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Mai 04/1999
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NULLA SALUS NISI IN FRACTIONE

Nichts geht außerhalb der Fraktionen

Über die fünf Bundestagsfraktionen läßt sich trefflich streiten; innerhalb wie außerhalb des Parlaments. Daß Staatsrechtler die Machtfülle der "Parteien im Parlament" in dicken Lehrbüchern kritisieren und von einer "Kollektivierung des Abgeordneten" warnen, damit haben sich die Fraktionschefs längst abgefunden. Und wenn es um die Rednerliste geht oder die Besetzung der Ausschüsse, dann gerät so mancher Parlamentarier in Zorn, weil er sich von der Fraktionsführung ungerecht behandelt fühlt. "Nulla salus nisi in fractione" (Nichts geht außerhalb der Fraktionen), klagte schon 1907 der Reichstags­abgeordnete Hellmuth von Gerlach. Und in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 wurden fraktionslose Abgeordnete gar als "Wilde", "Stehgreifritter" oder "Einzelgänger" beschimpft.

Rund 150 Jahre später ist anerkannt, daß ein geordneter parlamentarischer Betrieb ohne die Fraktionen nicht denkbar ist. Aus dem Honoratiorenparlament der Vergangenheit ist das Arbeitsparlament der Gegenwart geworden. Und der Terminkalender der Fraktionschefs ist dicht gedrängt in den Plenarwochen; ungefähr 25 mal im Jahr, Sondersitzungen ausgenommen. Wolfgang Gerhardt, Parteivorsitzender der FDP und seit der Bundestagswahl auch noch Chef der 43köpfigen Fraktion, blättert in seinem Notizbuch und zeigt auf Montag, den 19. April. Statt der üblichen Sitzungsroutine die Einweihung eines neuen Parlamentsgebäudes; das kommt schließlich nicht jede Woche vor. Die Atmosphäre im Reichstag sei beeindruckend gewesen, da rückte das alles beherrschende Thema "Kosovo" in den Hintergrund. Allerdings nur für wenige Stunden, denn die bedrückende Lage auf dem Balkan läßt keinen Abgeordneten kalt. So war der Tagesordnungspunkt eins in allen Fraktionen der Gleiche. Damit aber der Streit über die 630­Mark­Jobs nicht zur Nebensache verkümmert, hat Gerhardt zu Wochenbeginn für die F.D.P. eine Aktuelle Stunde beantragt; am Mittwoch diskutierte der Bundestag über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und die Scheinselbständigkeit. Nach langen Regierungsjahren hat Gerhardt die F.D.P.­Fraktion auf die harten Oppositionsbänke eingestimmt. "Der Rollenwechsel war nicht einfach, ist jetzt aber geschafft."

Den umgekehrten Weg von der Oppositions­ zur Regierungsfraktion haben Bündnis 90/Die Grünen hinter sich. "Meine größte Herausforderung ist jetzt die Sicherung der Kanzlermehrheit", beschreibt Kristin Heyne ihre Arbeit als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin. Für den Fall einer drohenden Abstimmungsniederlage der Koalition hält sie ein Handy griffbereit, um die 47 Grünen­Abgeordneten ins Plenum zu zitieren. Auch bei Bündnis 90/Die Grünen ging der Regierungswechsel nicht ohne "leichte Umstellungsprobleme" ab. "Jetzt haben wir drei Minister und müssen darauf achten, daß die Fraktion ausreichend zu Wort kommt", schildert Heyne die manchmal komplizierte Verteilung der Redezeit. Im Wochenrückblick hat für Bündnis 90/Die Grünen – neben dem Kosovo­Konflikt – die Haushaltsbereinigungssitzung eine besondere Rolle gespielt. Hinter dem Wortungetüm verbergen sich endlose und im Ergebnis meist endgültige Beratungen über noch strittige Haushaltstitel. "Da konnten wir erstmals als Regierungsfraktion gestalten", sagt Heyne zufrieden.

Etwas anders fällt die Sicht der PDS aus, der mit 36 Mitgliedern kleinsten Oppositionsfraktion. Die stellvertretende Vorsitzende Christa Luft hat Zuschüsse für die parteinahe "Rosa Luxemburg Stiftung" durchgesetzt, wenn auch nicht in der gewünschten Höhe. "Neben dem Kosovo­Krieg war deshalb die Bereinigungssitzung für uns sehr wichtig", sagt Luft während einer Beratungspause am Donnerstag nachmittag. Der Anspruch auf Zuschüsse wird von der politischen Konkurrenz nicht mehr in Frage gestellt, seit die PDS bei der Bundestagswahl erstmals die Fünf­Prozent­Hürde übersprungen hat und damit Fraktionsstatus hat.Wie die F.D.P. hat sich auch die PDS mit einer Aktuellen Stunde im Bundestag Gehör verschafft. Das Thema "Schwarzarbeit und außertarifliche Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin" hat die Berlinerin Luft in der Fraktion durchgesetzt.

Diese "Aktuelle Stunde" hat nicht nur die PDS beschäftigt; auch die anderen Fraktionen mußten sich vorbereiten und Redner bestimmen. In der CDU/CSU­Fraktion kümmern sich die zuständigen Arbeitsgruppen um die Rednereinteilung, erklärt der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Ramsauer die interne Organisation. Alle Fraktionen setzen zu Beginn der Wahlperiode Arbeitsgruppen ein, die die Beschlüsse der Gesamtfraktion vorbereiten. Die Arbeitsgruppen oder Arbeitskreise orientieren sich thematisch an den Fachausschüssen des Bundestages und tagen meist am Dienstag. Nicht nur in Bonn, sondern auch außerhalb der Bundesstadt wie kürzlich in Erfurt. So nutze die "Arbeitsgruppe Tourismus" der CDU/CSU­Bundestagsfraktion den Parteitag in der thüringischen Landeshauptstadt zu einer Reise durch den Freistaat, um sich über den Fremdenverkehr in den neuen Länder zu informieren.Häufig muß im Büro Ramsauer auf Zuruf entschieden werden, denn Aktualität schlägt Planung. Bis zur Wochenmitte war unsicher, ob der Bundestag über die Entsendung von Fernmeldeeinheiten nach Albanien abstimmen muß. Dann werden Eventualpläne aufgestellt und die Anwesenheitslisten der Abgeordneten durchforstet. Selbstverständlich, daß auch die CDU/CSU "Aktuelle Stunden" nutzen, um die Koalition in Bedrängnis zu bringen.

Vor dem Regierungswechsel konnte sich die CDU/CSU die mittwochs stattfindende Kabinettsbefragung schenken, "jetzt versuchen wir, die Regierung zu piesacken", erläutert Ramsauer den Wechsel von der größten Regierungsfraktion zur größten Oppositionsfraktion. Es kommt vor, daß der Parlamentarische Geschäftsführer auch als Prellbock herhalten muß, etwa wenn unterschiedliche Interessen aufeinanderstoßen. Ob es um die Vergabe von Büroräumen geht oder die Benennung der Ausschußmitglieder – 245 Abgeordnete, darunter die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen, wollen "unter einen Hut gebracht werden". Um Verständigung und Kompromisse geht es auch im Ältestenrat. In diesem Lenkungsorgan des Bundestages treffen sich donnerstags Präsident, Vizepräsidenten und weitere 23 Abgeordnete, um die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche festzulegen. Außerdem entscheidet der Ältestenrat auch über innere Angelegenheiten des Bundestages, wenn diese nicht dem Präsidenten oder dem Präsidium vorenthalten sind.

Themen und Länge der Debatten sowie die Verteilung der Redezeit werden im Ältestenrat – meißt geräuschlos – vereinbart. Für einige Schlagzeilen sorgte jüngst die Entscheidung, den Bundestag in Berlin verwaltungsintern "Plenarbereich Reichstagsgebäude" zu nennen.

Im Ältestenrat trifft Ramsauer auf seinen Kollegen Wilhelm Schmidt, den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD­Fraktion. Der langjährige Abgeordnete muß immerhin 298 Abgeordnete im Blick haben, darunter viele neu in den Bundestag gewählte Parlamentarier. Die parteiinterne Diskussion beim Koalitionspartner über die Nato­Luftangriffe fällt Schmidt ein, wenn er die Sitzungswoche resümiert, aber auch die 630­Mark­Jobs, die in der Fraktionssitzung lebhaft debattiert worden sind. Auch in den sitzungsfreien Wochen muß der Abgeordnete aus Salzgitter in Bonn die Stellung halten: montags tagt der geschäftsführende Fraktionsvorstand, mittwochs steht die Abstimmung mit der Regierung und den SPD­regierten Bundesländern auf der Tagesordnung. Eine Menge Arbeit, der Schmidt einiges abgewinnen kann: "Es ist schöner, schwierig zu regieren, als leicht zu opponieren."

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9904/9904065
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