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Dezember 11/1999
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Jugendgewalt

Was können Politik und Gesellschaft tun?

Jugendgewalt

"Jugendlicher Amokläufer erschießt vier Menschen in Bad Reichenhall", "Lehrerin in Meißen von eigenem Schüler erstochen", "Schüler nach Pausenstreit mit Messer schwer verletzt" - Überschriften, wie sie so oder ähnlich in den vergangenen Wochen zu lesen waren. Politiker, Wissenschaftler und Eltern diskutieren, warum Jugendliche in immer stärkerem Maße Gewalt anwenden, warum sie von Mitschülern Geld erpressen, Senioren überfallen, sich Messerstechereien liefern. Im Forum von Blickpunkt Bundestag nehmen Vertreter der fünf Bundestagsfraktionen zu der Frage Stellung, was Politik und Gesellschaft gegen diese Entwicklung tun können. Die Antworten fallen zwar in den Einzelheiten unterschiedlich aus. Einig sind sich aber alle Abgeordneten, dass eine Besserung nur durch Prävention (Vorbeugung) erreicht werden kann.

Hildegard Wester, SPD
Hildegard Wester, SPD

Unser Ziel ist die Ächtung jeglicher Gewalt

Ein wesentliches Ziel unserer Politik ist die Ächtung jeglicher Form von Gewalt, sei es gegen Menschen oder gegen Sachen.

Die Koalitionsfraktionen haben deshalb einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der eine Erziehung von Kindern ohne Gewalt als gesellschaftliches Leitbild im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankern will. Denn aus Umfragen und Untersuchungen der letzten Jahre ergibt sich, dass in Familien die Anwendung körperlicher Gewalt noch weit verbreitet ist. Gleichzeitig belegen Untersuchungen, dass Opfer elterlicher Gewalt später vermehrt selbst Gewalt anwenden. Um diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen und eindeutig klarzustellen, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist, sieht der Gesetzentwurf ein Recht des Kindes auf Schutz vor jeder Form von seelischer und körperlicher Gewaltanwendung vor.

Mit diesem Ansatz wird bereits deutlich, dass die Prävention gegen Jugendgewalt und Jugendkriminalität hohe Priorität haben muss. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist eine Prävention, die bei den sozialen Ursachen ansetzt, von entscheidender Bedeutung.

Armut verhindern - Werte stärken

So muss beispielsweise der zunehmenden Armut von Kindern und Jugendlichen sowie dem Verlust von Werten und familiären Bindungen begegnet werden. Die Demokratie darf die junge Generation nach der Schule nicht in die berufliche Perspektivlosigkeit entlassen. Deshalb muss insbesondere die Lehrstellen- und Arbeitsmarktsituation mit Nachdruck weiter verbessert werden. Das 100.000- Jobs-Programm (JUMP - Jugend mit Perspektive) ist hier ein sehr erfolgreicher Einstieg gewesen. Es wird fortgesetzt. Ein umfassendes Präventivkonzept umfasst auch die Integration von Spätaussiedlern und ausländischen Jugendlichen durch die kontinuierliche Umsetzung von Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Benachteiligungen dieser Menschen auszugleichen, ihre Chancen, insbesondere beim Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, zu verbessern und ihr Selbstwertgefühl zu stärken.

Eine wirksame Prävention muss insbesondere auch die gefährdeten und oftmals gewaltbereiten Jugendlichen sozusagen dort abholen, wo sie stehen. Dies kann beispielsweise geschehen durch Straßensozialarbeit (Streetwork), mobile Jugendarbeit, soziale Gruppenarbeit und andere Formen niedrigschwelliger, aufsuchender Sozialarbeit. Ergänzend müssen gewaltvorbeugende und gewaltmindernde Projekte der Jugendarbeit verstärkt angeboten werden: etwa Freizeitangebote mit kulturellem oder erlebnispädagogischen Inhalten, Gemeinschaftsarbeit, betreutes Wohnen sowie Werkstatt- und Arbeitsprojekte. Erfahrungen belegen, dass vor allem jüngere Jugendliche mit sozialpädagogischer Arbeit erreicht werden können, wenn die Angebote mehrdimensional sind und einen hohen Gebrauchswert haben. Prävention muss sich vom Grundsatz "Erziehung vor Strafe" leiten lassen.

Eltern, Schulen, Medien intensiv beteiligen

Die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen gegen Kinder- und Jugendkriminalität sowie zur Senkung von Gewaltneigung bei Jugendlichen ist auch abhängig von der intensiven Beteiligung von Eltern, Schulen und Medien. Aber auch Jugendarbeit und Jugendhilfe sind hier gefordert.

Bundesjugendministerin Dr. Christine Bergmann hat das Programm "Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten (E & C)" initiiert. Um die Situation von Kindern und Jugendlichen in sozialen Brennpunkten gezielt zu verbessern, wurde hier ein neuer Ansatz in der Jugendpolitik entwickelt. Eine Vielzahl von jugendpolitischen Maßnahmen und Strukturen werden zu einem Gesamtprojekt zusammengefasst, um so Lücken im Angebotsnetz der Jugendhilfe für sozial benachteiligte Jugendliche zu schließen. Im Rahmen dieses Programms werden erstmals Maßnahmen des Kinder- und Jugendplanes des Bundes in Zusammenarbeit mit Trägern aus allen Bereichen vernetzt und umgesetzt.

Maria Eichhorn, CDU/CSU
Maria Eichhorn, CDU/CSU

Vorbeugung hat Vorrang bei Jugendproblemen

Was können Politik und Gesellschaft tun? Obwohl der überwiegende Teil der Jugendlichen Gewalt ablehnt, steigt die Anzahl minderjähriger Straf- und Gewalttäter an. Die CDU/CSU nimmt das Problem der Jugendgewalt sehr ernst und hat in der Vergangenheit zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die sowohl bei Fehlverhalten von jungen Menschen greifen als auch die Eltern unterstützen. Priorität bei der Bekämpfung von Jugendproblemen und Jugendgewalt hat die Prävention. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das 1991 in Kraft trat, leistet hier einen wichtigen Beitrag. Bei Bedarf müssen aber auch die Möglichkeiten des Jugendstrafrechts konsequent angewendet werden.

Familie und Schule müssen Werte vermitteln

Gewaltbereite und gewalttätige junge Menschen brauchen Unterstützung. Die Kinder- und Jugendhilfe kann den Betroffenen Hilfestellungen anbieten, die Erziehungsverantwortung der Eltern und den Erziehungsauftrag der Schulen aber nicht ersetzen. Die Vermittlung von Werten muss in Familie und Schule wieder mehr im Mittelpunkt stehen.

Defizite bei der Umsetzung des Jugendhilferechts sind zu beseitigen. Ziel in der Familienbildung und Familienberatung ist es, eine breitere Zielgruppe als bisher zu erreichen. Die Anlauf- und Beratungsstellen müssen insbesondere in sozialen Brennpunkten ausgebaut, besser ausgestattet und so gestaltet werden, dass sie im Wesentlichen präventiv arbeiten können. Die Jugendämter sind auf enge Zusammenarbeit mit Eltern, Schulen, Polizei und den Gerichten angewiesen. Daher ist eine stärkere Vernetzung der unterschiedlichen Aufgaben erforderlich.

Zur Prävention gehört aber auch der Ausbau der familiengerechten Betreuung für Kinder und Jugendliche.

Bildungs- und Jugendpolitik müssen sich mit den Motiven von Gewalttätigkeit auseinander setzen. Die Regierung Helmut Kohl hat seit 1992 die Initiative gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit sowie weitere Programme gegen Aggression und Gewalt ins Leben gerufen, um gewaltgeneigten Jugendlichen Wege zu einem gewaltfreien Miteinander aufzuzeigen.

Neben der Prävention dient auch das Jugendstrafrecht der Erziehung. Auf Fehlverhalten von Kindern und Jugendlichen muss schnell reagiert werden, damit ihnen Recht und Unrecht deutlich gemacht und die Verantwortlichkeit für ihr Handeln sowie die Konsequenzen hieraus bewusst werden. Maßnahmen der Wiedergutmachung und der Täter-Opfer-Ausgleich sind besonders geeignet für junge Menschen. Die Strafverfolgungsbehörden müssen hier umdenken.

Medienpädagogik in die Lehrpläne aufnehmen

Für jugendliche Serientäter ist die geschlossene Heimunterbringung ein geeignetes Mittel zur Erziehung. Ob Jugendliche in eine geschlossene oder teilgeschlossene Einrichtung eingewiesen werden, ist aber immer eine Einzelfallentscheidung. Diese Heime sind keine "Verwahranstalten", sondern pädagogische Einrichtungen, die auf eine differenzierte, stark organisierte Angebotsstruktur und Therapie setzen.

Gewaltdarstellungen in den Medien und neuen Medien können Jugendliche zur Nachahmung verleiten. Medienverantwortliche und Produzenten sind hier ebenso in der Verantwortung wie die Eltern und die Erzieher in Kindergarten und Schule. Die CDU/CSU fordert, Medienpädagogik und Medienerziehung in die Lehrpläne und Lehrerbildung mit aufzunehmen. Das 1997 verabschiedete Informations- und Kommunikationsdienstegesetz bildet die Grundlage für den Jugendschutz in den neuen Medien auf nationaler Ebene. Da das Internet weltweit arbeitet, fordern wir die Bundesregierung auf sich dafür einzusetzen, zum Schutz der Jugend verbindliche internationale Vereinbarungen zu treffen.

Christian Simmert, B90/Die Grünen
Christian Simmert, B90/Die Grünen

Perspektiven für Junge verhindern Gewalt

Das Thema "Jugendgewalt" steht immer dann im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion, wenn sich bestürzende und tragische Fälle jugendlicher Täter ereignen. Schnell - ja schon reflexartig - stehen auch immer diejenigen bereit, die "Kinderknäste" oder die Absenkung der Strafmündigkeit fordern. Bekanntermaßen sind diese "Steinzeit-Parolen" kaum tauglich, um sich mit der Gewalt unter Jugendlichen ernsthaft auseinander zu setzen und ihr entschieden entgegenzutreten.

"Steinzeit-Parolen" helfen nicht weiter

Es geht darum, die Hintergründe und Ursachen zunehmender junger Gewalttätigkeit zu kennen und gesellschaftliche Handlungsoptionen daraus abzuleiten. Wenn wir über Jugendgewalt reden, reden wir nicht nur von Jugendlichen als Tätern, sondern auch als Opfer. Dass Gewalt unter jungen Menschen zunimmt, haben Christian Pfeifer und Peter Wetzels in ihrer 1998 veröffentlichten Studie nachgewiesen. Danach hat sich "das Risiko junger Menschen, Opfer einer Gewalttat zu werden, seit Mitte der 80er weit stärker erhöht als in den zwölf Jahren zuvor". Analog dazu ist auch die Anzahl junger Strafverdächtiger gestiegen. In den unterschiedlichen Altersgruppen ist Gewalt um das 3,3fache und bei Heranwachsenden um ca. vier Fünftel angestiegen.

Entscheidend für das Zurückdrängen der Gewalt ist neben der Prävention konkreter Gewalttätigkeit in erster Linie die Bekämpfung ihrer Ursachen. Das Erpressen von Schülerinnen und Schülern durch die Altersgenossen oder das Zusammenschlagen eines Aussiedlers - all dies fällt nicht vom Himmel, es hat strukturelle Gründe.

Die soziale Situation, so die Anwesenheit von Armut, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe, Erwerbslosigkeit junger Menschen und Erfahrung mit Gewalt in der eigenen Familie, kann zu Gewalt gegen andere führen.

Genau hier liegt die Aufgabe staatlicher und gesamtgesellschaftlicher Initiativen. Nicht ritualisierte Forderungen nach mehr "law and order" geben jungen Frauen und Männern Perspektive, Engagement für Perspektiven von Jugendlichen verhindert, zumindest mittelfristig, Gewalt.

Programm der Regierung weist den richtigen Weg

Die rot-grüne Bundesregierung hat nicht nur deshalb mit ihrem Programm "Jugendliche in sozialen Brennpunkten" einen richtigen Weg gefunden, um mit der Mischung aus nachgehender Jugendsozialarbeit, partizipativen Ansätzen und beschäftigungsfördernden Elementen soziale und berufliche Perspektiven für junge Menschen zu schaffen. Ebenso wie mit dem Sofortprogramm gegen Jugenderwerbslosigkeit müssen wir Jugendlichen Chancen eröffnen und ihnen sagen: "Wir grenzen euch nicht aus, wir lassen euch mit euren Problemen nicht allein." Dies gilt auch für Gewalt in der Familie. Das von Rot-Grün auf den Weg gebrachte Gesetz zur gewaltfreien Erziehung ist deshalb nicht nur ein wichtiges Symbol, um den Teufelskreislauf von Gewalterfahrung, die zur Anwendung von Gewalt führt, zu durchbrechen.

Bündnis 90/Die Grünen ist es besonders wichtig, die soziale, kommunikative, interkulturelle und emotionale Kompetenz von Jugendlichen zu fördern. Emanzipatorische Jungen- und Mädchenarbeit muss daher einen höheren Stellenwert in der Jugendpolitik bekommen. Ebenso müssen die unterschiedlichen Programme in größerem Maße die Bedürfnisse junger MigrantInnen berücksichtigen.

Wir müssen junge Menschen stark machen, damit sie auf Gewalt verzichten. Sie müssen die Fähigkeit erwerben, Konflikte mit Worten zu lösen und nicht mit Fäusten zuzuschlagen.

Klaus Haupt, F.D.P.
Klaus Haupt, F.D.P.

Der Schlüssel liegt in der Familie

Die jüngsten Mordfälle durch Jugendliche in Meißen und Bad Reichenhall haben Entsetzen und Abscheu ausgelöst. Gewaltanwendung durch Jugendliche nimmt zu. Das muss in der Öffentlichkeit große Sorgen bereiten. Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig und komplex.

Die massenhafte Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit gilt heute als wichtige Ursache für Jugendkriminalität. Besonders für die Zukunft der neuen Länder ist der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit von entscheidender Bedeutung. Die Jugend unseres Landes muss eine Perspektive für die Zukunft haben.

Neben der Arbeitslosigkeit besteht eine Ursache für die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen aber auch in der heutigen Freizeitgestaltung. Diese ist mittlerweile sehr konsumorientiert und bietet sowohl körperlich als auch geistig oder seelisch zu wenig Anregungen und Chancen zur Entfaltung.

Der Jugend Chancen zur Entfaltung bieten

Auch für die Freizeitgestaltung gilt: Wir müssen der Jugend Chancen bieten, Talente und Fähigkeiten zu entfalten - eine Aufgabe zu haben. Dazu gehört die Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeit in unserer Gesellschaft, dazu gehört ein attraktives und modernes Angebot der Vereine für Sport, Kultur und gesellschaftliches Engagement. Hier ist nicht nur der Staat, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes und jeder Einzelne gefordert. Kino, Fernsehen, Computerspiele, Internet haben großen Einfluss auf die psychische und soziale Entwicklung junger Menschen. Durch übermäßigen Medienkonsum werden junge Menschen nicht nur von sinnvoller Freizeitgestaltung abgehalten, sondern ihnen werden Verhaltensmuster als Ideal vorgestellt, die nicht sozialverträglich sind. Wenn Kinder und Jugendliche in den Medien ständig exzessive Gewalt als erfolgreichen Weg der Selbstbehauptung vorgestellt bekommen, wird es schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Hier kommt den Medien eine immense Verantwortung zu. Die bisherigen Instrumentarien der Selbstkontrolle der Medienwirtschaft scheinen dem noch nicht gerecht zu werden. Verstärkte Medienpädagogik kann einen wichtigen Beitrag leisten - allein lösen kann die Medienpädagogik das Problem aber nicht.

Eine bedeutsame Rolle muss auch die Schule übernehmen. Kinder müssen nicht nur Faktenwissen vermittelt bekommen, sondern auch in Charakter und Selbstvertrauen gebildet werden. Sie müssen früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, die Grenzen der eigenen Freiheit zu kennen. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille. Schule muss Werte vermitteln, muss auch Grenzen aufzeigen. Schule ist ein wichtiges soziales Übungsfeld für Dialog und Kritikfähigkeit. Dem muss die Ausbildung der Lehrer stärker Rechnung tragen.

Erziehung muss gewaltfrei sein

Die Statistik zeigt deutlich, dass Kinder, die Gewalt in ihrer Familie erleben, später häufiger selbst Täter werden. Wir Liberalen haben in der alten Regierungskoalition durch eine Gesetzesänderung ausdrücklich "entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen" verboten. Gesellschaftliches Leitbild jeder Erziehung muss die Freiheit von Gewalt sein. Die jetzt vorgeschlagene Gesetzesänderung ist als Signal zur Verdeutlichung dieses Anliegens zu begrüßen. Doch bedarf es aus Sicht der F.D.P. vor allem einer verstärkten Aufklärung bei den Eltern über die Notwendigkeit und Möglichkeit gewaltfreier Erziehung. Ohne engagierte Zusammenarbeit und guten Willen des Elternhauses sowie der Gesellschaft als Ganzes können wir das Problem kaum lösen.

Denn: Das wichtigste Element im Kampf gegen Jugendgewalt ist die Familie. Kinder leiden in unserer Gesellschaft vor allem an emotionaler Armut. Wenn Eltern ihren Kindern Geborgenheit und Selbstvertrauen vermitteln, dann bestehen gute Chancen, dass die so erzogenen Jugendlichen so viel Charakter entwickeln, dass sie auch Frustrationen gewachsen sind, ohne Gewalt als Ausweg zu suchen.

Sabine Jünger, PDS
Sabine Jünger, PDS

Gewalt: Nur ein Problem der Jugend?

Jugend war und ist zu allen Zeiten Spiegelbild der Gesellschaft. Das heißt, wenn es ein Gewaltproblem gibt, dann trifft das auf die ganze Gesellschaft zu und eben nicht nur auf Jugendliche. Kinder und Jugendliche sind eben nicht nur - in Ausnahmefällen - Gewalttäter, sondern in ungleich höherem Maße Opfer von Gewaltverhältnissen. Insofern sollten spektakuläre Gewalttaten wie die in Bad Reichenhall oder in Meißen nicht reflexhaft in repressiven Forderungen nach Strafverschärfung bis hin zum Wegschluss von Kindern und Jugendlichen in geschlossenen Einrichtungen münden.

Vielmehr sollten nicht erst solche Gewaltexzesse, sondern die alltäglichen Meldungen über Gewalt unter Jugendlichen, Gewalt an Schulen oder die Zunahme fremdenfeindlicher Gewalt ein Nachdenken über die Ursachen und über die von Gewalt geprägte gesellschaftliche "Normalität" herbeiführen.

Lernen, Konflikte anders zu lösen

Studien belegen, dass nach wie vor drei Viertel aller Eltern in Deutschland Körperstrafen praktizieren. Zudem erleben Kinder und Jugendliche häufig gewalttätige Konflikte zwischen ihren Eltern und erleben unmittelbar die alltägliche Männergewalt gegen Frauen. Gewalt erscheint unter solchen Sozialisationsbedingungen zwingend als gerechtfertigte Sanktion für missliebiges Verhalten und als normale Konfliktlösungsstrategie.

Gewalt, ob in der Familie, der Schule oder auf der Straße, darf nicht hingenommen werden. Notwendig ist ein gesellschaftliches Klima, das Gewalt in den Beziehungen zwischen Menschen nicht toleriert. Zu Hause, in Kindertagesstätten, an Schulen müssen Kinder und Jugendliche - aber nicht nur sie, sondern auch Erwachsene - lernen, wie Konflikte ohne körperliche Gewalt auszutragen sind.

Soziale Gerechtigkeit ist beste Vorbeugung

Wenig Sinn macht es, wenn PolitikerInnen in diesem Zusammenhang auf die Verantwortung der Eltern verweisen, Familien aber weitestgehend sich selbst überlassen.

Die gesellschaftliche Situation, insbesondere die Massenarbeitslosigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, fehlende Zukunftsperspektiven für junge Leute, die enorme Ausdünnung und Unterfinanzierung von Freizeit- und Kulturangeboten bilden den sozialen Boden für Gewalt. Es liegt in der Verantwortung der Politik, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Ich halte das für die beste Gewaltprävention.

Das schließt auch ein, dass Kinder und Jugendliche haushaltspolitisch mehr Gewicht erhalten, das heißt, dass mehr Gelder für Jugendprojekte, für politische oder für kulturelle Bildung und - gerade in Bezug auf die geschlechtsspezifische Ausprägung der Gewalt - für emanzipatorische Jungenarbeit zur Verfügung gestellt werden.

Nicht zuletzt müssen die Rechte von Kindern und Jugendlichen insgesamt gestärkt werden.

Ein "starker" Staat im Sinne eines repressiveren Umgangs mit auffälligen Jugendlichen ist nicht die Lösung des Problems. Repression bringt nicht mehr Sicherheit. Aber sie birgt die Gefahr der weiteren Einschränkung der Freiheits- und BürgerInnenrechte. Mündige Bürgerinnen und Bürger - egal welchen Alters - , die mit ihren Aggressionen umzugehen verstehen und ihre Konflikte konstruktiv und gewaltfrei lösen können, bringt der repressive Ansatz jedenfalls mit Sicherheit nicht hervor.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9911/9911061
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