Deutscher Bundestag
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August 07/1999
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Reform des Deutschen Bundestages

VON WOLFGANG ISMAYER

Diskussionen über eine Reform des Parlaments begleiten den Bundestag seit seinem Bestehen. Eine große Parlamentsreform aus einem Guss kam nicht zustande, doch hat der Bundestag durch mehrere kleinere Reformschübe eine Reihe von insgesamt gesehen bedeutsamen Änderungen des Parlamentsrechts und auch der parlamentarischen Praxis erreicht. Hervorzuheben sind die sog. "Kleine Parlamentsreform" 1969/70, die erst längerfristig wirksame Arbeit der Enquete­Kommission Verfassungsreform (mit ihrem Schlussbericht 1976), Regelungen der neuen Geschäftsordnung 1980, die Aktivitäten der "Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform" und der Ad­hoc­Kommission Parlamentsreform in den 80er Jahren und schließlich die im September 1995 vorgenommenen Reformmaßnahmen.

Die Parlamentsreform erwies sich als notwendiger – aber oft mühsamer und langwieriger – Prozess der Anpassung parlamentarischer Verfahren an sich wandelnde politische und gesellschaftliche Bedingungen. Wenn in einzelnen Reformphasen eher bescheidene Ergebnisse zustande kamen, hat dies u.a. damit zu tun, dass Parlamentarier und auch Wissenschaftler von unterschiedlichen Zielvorstellungen (Parlamentarismus­Modellen) ausgehen. Zwar setzte sich – durch die verfassungsmäßigen Bestimmungen zur Wahl und Abwahl des Regierungschefs begründet – auch in der Parlamentspraxis der Bundesrepublik bis zu einem gewissen Grad ein "neuer Dualismus" von Regierungsmehrheit und Opposition(sfraktionen) durch. Er wurde auch von den Bundestagsabgeordneten als Faktum zunehmend anerkannt, doch gibt es – normativ gesehen – nach wie vor deutliche Unterschiede im Parlamentarismus­Verständnis.

Schon traditionell bestehen divergierende Ansichten darüber, ob der Bundestag in erster Linie Arbeits­ oder Redeparlament sein sollte. Vorherrschende Auffassung bei Reforminitiativen war und ist allerdings, dass er beides sein und somit eine Optimierung von Effizienz, Transparenz und Partizipation angestrebt werden sollte (vgl. Berichte der Enquete­Kommission Verfassungsreform (1976) und der Ad­hoc­Kommission Parlamentsreform (1985)). Er sollte sowohl "Werkstatt der Demokratie" als auch "zentraler Ort des politischen Diskurses" sein (so die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, 1989).

Der Ausbau des Sozial­ und Interventionsstaates seit den 50er (und insbesondere in den 70er) Jahren und damit einhergehend eine Expansion der Ministerial­ und Vollzugsverwaltungen begünstigte allerdings die Entwicklung des "Arbeitsparlaments". Um der (wachsenden) Vielfalt und Komplexität der Gesetzgebungs­ und Kontrollaufgaben gerecht zu werden, haben Bundestag und Fraktionen immer stärker ausdifferenzierte Strukturen ausgebildet. Mit zunehmender fachlicher Spezialisierung nahm allerdings auch der Koordinationsbedarf zu, der zur Einrichtung zahlreicher informeller Koordinations­ und Beratungsgremien führte (Koalitionsgremien, Obleute­ und Berichterstattergespräche). Bedingt durch die Erfordernisse des Arbeitsparlaments und das faktische Monopol der Parteien bei der Rekrutierung der Parlamentarier prägen zudem die Fraktionen die Arbeit im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages, aber auch in den für die Arbeitsplanung zuständigen Gremien. Dabei spielt der mit den Funktionsbedingungen des parlamentarischen Regierungssystems begründete Anspruch der Geschlossenheit bei Abstimmungen und Plenardebatten und sogar bei Fraktionsversammmlungen eine wichtige Rolle – wobei das Ausmaß der einzufordernden Fraktionsdisziplin umstritten war und ist.

Mit dem Wandel der Staatstätigkeit, einem wachsenden Partizipationsinteresse der Bürger seit Mitte der 60er Jahre und der Vervielfältigung und weitgehenden Kommerzialisierung des Angebots der elektronischen Massenmedien haben sich Stellung und Funktionen des Bundestages im Laufe der Zeit deutlich verändert. Einerseits hat sich die politische Aktions­ und Resonanzfähigkeit einer nun vielfältiger organisierten Bürgerschaft qualititativ gewandelt. Andererseits sind mit zunehmendem Bewusstsein der weitreichenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen und Wechselwirkungen neuer technischer Entwicklungen auch die Anforderungen an Gestaltungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein der politischen Entscheidungsträger gewachsen. Dies gilt grundsätzlich auch unter den Bedingungen der Globalisierung, die eine Sicherung des Primats der Politik erschweren.

Mit parlaments­ und verfassungsrechtlichen Reformen suchte der Bundestag einerseits, sich auf derartige Wandlungsprozesse einzustellen, andererseits (vermeintlichen) Fehlentwicklungen entgegen­ zutreten. Tendenziell unterscheiden lassen sich Reformschritte danach, ob sie primär geeignet sind, • erstens die Stellung der parlamentarischen Opposition zu stärken, •zweitens die Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu verbessern oder • drittens die Wirkungsmöglichkeiten einzelner Abgeordneter zu erhöhen.

Reformansätze

Kleine Parlamentsreform

Seit der "Kleinen Parlamentsreform" 1969/70 wurden die Minderheitenrechte schrittweise ausgebaut. Die Stärkung der Opposition vollzog sich dabei im Wesentlichen über einen Ausbau von Fraktionsrechten, womit den Bedingungen eines Mehrparteienparlaments Rechnung getragen wird. Hingegen sind den einzelnen Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) nur wenige Rechte geblieben. Im Rahmen der Reform 1969 wurde ein Quorum von 5 Prozent der Bundestagsmitglieder auch für die meisten Antragsbefugnisse und sonstigen Minderheitenrechte festgelegt. Von Änderungsanträgen abgesehen, bedürfen alle Initiativen (Vorlagen) der Unterstützung durch eine Fraktion oder eine entsprechende Anzahl an Abgeordneten (§§ 75, 76 GOBT: seit 1980).

Verbesserung der Kommunikations­ und Resonanzfähigkeit

Die Kommunikations­ und Resonanzfähigkeit des Bundestages wird seit langem als verbesserungsbedürftig angesehen. Plenardebatten sollen im Interesse demokratischer Legitimation so gestaltet sein, dass sie kritisches Mitdenken und Mitwirken der Bürger ermöglichen und anregen. In mehreren, oft erst nach vielen Jahren durchsetzbaren Reformschritten konnten Verfahrensänderungen erreicht werden, die aber nur teilweise die erwartete Wirkung brachten. Real verbessert wurde seit 1969/70 in kleinen Schritten die kommunikative Chancengleichheit der Opposition(sfraktionen) bei Plenardebatten. So wurde erst 1969 das Prinzip von "Rede und Gegenrede" ausdrücklich in der Geschäftsordnung des Bundestages verankert und festgelegt, dass nach der Rede eines Regierungsmitgliedes eine abweichende Meinung zu Wort kommen solle (§ 28 Abs. 1 GOBT). Die Auswirkungen der jederzeitigen Redebefugnis von Regierungs­ und Bundesratsmitgliedern nach Art. 43 Abs. 2 GG wurden seit der 7. Wahlperiode (1972­76) dadurch gedämpft, dass jeweils zu Beginn der Wahlperiode ein exakter Schlüssel für die Aufteilung der Redezeit für Koalition (Regierung, Koalitionsfraktionen) und Oppositionsfraktion(en) vereinbart wird. Mit dieser Regelung wurde dem engen Verbund von Regierung und Koalitionsfraktionen Rechnung getragen. Als bedeutsam vor allem für die Opposition erwies sich das Recht einer Fraktion, Aktuelle Stunden zu selbst gewählten Themen durchzusetzen. Konnte dies mit ihrer Einführung (1965) nur im Anschluss an eine Fragestunde geschehen, ist es seit der Geschäftsordnungsreform 1980 auch unabhängig davon möglich, wovon reger Gebrauch gemacht wird.

Erweitertes Beratungsrecht

Im Reformjahr 1969 eingeführt und seither schrittweise verbessert (1980, 1995) wurde das den Oppositionsfraktionen dienende Recht, die Beratung eigener Vorlagen auch gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen, was seit 1995 bereits nach drei Wochen möglich ist (§ 20 Abs. 4 GOBT). Außerdem kann eine Fraktion (oder 5 Prozent der Abgeordneten) seit 1970 verlangen, dass über den Stand der Ausschussberatungen Bericht erstattet und auch eine Debatte angesetzt wird. Seit 1980 ist dies zehn Sitzungswochen nach Überweisung einer Vorlage an einen Ausschuss möglich, zuvor galt eine Frist von sechs Monaten (§ 62 Abs. 2 GOBT). Vor diesen Reformen befanden sich die Parlamentarischen Geschäftsführer der Opposition beim Aushandeln der Tagesordnung und der Debattengestaltung in einer schwachen Position, verfügt die Regierung(smehrheit) doch jederzeit über die Möglichkeit, mittels Regierungserklärung eine parlamentarische Debatte durchzusetzen und durch Mehrheitsbeschluss die Aufsetzung einer Vorlage auf die Tagesordnung zu erzwingen (Art. 43 Abs. 2GG; § 20 Abs. 2 GOBT). Auf eine starke Inanspruchnahme dieser Minderheitenrechte verzichtet die Opposition allerdings zumeist, um von den Regierungsfraktionen in anderen Fällen Entgegenkommen zu erreichen.

Öffentliche Anhörung

Eine Minderheit von einem Viertel der Ausschußmitglieder kann seit der Reform 1969 eine öffentliche Anhörung erzwingen – eine Besonderheit im westeuropäischen Vergleich (§ 70 Abs. 1 GOBT). Seither werden zu fast allen bedeutenden Gesetzentwürfen und auch zu anderen Vorhaben öffentliche Anhörungen von Sachverständigen und Interessenvertretern durchgeführt, vornehmlich auf Initiative der Opposition.

Regelmäßige Berichterstattung

Um den Publizitätsvorsprung der Regierung(smehrheit) in den Massenmedien zu verringern, wurde – nicht nur von der Opposition – seit Jahrzehnten eine regelmäßige Berichterstattung der Bundesregierung vor dem Parlament gefordert. Zuvor schon kurzzeitig praktiziert (Kabinettberichterstattung 1973/74, 1985), wurde nach entsprechenden Forderungen der "Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform" (Abg. Hamm­Brücher u.a.) mit verbessertem Verfahren eine "Befragung der Bundesregierung" seit 1988 erprobt und 1990 in der Geschäftsordnung des Bundestages verankert (§ 106, Anl. 7), die mangels ausreichender Informationsbereitschaft der Regierung und Beteiligung der Abgeordneten aber noch immer nicht den Erwartungen entspricht.

Verbesserung der Gestaltungsfähigkeit

Einige Reformschritte waren vornehmlich darauf angelegt, die Gestaltungs­ und Kommunikationsfähigkeit des Bundestages insgesamt zu verbessern. Ohne die seit der Reform 1969 eingetretenen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wären die Abgeordneten und Fraktionen kaum in der Lage, ihren Gestaltungs­ und Kontrollaufgaben gerecht zu werden. Noch weiter gehende Kompetenzverlagerungen hin zur Regierung – und vor allem zur Ministerialbürokratie wären die Folge gewesen. Erst seit 1969 stehen den Abgeordneten Finanzmittel für persönliche Mitarbeiter (in Bonn und im Wahlkreis) zur Verfügung, die von 1.500,– (1969) auf ca. 14.000,– DM monatlich angestiegen sind. Zudem können sie die Hilfe des 1970/71 gegründeten "neutralen" Wissenschaftlichen Fachdienstes nutzen, dessen Kapazität seither allerdings kaum ausgeweitet wurde. Andererseits wuchsen auch die Fraktionsdienste (von 115 im Jahre 1966 auf heute ca. 800) erheblich an, deren Mitarbeiter vor allem den Fraktionsführungen zuarbeiten. Erst in jüngerer Zeit deutlich verbessert wurde die informationstechnische Ausstattung der Abgeordnetenbüros und Fraktionen. Über die im Internet verfügbaren Informationen hinaus kann über ein sukzessive ausgebautes "Intranet" auf weitere interne Informationssysteme zugegriffen werden. Bereits seit 1969 haben die Ausschüsse auch das Recht, sich mit nicht­überwiesenen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich zu befassen (§ 62 GO–BT). Dieses Selbstbefassungsrecht stärkt die Kontrollkompetenz gegenüber Regierung und Ministerialbürokratie im Sinne einer vorhergehenden und begleitenden Kontrolle.

Enquete­Kommissionen

Seit ihrer Einführung 1969 insgesamt bewährt haben sich die grundsätzlich diskurs­ und problemlösungsorientiert angelegten Enquete­Kommissionen, in denen Wissenschaftler und andere Sachverständige mit Abgeordneten gleichberechtigt beraten und Berichte an das Plenum beschließen (§ 56 GOBT). Bisher wurden 26 Enquete­Kommissionen mit der Aufgabe eingerichtet, komplexe Entwicklungen zu erfassen und zukunftsgerichtete Gestaltungsvorschläge zu erarbeiten. Thematische Schwerpunkte waren neue Technologien und ihre ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen. Seit der Reform des Petitionsrechts 1975 verfügt der seither im Grundgesetz verankerte Petitionsausschuss (Art. 45c) über ein Zuständigkeitsmonopol und über ausgeprägte Inspektionsrechte gegenüber der Exekutive, die allerdings – entgegen den Forderungen der Opposition – nicht als Minderheitenrechte festgelegt wurden. Auf einen "allzuständigen" Bürgerbeauftragten (Ombudsmann), wie er mittlerweile in den meisten westlichen Demokratien existiert, wurde bisher verzichtet.

"Verlebendigung" der Plenardebatten

Zu den genannten Debattenregelungen kamen weitere hinzu, welche eine "Verlebendigung" der Plenardebatten bewirken und die Transparenz des parlamentarischen Geschehens erhöhen sollten – ein Dauerthema der Parlamentsreform. Hierzu gehört neben einer schrittweisen Verkürzung der Redezeiten (seit den 70er Jahren) in den 80er Jahren die Durchsetzung einer diskussionsfreundlichen Regelung für Zwischenfragen und Kurzinterventionen, die sich auch bewährt hat. Um das öffentliche Interesse an vertieften Plenardebatten zu wichtigen Themen zu erhöhen und die Glaubwürdigkeit des Bundestages zu verbessern, wurde im Rahmen der Parlamentsreform 1995 eine seit langem geforderte "Plenar­Kernzeit" eingeführt (Donnerstagvormittag), in der wichtige Themen bei starker Präsenz der Abgeordneten regelmäßig vom Fernsehen übertragen werden; die Praxis der Kernzeit­Debatten wird den Erwartungen aber nur teilweise gerecht. Um der Gouvernementalisierung und Hierarchisierung der Politikvermittlung entgegenzuwirken, wurde seit langem ein "Parlamentskanal" gefordert, auf dem alle Plenardebatten und ggf. öffentliche Ausschusssitzungen (Anhörungen) sowie Erläuterungen und Zusammenfassungen übertragen werden sollten. Entsprechend angelegt ist das Programm des seit 1997 gemeinsam von ARD und ZDF betriebenen Ereignis­ und Dokumentationskanals "Phoenix", das zudem über das Angebot eines reinen Parlamentskanals weit hinausreicht.

Seit 1995 ist es nach der Geschäftsordnung möglich, die Schlussberatung von überwiesenen Vorlagen in Form einer erweiterten öffentlichen Ausschusssitzung des federführenden und der mitberatenden Ausschüsse (§ 69a GOBT) durchzuführen – womit der Bundestag einen seit Jahrzehnten diskutierten Vorschlag der Enquete­Kommission Verfassungsreform (1976) aufgegriffen hat. Ob sich die erwartete Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit, Transparenz und Effizienz der parlamentarischen Willensbildung einstellen kann, wird davon abhängen, ob dieses bisher nur selten angewandte Verfahren künftig häufiger und intensiver genutzt wird.

Einzelne der auf die Stärkung der Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt abzielenden Reformen sind auch geeignet, die Stellung des einzelnen Abgeordneten zu stärken, so die verbesserte personelle Zuarbeit für Parlamentarier und die Regelungen für Zwischenfragen und Kurzinterventionen. Einige sind zudem so angelegt, dass sie – bei entsprechender Nutzung – zur Stärkung der Opposition(sfraktionen) beitragen können.

Mehr Transparenz der staatlich­politischen Willensbildung

Angesichts der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse haben sich die Anforderungen an die Gestaltungsfähigkeit der politischen Entscheidungsträger wie auch die Forderungen nach mehr Transparenz der staatlich­politischen Willensbildung und deren laufende kommunikative Basisrückbindung erhöht. Eine angemessene Stärkung des Bundestages als oberstem Organ politischer Willensbildung und damit auch der Politik gegenüber der Administration, der Wirtschaft und einflussreichen Verbänden kann allerdings nicht bedeuten, die enge Verbindung von Regierung und Koalitionsfraktionen in Frage zu stellen, die für das parlamentarische System konstitutiv ist. Ziel ist es vielmehr, unter Beachtung der verfassungspolitischen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik die parlamentarische Seite in diesem Verbund, aber auch die Stellung der demokratisch legitimierten politischen Führung (Regierung/Parlamentsmehrheit) insgesamt gegenüber der Ministerialbürokratie, der Wirtschaft und einflussreichen Verbänden zu stärken. Neben weiteren Änderungen der GOBT sind auch Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes geboten, weil das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander berührt ist. Noch in konstitutioneller Tradition stehende Bestimmungen sollten durch Neuregelungen ersetzt werden, die der spezifischen Rolle der Opposition(sfraktionen) gerecht werden. Entsprechende Vorstöße der Oppositionsparteien nach der deutschen Vereinigung fanden weder in der "Gemeinsamen Verfassungskommission" noch im Bundestag die erforderliche 2/3­Mehrheit.

Weiter angestrebt werden sollten Parlaments­ und Verfassungsreformen insbesondere in den folgenden Bereichen:

  • Im Grundgesetz sollten Informations­, Auskunfts­ und Aktenvorlagepflichten der Regierung gegenüber dem Bundestag und vor allem gegenüber parlamentarischen Minderheiten verankert werden, wie sie nach dem Vorbild Schleswig­Holsteins (1990) in mehrere Landesverfassungen aufgenommen wurden. Noch immer fehlt im Grundgesetz selbst eine ausdrückliche Normierung des Frage­ und Interpellationsrechts der einzelnen Abgeordneten und parlamentarischer Minderheiten. Zudem sollten Referentenentwürfe, Kommissionsberichte und An­hörungsprotokolle der Regierung den Fraktionen rasch zugänglich gemacht werden, alle anderen bei der Vorbereitung eines Gesetzentwurfs verwendeten Materialien einschließlich erarbeiteter Alternativkonzepte spätestens zum Zeitpunkt der Einbringung eines Gesetzentwurfs. Seit langem stehen eine verfassungsmäßige Verankerung der Enquete­Kommissionen mit der Sicherung von Inspektionsrechten sowie Auskunfts­ und Kontrollbefugnisse als Minderheitenrecht in Petitionsausschüssen an, ferner ein Untersuchungsausschussgesetz mit Verfahrensverbesserungen im Interesse der Opposition.

  • Durch eine Reihe aufeinander abgestimmter Einzelmaßnahmen sollte die Analyse­ und Beratungskapazität der Abgeordneten und Fraktionen so ausgebaut werden, dass sie sich in gewissem Umfang auch unabhängig von gouvernemental und administrativ geprägten Vorlagen und Informationen sachkundig machen können. Insbesondere auf Aus­ schußebene sind Verbesserungen erforderlich, so u.a. bei der Vorarbeit und Nachbereitung von öffentlichen Anhörungen und der Auswertung von Regierungsberichten. Zudem sollte die gegenwartsnahe Beratung der Abgeordneten und Ausschüsse durch den Bundesrechnungshof stärkeres Gewicht erhalten.

  • Dem Ziel, die Kommunikationsfähigkeit und Transparenz des Bundestages zu verbessern, dienen eine Reihe sukzessiv eingeführter Regelungen, die nur teilweise im angestrebten Sinne umgesetzt werden. So steht eine den Reformzielen gemäße Praxis bei der Regierungsbefragung, der "Plenar­Kernzeit" und insbesondere bei der "Erweiterten öffentlichen Ausschussberatung" noch aus.

  • Neue Formen und Foren der Bürgermitwirkung und des öffentlichen Diskurses könnten der produktiven Verknüpfung von Bürgeraktivitäten und parlamentarischen Verfahren dienen. Der Petitionsausschuss sollte bei Anliegen von öffentlichem

    Interesse häufiger Petenten anhören und Abordnungen von Massenpetitionen empfangen. Darüber hinaus könnte der in der "Gemeinsamen Verfassungskommission" ein­ gebrachte, jedoch abgelehnte Vorschlag erneut aufgegriffen werden, bei Massenpetitionen von mindestens 50.000 Stimmberechtigten den Petitionsausschuß verfassungsrechtlich zur Anhörung zu verpflichten.

Ein Initiativrecht der Bürger?

Weiterführend wäre die verfassungsrechtliche Verankerung eines Initiativrechts der Bürger, wie es nach dem Vorbild Schleswig­Holsteins bereits in mehreren neuen Landesverfassungen institutionalisiert und – erfolglos – in der "Gemeinsamen Verfassungskommission" auch für den Bund vorgeschlagen wurde. Auf Verlangen einer bestimmten Anzahl von Bürgern sollte der Bundestag verpflichtet sein, sich mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung (z.B. einem Gesetzentwurf) zu befassen und Vertreter der Initiativen anzuhören, wenn diese es wünschen. In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es, dass die Vertreter der Initiative berechtigt sein sollten, ein Volksbegehren zu beantragen, wenn das Parlament einem Gesetzentwurf nicht zustimmt, und dass bei dessen Annahme ein Volksentscheid durchgeführt werden muss. Nachdem direktdemokratische Sachentscheidungsverfahren im Zuge eines "Demokratisierungsschubs" in den 90er Jahren mittlerweile in allen Bundesländern und auf kommunaler Ebene in allen Flächenstaaten eingeführt worden sind und vielfach praktiziert wurden, scheint eine entsprechende Verfassungsreform auch auf Bundesebene an der Zeit. Dabei bietet sich ein dreistufiges Verfahren der "Volksgesetzgebung" an, das vor allem auf der ersten Stufe die parlamentarische Ebene mit jener der Aktivbürger und Initiativen produktiv verknüpft.

Den genannten Kriterien und Zielvorstellungen entsprechende weitere Reformschritte sollten so aufeinander abgestimmt sein, dass sie kumulativ wirksam werden können und das Parlament (noch) besser in die Lage versetzen, veränderten Gestaltungs­ und Repräsentationsansprüchen gerecht zu werden.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9907/9907044
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