß lange Zeit Seite an Seite mit Sabine Bergmann­Pohl, die der ersten und einzigen frei gewählten ostdeutschen Volkskammer präsidiert hat, bevor beide Parlamente eins wurden.

Zum ersten Male ein volles Haus, mit allen, die es fortan bevölkern werden: Abgeordnete, Ehrengäste, Journalisten, Besucher. Sogleich offenbarte es auch einen seiner größten Vorzüge: Die weit in das Plenum hineinragenden Publikumstribünen schaffen eine überraschende Nähe und Intimität. Zwar werden sie denjenigen Abgeordneten wohl wenig gefallen, die knapp unter ihnen ihre Plätze haben und deshalb kaum zu sehen sind. Aber das "Volk" befindet sich nun nicht mehr, wie in allen bisherigen Plenarsälen, auf Tribünen eher am Rande, in einigem Abstand zu seinen Vertretern. Vielmehr sitzt es fast im Plenum selbst, beinahe auf Tuchfühlung. Nicht nur die bereits auf so vielen Darstellungen wie ein Logo verwendete Glaskuppel löst die immer wieder berufene Offenheit und Transparenz des neuen Parlamentsgebäudes ein. Sie finden sich auch in seinem Zentrum wieder.

Also keine große Feierlichkeit am 19. April. Aber das vollbesetzte Haus zu sehen und die Dichte zu erleben, die seine Architektur bewirkt, darin bestand die eigentliche Festlichkeit. Schon von seinem äußeren Zuschnitt her ist dies ein Parlament der Bürger, mehr noch als seine Vorgänger. "Dem deutschen Volke": So steht es ja auch in seinem Giebel.

Der langjährige Parlamentskorrespondent der ZEIT, Carl­Christian Kaiser, besuchte für Blickpunkt Bundestag die Eröffnungssitzung des Deutschen Bundestages

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9904/9904006
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