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April 03/2000
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essay

Von www.bundestag.de zum e-parlament

Ein Plädoyer für "organisationales" Lernen

Von Herbert Kubicek

Bei der Einführung aller neuen technischen Medien wurde neben einem bequemeren Leben und wirtschaftlichem Wohlstand auch eine Stärkung der Demokratie erwartet. Ohne Zweifel haben das Radio, das Telefon und in ganz besonderem Maße das Fernsehen die Art und Weise, wie Demokratie praktiziert wird, verändert. Darüber, ob das Fernsehen die Demokratie gestärkt hat, streiten die Experten seit langem.

das e-parlament

Mit der Entwicklung des Internet und seinen verschiedenen Diensten, insbesondere E-Mail und World Wide Web, erleben wir zur Zeit die frühe Phase der Entwicklung eines neuen Mediums. Und wieder werden Erwartungen formuliert, dass damit die Demokratie gestärkt werde. Die Prognosen reichen von besserer Information für die Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger über vielfältige Formen der Kommunikation zwischen ihnen und ihren Repräsentanten bis hin zur Erhöhung der Wahlbeteiligung durch elektronische Stimmabgabe im Netz. Neben e-business und e-government soll e-democracy die dritte Säule des Internetzeitalters werden.

Vor allem in den USA, aber auch in Europa entstehen Institute, Netzwerke und Initiativen, die die Entwicklung der elektronischen oder digitalen Demokratie vorantreiben wollen, durch Zusammenstellung des vorhandenen Wissens, durch die Organisation von Diskussionen und durch praktische Experimente. Zu den Klassikern wie dem "Center for Democracy and Technology" in Washington oder "Politik Digital" in Deutschland kommen aktuell etwa die Initiative von Abgeordneten des Europa-Parlaments oder die Unterarbeitsgruppe Digitale Demokratie in der Initiative D21 von führenden Unternehmen der deutschen Wirtschaft.

Der Deutsche Bundestag muss sich in diesem Umfeld nicht verstecken. Es hat zunächst zwar etwas gedauert, aber dann ist unter www.bundestag.de ein inhaltlich und technisch ansprechendes und solides Informationsangebot entstanden. Drucksachen und Protokolle werden aktuell zur Verfügung gestellt. Im Archiv können Recherchen online durchgeführt werden. Man kann die Abgeordneten per E-Mail erreichen. Zu aktuellen Themen werden Diskussionslisten eingerichtet u.a.m.

Über die Recherchen im Archiv freuen sich die Studierenden der Politikwissenschaft und Journalisten. Chats und Diskussionslisten finden eher zurückhaltende Nutzung. Dies gehört ohne Zweifel alles zu einer modernen Öffentlichkeitsarbeit. Aber die Demokratie wird damit noch nicht in erkennbarer Weise gestärkt. Dazu wäre mehr erforderlich, als vorhandene Informationen elektronisch verfügbar zu machen. Auch bei den früheren Phasen des Computereinsatzes in Wirtschaft und Verwaltung musste man lernen, dass erst durch die Reorganisation von Prozessen und die Veränderung von Produkten nachhaltige Verbesserungen erzielt werden konnten. Dies ist bei Parlamenten auch nicht anders.

Aktive Bürgerinformation

Es ist ohne Zweifel bequemer, online im Archiv des Bundestages zu recherchieren, als nach Berlin zu fahren und dies vor Ort zu tun. Aber die meisten Menschen kommen gar nicht auf die Idee. Sie recherchieren überhaupt nicht, weder beim Bundestag noch woanders, sondern lassen dies Journalisten machen und bezahlen diese dafür mit dem Kauf einer Zeitung oder den Fernsehgebühren. Bürgerinitiativen und Verbände, die eine wichtige Rolle in der Demokratie spielen, haben jedoch ohne Zweifel Vorteile von aktuellen und recherchierbaren Informationen. Sie sind in der Regel genauso wie viele Journalisten auf bestimmte Themen spezialisiert.

Eine der Besonderheiten des Internet gegenüber den klassischen Massenmedien ist die Möglichkeit individualisierter Verteilung. Die Datenbanktechnik hinter den www-Angeboten erlaubt es, dass jeder Interessent die ihn interessierenden Themen einmal eingibt und dann über Sitzungen und Anhörungen sowie deren Ergebnisse automatisch informiert wird. Push und Pull als nächste Stufe einer aktiven Informationspolitik.

Transparenz

Zu den Visionen der Stärkung der Demokratie gehört es auch, dass das Verhalten der gewählten Volksvertreter für die Wählerinnen und Wähler über die gesamte Legislaturperiode hinweg transparent wird. Die Debattenbeiträge der einzelnen Abgeordneten könnten auf ihrer Seite innerhalb des Bundestagsangebots aufgelistet und darüber abgerufen werden. Wenn namentlich abgestimmt wird, könnte die Stimmabgabe dort verzeichnet werden. Die Abgeordneten selbst könnten in regelmäßigen Abständen ihren Wählerinnen und Wählern Bericht erstatten und ihr Arbeitsprogramm aktualisieren. Das alles kann bis zur nächsten Wahl fortgeschrieben werden. Dies wäre vermutlich sehr viel attraktiver für die Wählerinnen und Wähler als ein gelegentlicher Chat. Und davon könnte in der Tat eine die Demokratie stärkende Wirkung ausgehen. Hat das Fernsehen die Bedeutung von Bildern und knappen griffigen Formulierungen in den Vordergrund gespielt, würde damit die kontinuierliche Sacharbeit wieder aufgewertet.

Diskussion und Beteiligung

Über elektronische Bürgerbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide ist bereits intensiv diskutiert worden. Die Chancen und Risiken sind deutlich beschrieben. Der verbesserten Möglichkeit der Willensäußerung stehen Risiken der Manipulation, der Abhängigkeit von Werbeetats u.a.m. gegenüber. Gleichwohl werden jeden Tag Meinungsumfragen durchgeführt und publiziert, die die Parlamentarier nicht unbeeinflusst lassen. Die Aneignung von Medien im Sinne des gezielten Einsatzes und des bewussten Verzichts erfolgt in aller Regel auf der Basis von Erfahrungen. Diese muss auch ein Parlament machen können. Zu diesem Zweck muss es experimentieren. Diskussionslisten sind ein kleiner Schritt in diese Richtung. Sie sind jedoch zu unverbindlich und wenig strukturiert. Der Dialog mit Bürgern und Sachverständigen könnte sich zunächst enger an den etablierten Verfahren der Anhörung orientieren. Anhörungen könnten etwa bei technikbezogenen Themen auch einmal komplett online durchgeführt werden. Neben den Stellungnahmen und Fragen und Antworten könnten dann auch noch Kommentare anderer Teilnehmer angenommen und zugeordnet werden. Zu bestimmten Fragen können auch Fragebögen online angeboten werden. Die SPD-Bundestagsfraktion will dies in Bezug auf die anstehende Novellierung des Datenschutzgesetzes probieren. Noch besser wäre es, wenn das auch die Ausschüsse tun würden. Sie können im Hinblick auf Offenheit, Transparenz und Bürgernähe mit entsprechenden Experimenten in einen konstruktiven Wettbewerb treten.

Stimmabgabe bei Wahlen

Bleibt schließlich die Frage nach der elektronischen Stimmabgabe bei Bundestags- und anderen Parlamentswahlen. Für die einen eine Selbstverständlichkeit in einer zunehmend mobilen und vernetzten Gesellschaft, für die anderen ein nicht akzeptables Risiko aufgrund vielfältiger Manipulationsmöglichkeiten. Doch es kann nicht damit getan sein, sich für die eine oder andere Position zu entscheiden und damit das Thema ad acta zu legen: Die Welt bewegt sich weiter. In Kalifornien hat eine Expertengruppe die Sicherheitsprobleme detailliert untersucht und vorerst von der Durchführung elektronischer Wahlen abgeraten. Richtig, sagen die Gegner. Doch an der Lösung der beschriebenen Probleme wird gearbeitet. Bald werden die ersten Erfolge zu vermelden sein. Was sagen die Gegner dann? Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im November will das Pentagon die außerhalb den USA stationierten Soldaten online wählen lassen. In mehreren EU-Staaten gibt es Projekte und Experimente. Man muss sicher nicht mit einer Bundestagswahl anfangen. Es gibt Betriebsrats- und Sozialwahlen, Abstimmungen bei Hauptversammlungen, Vorstandswahlen in Vereinen und Parteien, Kommunal- und Landtagswahlen. Wichtig ist, sich heute dem Thema zu stellen, die Probleme konkret zu benennen und die Bemühungen um Lösungen zu verfolgen, um dann immer wieder neu abzuwägen, welcher Schritt gewagt werden kann.

Lernende Gesellschaft - lernendes Parlament

Das Internetzeitalter wird nicht durch Umlegen eines Schalters und den Wechsel von einem Szenenbild zu einem anderen eingeleitet. Die Nutzung neuer Modelle war immer ein evolutionärer Lernprozess. Dazu gehören individuelle Lernprozesse, aber auch institutionelle Lernprozesse, so genanntes organisationales Lernen. Das heißt, Organisationen sollen lernen. Dazu muss das Lernen organisiert werden. Der Bundestag, d.h. seine Verwaltung, Präsidium, der Ältestenrat und die Fraktionen müssten überlegen, wie sie sich diesem Thema stellen und wie sie Lernprozesse einleiten wollen. Die verschiedenen Initiativen, die sich mit dem Thema im In- und Ausland befassen, dürfen zu Recht erwarten, dass es im Deutschen Bundestag Personen gibt, die ihnen verbindlich sagen können, was kurz- und mittelfristig geplant ist.

Dr. Herbert Kubicek

Hundertprozentige Sicherheit im Sinne eines vollständigen Ausschlusses von Risiken darf man dabei von den neuen technischen Lösungen nicht erwarten. Die gibt es bei den derzeit praktizierten Verfahren auch nicht. Und zum Lernen gehört eine gewisse Risikobereitschaft untrennbar hinzu.

Wenn auch in Zukunft durch Praxis gelernt wird, braucht sich der Deutsche Bundestag auch in drei Jahren noch nicht zu verstecken, wenn das, was heute als innovativ gilt, als selbstverständlich angesehen wird. Der Fortschritt ist insofern unerbittlich. Wer stehen bleibt, fällt zurück. Unternehmen bestraft der Markt. Bei Parlamenten ist nicht so klar, wie die Bestrafung für den Verzicht auf Innovationen erfolgt. Aber soll man es darauf ankommen lassen?

Dr. Herbert Kubicek, Jg. 1946, ist Professor für Angewandte Informatik und Leiter der interdisziplinären Forschungsgruppe Telekommunikation an der Universität Bremen. Von 1995 bis 1998 war er Mitglied der Enquete-Kommission Zukunft der Medien des Deutschen Bundestages. Er leitet u.a. die Arbeitsgruppe Demokratie und Verwaltung im Forum Informationsgesellschaft der Bundesregierung (weitere Informationen unter http://www.fgtk.informatik.uni-bremen.de)

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0003/0003004
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