Europa gemeinsam gestalten
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Präambel
Vor 10 Jahren, am 17. Juni 1991, wurde zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Der Nachbarschaftsvertrag und die förmliche Bestätigung der gemeinsamen Grenze am 14. November 1990 sind zur Grundlage der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen und der außerordentlich positiven Entwicklungen in den deutsch-polnischen Beziehungen geworden.
Das 10-jährige Jubiläum des Nachbarschaftsvertrages wollen wir zum Anlass nehmen, um nicht nur einen Blick auf die Erfolge der letzten 10 Jahre in den deutsch-polnischen Beziehungen zu werfen, sondern in die Zukunft zu schauen. Im letzten halben Jahr haben die Polnisch-Deutsche und die Deutsch-Polnische Parlamentariergruppe einen intensiven Dialog über gemeinsame europapolitische Vorstellungen geführt. Das Ergebnis dieses Diskussionsprozess ist im vorliegenden Text festgehalten.
Eine Motivation dafür liegt in dem baldigen Beitritt Polens zur Europäischen Union (EU). Der Europäische Rat in Nizza vom Dezember 2000 hat hierfür die Weichen gestellt. Die Erweiterung der EU um Polen wird den deutsch-polnischen Beziehungen einen ganz neuen Rahmen geben. Unsere gemeinsame Grenze wird nicht mehr die Außengrenze der EU sein. Die Gestaltung gemeinsamer Interessen in der Europäischen Union wird einen großen Raum in unseren Beziehungen einnehmen: Stabilität, Frieden und Wohlstand in Europa zu garantieren und auszubauen.
Deutschland hat von Beginn an den Wunsch Polens auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union unterstützt. Die Erweiterung der Europäischen Union liegt sowohl im polnischen als auch im deutschen nationalen Interesse.
Wir sind uns dessen bewusst, dass den unbestreitbaren Vorteilen der Erweiterung mancherlei Skepsis in der Bevölkerung sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch in den Beitrittsländern gegenüber steht. Alle historischen Umbrüche bringen neue Entwicklungen und Veränderungen mit sich, die bei den Menschen zur Verunsicherung führen und Ängste auslösen können.
Wir fordern die Regierungen unserer beiden Länder auf, die Ängste bei den Bürgerinnen und Bürgern auf beiden Seiten ernst zu nehmen. Wir erkennen an, dass sich die Bedenken in der Bevölkerung in Deutschland insbesondere in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, in Polen auf den freien Erwerb von Grund und Boden beziehen. Es ist unsere Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die Erweiterung der Europäischen Union von Maßnahmen begleitet wird, die diese Bedenken mindern.
Wir begrüßen die von der Europäischen Union und unseren Regierungen gestartete Informationskampagne, die darauf abzielt, die Bevölkerung von dem unbestreitbaren Nutzen der Erweiterung der Europäischen Union zu überzeugen. Diese Informationskampagne, an der wir uns mit vollem Engagement beteiligen, sollte verstärkt werden. Ebenso müssen die Kontakte zwischen den Bevölkerungen beider Länder intensiviert werden.
Die bei den Beitrittsverhandlungen erreichten Kompromisse sollten die Interessen sowohl der heutigen als auch der künftigen Mitgliedsländer der Europäischen Union berücksichtigen.
Die Deutsch-Polnische und die Polnisch-Deutsch Parlamentariergruppe haben sich zum Ziel gesetzt, über die zukünftige gemeinsame Verantwortung in der Europäischen Union nachzudenken. Hier geht es auch um eine Perspektive für die künftige Gestalt der Europäischen Union.
Natürlich werden sich die deutsch-polnischen Beziehungen auch nach der Erweiterung der EU nicht ausschließlich im europäischen Kontext definieren. Wir werden nach wie vor konkreten bilateralen Gemeinsamkeiten und Herausforderungen begegnen, die nicht von europapolitischen Themen abhängen. Diese sind jedoch nicht Thema des vorliegenden Papiers.
Momentan beschränkt sich die europapolitische Diskussion zwischen Deutschen und Polen noch auf die konkreten Beitrittsverhandlungen. Das ist verständlich, weil die Fragen des Beitritts die tagespolitische Agenda beherrschen. Doch auch diese Fragen werden bald beantwortet sein. Dies ist ein Grund mehr, sich jetzt schon gemeinsam Gedanken darüber zu machen, was wir künftig gemeinsam in und mit der Europäischen Union wollen.
Die hier vorgelegten Aussagen drücken aus, was deutsche und polnische Parlamentarier gemeinsam von der EU erwarten bzw. wie wir zu aktuellen und künftigen europapolitischen Fragen stehen.
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Gemeinsame Verantwortung für Europa
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Die baldige Erweiterung der Europäischen Union ist eine politische Notwendigkeit und historische Chance. Mit ihr überwindet Europa die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Spaltung und es werden stabile Rahmenbedingungen für Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa geschaffen. Das ist ein unschätzbarer Gewinn für Gesamteuropa, insbesondere aber auch für Deutschland und Polen als Nachbarn.
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Das Zukunftsmodell der Europäischen Union, das auf der Idee der Integration beruht, hat sich in den letzten Jahren beständig weiterentwickelt und wird mit der Erweiterung um die Staaten Ostmitteleuropas eine neue Gestalt erhalten. Das ist für alle Beteiligten, die bisherigen wie die neuen Mitglieder eine große Herausforderung.
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Auf dem Gipfel von Nizza sind die notwendigen Reformen beschlossen worden, um die EU zum 01.01.2003 beitrittsfähig zu machen. Die Beitrittskandidaten haben nun eine klare Perspektive. Es kommt jetzt darauf an, dass sie die für die Aufnahme gestellten Kriterien erfüllen. Jeder Kandidat wird dabei individuell nach den gleichen Maßstäben bewertet.
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Dass Polen Mitglied der Europäischen Union wird, steht außer Frage. Wir wollen in Zusammenarbeit mit den Regierungen alles daran setzen, damit Polen und andere Kandidaten an den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 teilnehmen können.
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Polen als baldiges Mitglied der EU wird wie Deutschland die Zukunft Europas mitbestimmen und mitgestalten. Auf diesem Hintergrund haben die Deutsch-Polnische und die Polnisch-Deutsche Parlamentariergruppe über die künftige Gestaltung Europas diskutiert und wollen für die öffentliche Debatte Anregungen geben.
Zur künftigen Integration in der Europäischen Union
A: Die Rolle der Nationalstaaten in der Europäischen Union
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Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und den historischen Umbrüchen von 1989/90 standen die Länder Mittel- und Osteuropas vor der Aufgabe, ihr nationales Selbstverständnis in Freiheit und im Anknüpfen an ihre geschichtlichen Traditionen neu zu bestimmen. Gleichzeitig vollzogen sie den Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen. Diese oft schwierigen Prozesse verliefen trotz manch innenpolitischer Spannungen und häufiger Regierungswechsel friedlich und zeigten eine erstaunliche Stabilität der Entwicklung. Dabei spielte die Perspektive der Integration in die EU eine wichtige Rolle.
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Die Idee der europäischen Integration ist es, kriegerische Auseinandersetzungen auf der Grundlage von Nationalismus wie im früheren Jugoslawien in Europa unmöglich zu machen. Die Praxis des Hegemoniestrebens einzelner Staaten wird ersetzt durch eine Politik der Integration, der Abgabe nationaler Souveränitätsrechte an europäische Institutionen, sowie durch gemeinschaftliche Interessenausübung. Indem die europäischen Institutionen die Interessen ihrer Mitgliedstaaten wahrnehmen, wird ein System der Verflechtung, Zusammenarbeit und Solidarität geschaffen.
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Heute können viele staatlichen Aufgaben nicht mehr auf nationaler Ebene wahrgenommen werden, da viele Probleme nur noch in größeren, supranationalen Zusammenhängen zu lösen sind. So sind Integration und Verstärkung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung eine Frage der politischen Notwendigkeit. Die Nationalstaaten werden jedoch auch mit fortschreitender Integration und Zusammenarbeit wichtig bleiben. Mit ihren Regionen werden sie nach wie vor eine wichtige Rolle für das kulturelle und politische Selbstverständnis ihrer Bürger und für die demokratische Legitimation von politischen Entscheidungen spielen. Die EU lebt auch in Zukunft von ihrer kulturellen Vielfalt.
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Der Eintritt in die EU und die Übernahme des acquis communautaire bedeuten für die neuen Mitgliedstaaten eine Einschränkung nationalstaatlicher Souveränität, jedoch auch gleichzeitig eine Möglichkeit der Einflussnahme dieser Staaten auf die europäische Politik. Nur wer in Brüssel mit am Tisch sitzt, wird die Entscheidungen beeinflussen können, die im Europa der Zukunft von Bedeutung sein werden.
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Mit der EU ist ein völlig neues Gebilde geschaffen worden, das keinen Vorbildern föderaler oder supranationaler Art folgt. Die Entstehung dieser Gemeinschaft ist ein dynamischer Prozess. Er muss im europäischen Rahmen Gegenstand von Diskussionen sein und entschlossen weiter vorangetrieben werden
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Während des für Dezember 2001 geplanten EU-Gipfels in Laeken, welcher der Fortführung der mit dem Gipfel von Nizza eingeleiteten Diskussion über die Zukunft Europas gewidmet sein wird, sollte der Modus bestimmt werden, wie die Beitrittsländer in diese Beratungen einbezogen werden.
B: Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung
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Der Reformprozess der EU hat mit den Beschlüssen von Nizza weitere Hürden genommen und Weichen gestellt. 2004 soll eine neue Regierungskonferenz beginnen, welche für die Zukunft der EU in einer europäischen Verfassung zentrale Fragen klären soll. Dazu gehören: die Verteilung der Aufgaben zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (Kompetenzabgrenzung), die Neugestaltung der Verträge in einer einfacheren, einheitlichen und verständlicheren Form und die Aufnahme der Grundrechtecharta in dieses neugestaltete Vertragswerk. Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments müssen erweitert und die Rolle der nationalen Parlamente bei der Rechtsetzung der EU neu bestimmt werden. Die ersten Beitrittskandidaten werden an den Entscheidungen darüber als neue Mitglieder mit beteiligt sein. Aber auch die übrigen Beitrittskandidaten sollten ihre Vorstellungen in die Beratungen hierzu einbringen.
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Im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist die EU-Gesetzgebung auf viele neue Bereiche ausgedehnt worden. Nun gilt es, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten klarer abzugrenzen. Zum einen geht es darum, die gemeinsam auf europäischer Ebene zu bewältigenden Aufgaben festzulegen, zum anderen sollen die Mitgliedstaaten einen angemessenen Handlungsspielraum behalten. Das Prinzip der Subsidiarität wird dabei grundlegend sein und muss auch in der Praxis stärker zur Geltung kommen. Nur da, wo es nötig ist sollten Politikbereiche vollständig auf die EU übertragen werden. Die EU sollte ihre Aktivitäten auf die wesentlichen supranationalen Aufgabenfelder konzentrieren. Einige - wie z.B. die Kultur-, Beschäftigungs- und die Sozialpolitik - sollten in der Kompetenz der Nationalstaaten bleiben, auch wenn eine Koordinierung und Abstimmung auf europäischer Ebene sinnvoll ist. Diese Regelungen sollten Gegenstand einer europäischen Verfassungsdebatte sein.
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Es ist wichtig, die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament bei einer solchen Verfassungsdebatte angemessen zu beteiligen. Die positiven Erfahrungen, die mit dem Konvent bei der Ausarbeitung der Grundrechtecharta gemacht worden sind, sollten hierbei berücksichtigt werden.
C: Die Grundrechtecharta
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Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern ebenfalls eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Die Grundrechtecharta, die auf dem Gipfel von Nizza angenommen wurde, bringt dies in besonderer Weise zum Ausdruck. In ihr wird neben den bürgerlichen Freiheitsrechten den sozialen Rechten ein wichtiger Rang eingeräumt und die Unteilbarkeit und gegenseitige Abhängigkeit aller Grundrechte dokumentiert. Sie sollte bei der nächsten Regierungskonferenz in eine europäische Verfassung aufgenommen werden und so Verbindlichkeit erlangen.
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Mit Recht hat der Westen in den letzten Jahren die Bedeutung von Minderheiten für eine demokratische Ordnung und die Stabilität einer Gesellschaft mit Minderheiten hervorgehoben. Umso verwunderlicher muss es erscheinen, dass dem Schutz von Minderheitenrechten in der Grundrechtecharta kein Artikel gewidmet ist. Um einen solchen sollte die Charta ergänzt werden! Minderheitenrechte gehören zur Kultur demokratischer Rechtsstaaten und sind ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Stabilität und des Friedens in Europa.
D: Mehr Transparenz, Demokratie und Handlungsfähigkeit
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Auch nach der bevorstehenden großen Erweiterung muss die EU handlungsfähig bleiben! Deshalb ist ein weiteres und entschiedenes Fortschreiten im Prozess der Integration für die EU eine Überlebensfrage und ohne Alternative.
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Viele Bürgerinnen und Bürger der EU haben Zweifel an der Legitimität von EU-Entscheidungen. Die Kritik richtet sich zum einen gegen die fehlende Transparenz der Entscheidungsabläufe in den Gremien der EU. Zum anderen wird das Demokratiedefizit kritisiert. Wesentliche Bereiche der Entscheidungen werden nicht parlamentarisch kontrolliert.
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Das Europäische Parlament muss stärker in die Entscheidungsprozesse der EU eingebunden werden. Es sollte neben der EU-Kommission ein Initiativrecht erhalten. In allen Bereichen, in denen die nationalen Parlamente Einfluss verloren haben, sollte das Europaparlament als gleichwertiger Partner mitentscheiden. Deshalb streben wir an, dass sich gemeinsame europäische Parteien bilden, deren Kandidaten auf gemeinsamen Listen antreten.
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Eine Reform der europäischen Institutionen sollte das Verhältnis der europäischen Institutionen - Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Rat der Europäischen Union (Ministerrat) - sowie des Europäischen Rates zueinander und ihre Verantwortlichkeiten neu regeln. Die entscheidenden Gradmesser für die Reform der europäischen Institutionen sollten die bessere Handlungsfähigkeit sein, um den Herausforderungen der Zukunft besser begegnen zu können sowie mehr Demokratie auf europäischer Ebene.
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Die Europäische Kommission als das zentrale exekutive Organ sollte gestärkt werden. Als künftige europäische "Regierung" muss sie stärker der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterworfen werden. So sollte auch der Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt und seine Kompetenzen ausgebaut werden.
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Im Rat der Europäischen Union (Ministerrat), der nach wie vor das wichtigste Organ der europäischen Institutionen ist, sollten grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen als Verfahren vorgesehen werden. Das wäre im Interesse der Handlungsfähigkeit der EU. Es sollte nur wenige Ausnahmen geben, die sich auf konstitutionelle, institutionelle und finanzielle Aspekte der EU beziehen. Die Mehrheitsentscheidungen sollten vermehrt zur Anwendung kommen.
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In einer EU mit 27 oder mehr Staaten wird es immer schwieriger werden, den Integrationsprozess fortzusetzen. Daher muss es integrationswilligen Mitgliedern möglich sein, bei der Vergemeinschaftung neuer Aufgabenbereiche voranzuschreiten. Auf dem Gipfel von Nizza sind die Möglichkeiten zur "Verstärkten Zusammenarbeit" erleichtert worden. Für die Ausweitung der Möglichkeiten der "Verstärkten Zusammenarbeit" muss es klare Regeln und Verfahren geben, damit die Einheit der EU gewahrt wird. Wichtig ist die grundsätzliche Offenheit. Keinem Mitgliedstaat darf verwehrt werden, an weiterführenden Integrationsschritten teilzunehmen, wenn er die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür erfüllt.
E: Änderungen in europäischen Politikfeldern
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Der Reformbedarf der EU beschränkt sich nicht nur auf die europäischen Institutionen. Der Anpassungsdruck durch die fortschreitende Globalisierung macht eine fortwährende Überprüfung der vergemeinschafteten Politiken der EU nötig. Auch das Anwachsen der EU auf 27 oder mehr Mitgliedstaaten wird eine Reformpolitik notwendig machen, wenn sie sich veränderten Realitäten anpassen will.
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Reformbedürftig ist insbesondere die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU. Von dem Gesamthaushalt der EU (2000: 93 Mrd. EURO) entfallen immer noch 44 % auf den Agrarhaushalt. Die GAP in ihrer jetzigen Form führt zu Überproduktion und Ineffizienz und zu Konflikten in den WTO-Verhandlungen. Die Reform der Agrarpolitik sollte, wie in der Agenda 2000 vorgesehen, fortgesetzt werden. Nur wenn die Mitgliedstaaten der EU wieder verstärkt in die Verantwortung genommen werden, wird es zu einer wirklichen Reform der Agrarpolitik auf europäischer Ebene kommen. Die durch die Kürzung der Agrarausgaben frei gewordenen Mittel sollten für Förderprogramme zum Strukturwandel im ländlichen Bereich eingesetzt werden.
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Durch den sog. "Schengen-Raum" ist in Europa ein großer Raum der Freizügigkeit geschaffen worden, der allen Bürgern der beteiligten Staaten eine einzigartige Erfahrung von der europäischen Integration verschafft. Die Erweiterung der Union wird diesen Raum erheblich vergrößern. Perspektivisch werden mit der Osterweiterung alle internen Grenzkontrollen zwischen den Ländern der Mitgliedstaaten und den Beitrittskandidaten fallen. Dies wird auch für die Menschen der neuen Mitgliedstaaten große Vorteile mit sich bringen, wenn in Anlehnung an die Verwirklichung des Binnenmarktes ein "Raum ohne Binnengrenzen" geschaffen wird. Das "Schengener Durchführungsübereinkommen" wird nicht sofort mit der Osterweiterung der EU für die neuen Mitglieder in Kraft treten. Zuvor muss die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit auf europäischer Ebene intensiviert werden.
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Wenn die EU die Herausforderungen der Zukunft bestehen will, muss sie verstärkt in die sog. "Zukunftsbranchen" investieren. Dies betrifft insbesondere Bereiche wie Bildung, Forschung und Infrastruktur. Informations- und Kommunikationstechnologien bedürfen einer verstärkten Förderung. Die sozialen Sicherungssysteme bedürfen einer finanzierbaren langfristigen Absicherung.
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Die Vollendung und Ausweitung des europäischen Binnenmarktes wird eine der grossen Herausforderungen der EU nach der Erweiterung sein. Bisher ist es den EU-Mitgliedstaaten noch nicht gelungen, alle Binnenmarktrichtlinien vollständig umzusetzen. Dies sollte schnellstmöglich geschehen. Darüber hinaus sollte eine weitere Harmonisierung im Bereich der Finanz- und Steuerpolitik angestrebt werden.
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Mit der Agenda 2000 wurde der Finanzrahmen der EU bis zum Jahre 2006 festgeschrieben. Die Ausgabenpolitik der EU wird jedoch vor Auslaufen der Agenda 2000 einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Die Reform der Strukturpolitik sollte weiter vorangetrieben werden, um die Durchführung der Interventionen zu vereinfachen und Effizienz und Kontrolle zu verbessern.
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Die Einführung des EURO wird im Jahr 2002 bei den Menschen in allen "EURO-Staaten" zu einer ganz neuen Europa-Erfahrung führen und einen besonderen Sog auf alle anderen Mitglieds- und Kandidatenstaaten ausüben. Allerdings ist ein Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nur dann möglich, wenn die Kriterien hierfür erfüllt werden. Kurz- bis mittelfristig kann es für die neuen Beitrittskandidaten sogar von Vorteil sein, wenn sie der WWU zunächst nicht beitreten und durch günstige Wechselkurse verstärkt Investitionen anlocken.
Europa als Akteur der internationalen Politik
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Die EU wird in Zukunft größere internationale Verantwortung zu übernehmen haben. In wirtschaftlichen Fragen ist die EU bereits als wichtiger globaler Akteur anerkannt. Nun gilt es auch politisch eine der internationalen Bedeutung und den eigenen Interessen angemessene Rolle zu spielen. Dies wird nur gelingen, wenn die EU-Mitgliedstaaten stärker als bisher mit einer Stimme sprechen und gemeinsam handeln. Dazu bedarf es vor allem des politischen Willens. Längerfristig sollte die EU mit einem gemeinsamen Sitz im UN-Sicherheitsrat vertreten sein. Ein näherliegendes Ziel sollte sein, dass die beiden europäischen Staaten mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat dort in der EU abgesprochene Positionen vertreten.
A: Die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)
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Die EU verfügt im Bereich der Handelspolitik und als größter Geber von Entwicklungszusammenarbeit über zahlreiche Instrumente, die zur zivilen Bewältigung von Krisen eingesetzt werden können. Diese Mittel gilt es zukünftig stärker auf das Ziel der Krisenprävention auszurichten und kohärenter zur Wirkung zu bringen.
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Der Militäreinsatz der NATO im Kosovo hat die Schwäche der Europäer auf dem Gebiet der Krisenprävention Verbeugung und des militärischen Krisenmanagements deutlich vor Augen geführt. Die EU hat daraus die nötigen Konsequenzen gezogen. Künftig will die EU über ein notwendiges ziviles und militärisches Instrumentarium verfügen, das ein Krisenmanagement ermöglicht und somit auch eine erhöhte Verantwortung im sicherheitspolitischen Bereich erlaubt. Der Weg dahin ist noch weit, doch sind die Fortschritte der letzten zwei Jahre auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beachtlich. Die Aufgabe der kollektiven Verteidigung soll dagegen auch künftig der NATO vorbehalten bleiben. Das Bündnis wird auch in Zukunft ein unentbehrlicher Partner im Bereich von den militärischen Einsätzen in Krisenherden sein.
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Der Gipfel von Nizza hat das Ziel bekräftigt, im Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bis 2003 Operationsfähigkeit zu erreichen. Trotzdem werden NATO-Ressource noch lange für die Durchführung von Einsätzen durch die EU unentbehrlich bleiben. Daher sind eine enge Verzahnung der Streitkräfteplanung ebenso wie Mechanismen für enge Konsultationen zwischen beiden Organisationen vorgesehen. Die Teilnahme an EU-geführten Operationen steht allen Bündnismitgliedern offen.
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Beim Aufbau von Institutionen ist die ESVP schon weit vorangeschritten. Die Frage, in welcher Weise eine parlamentarische Beteiligung an bzw. Kontrolle von Entscheidungen zu gewährleisten ist, hat bislang noch nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten. Diese Frage muss geklärt werden.
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Eine erfolgreiche ESVP wird nicht nur von den dafür nötigen Institutionen abhängen, sondern davon, ob auch wirklich alle notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dies wird große Anstrengungen erfordern. Die wichtigste Voraussetzung für einen Erfolg dieser Planungen liegt jedoch in der Fähigkeit und im Willen zum gemeinsamen politischen Handeln der europäischen Staaten.
B: Gemeinsame Ziele für die Außenbeziehungen der Europäischen Union
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Auf dem Hintergrund der europäischen Geschichte und der unterschiedlichen Traditionen der einzelnen Länder ist die Gestaltung einer wirklich gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik ein schwieriger Prozess.
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In "Gemeinsamen Strategien" für die Politik gegenüber Russland, der Ukraine und dem Mittelmeerraum hat die EU sich auf wichtige Grundorientierungen in der Politik gegenüber den Nachbarregionen geeinigt. In "Partnerschafts- und Kooperationsverträgen" mit Russland und der Ukraine sowie im "Barcelona-Prozess" sind wesentliche Grundlagen gelegt und Instrumentarien entwickelt. Diese sollen ausgeschöpft werden. Gerade im Hinblick auf die Gestaltung der Beziehungen mit den östlichen Nachbarn bringt Polen seine besonderen Erfahrungen zugunsten eines konstruktiven Dialogs und weitreichender Zusammenarbeit ein und wird dies auch in Zukunft tun.
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In den letzten Jahren hat die Ostseekooperation eine hohe Intensität erreicht. Deutschland und Polen haben dabei eine aktive Rolle gespielt. Mit dem Beitritt Polens und der baltischen Staaten wird sich das Kooperationspotential weiter erhöhen. Schwerpunkte liegen hier insbesondere in den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung, Kommunikation, Transport, Umweltschutz und Energiepolitik.
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Mit der EU-Erweiterung um Polen und Litauen verändert sich auch die Situation des Kaliningrader Gebietes. Diese veränderte Situation bildet eine große Chance für Russland, da es nach entsprechenden Vereinbarungen viele Vorteile des europäischen Binnenmarktes nutzen könnte. Die Europäische Kommission hat zu der Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und dem Kaliningrader Gebiet in einer Mitteilung an den Rat vom 18.01.01 Vorschläge unterbreitet, die von der polnischen Regierung in einer Stellungnahme vom 20.03.01 positiv bewertet wurden. Wir erwarten die weiteren Reaktionen der russischen Regierung auf die Vorschläge der Kommission. Die Zukunft der Beziehungen zwischen dem Kaliningrader Gebiet und der EU hängt von einer deutlichen russischen Kooperationsbereitschaft und darüber hinaus einer weitgehenden Entmilitarisierung dieses Gebietes ab.
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Die Ostgrenze Polens und anderer heutiger Beitrittsländer wird gleichzeitig EU-Aussengrenze sein, welche den Kriterien des Schengener Durchführungsübereinkommens genügen muss. Es gilt, diese Grenze einerseits kontrolliert und sicher zu gestalten, andererseits Kooperationsstukturen zu entwickeln und zu unterstützen. Die EU will sich an ihren Grenzen vor organisierter Kriminalität und illegaler Einwanderung schützen, gleichzeitig jedoch keine Festungsgrenzen aufbauen, sondern über die Grenze hinweg Kommunikation und Handel treiben sowie Kooperation fördern. Alle im Rahmen der Schengen-Verträge möglichen Instrumente, die diesem Ziel dienen, sollten genutzt und weiterentwickelt werden, wie z.B. die Möglichkeit von langfristig gültigen preisgünstigen Besuchsvisa. An der heutigen deutsch-polnischen Grenze sind in einer ähnlichen Situation wichtige Erfahrungen gemacht worden, die zu nutzen sind.
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Seit Anfang der 90er Jahre arbeiten Polen, Deutschland und Frankreich im sog. Weimarer Dreieck zusammen. Diese Zusammenarbeit kann gerade auch im Zusammenhang der künftigen Gestaltung Europas für gemeinsame Initiativen genutzt werden. Sowohl die Vollendung des begonnenen Erweiterungsprozesses wie auch die Fortführung der europäischen Integration bieten dafür ein weitreichendes Betätigungsfeld.
Unsere gemeinsame Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union war geprägt von dem Gedanken, dass das sich formende Europa des 21. Jahrhunderts auf gemeinsamen Werten, Zielen und einer gemeinsamen Identität aufbaut. Integration bedeutet nicht nur die Teilnahme am gemeinsamen europäischen Markt. Ein geeintes Europa fußt auf einem gemeinsamen und vielfältigen kulturellen Erbe, das auch in Zukunft wichtig bleibt.
Europa befindet sich an einem entscheidenden Entwicklungspunkt. Unser Kontinent war in Folge des 2. Weltkrieges ein halbes Jahrhundert getrennt. Durch die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU wächst Europa ein Stück mehr zusammen. Durch die Erweiterung wird die Europäische Union europäischer und wichtige europäische Traditionen und Regionen werden sie bereichern.
Auch die deutsch-polnischen Beziehungen werden mit der Aufnahme Polens europäisiert. Das vorliegende Papier gibt Denkanstöße, wie vor diesem Hintergrund unsere zukünftigen gemeinsamen Interessen aussehen könnten.
Markus Meckel Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages |
Zbigniew Leraczyk Versitzender der Polnisch-Deutschen Parlamentariergruppe des Sejm der Republik Polen |