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Michael Marek
Auf den Spuren des kollektiven Gedächtnisses
in der Schatzkammer der Nation
Im Bergwerkschacht in Baden wird das kulturelle
und politische Vermächtnis Deutschlands auf Mikrofilmen
verwahrt
In Oberried, 15 Kilometer südöstlich von Freiburg,
wird das kulturelle und politische Vermächtnis der deutschen
Nation verwahrt. Wo früher Silber geschürft wurde, lagern
heute in einem stillgelegten Bergwerksschacht 1,4 Milliarden
Mikrofilmfotografien, auf denen Dokumente deutscher Geschichte
gespeichert sind; in luftdichten Edelstahlcontainern verpackt,
geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie
sollen einmal Zeugnis über das Leben, Denken und Wirken
unserer Zivilisation ablegen.
Bis zum Beginn der 90er-Jahre wussten nur wenige, dass sich im
Schwarzwald eine Einlagerungsstätte für
unwiederbringliche Dokumente befindet; darunter das bismarckische
Sozialistengesetz und die Krönungsurkunde Otto des
Großen. 1972 hatte das Bundesamt für Zivilschutz mit dem
Stollenausbau begonnen, Ende Oktober 1975 trafen unter Ausschluss
der Öffentlichkeit die ersten Mikrofilmbehälter ein. Die
Angelegenheit sei wie eine geheime Kommandosache betrieben worden,
sagt Oberrieds Bürgermeister Franz-Josef Winterhalter, "nicht
einmal die Gemeindebehörde wurde davon unterrichtet. In der
Zeit des Kalten Krieges war man nicht darauf erpicht, die Dinge der
Öffentlichkeit mitzuteilen. Aber seit 1989 geht man mit den
Dingen etwas öffentlichkeitsbewusster um."
Auf die heutige Nutzung des Stollens weist lediglich ein
oberhalb des Zugangs angebrachtes Schild hin. Es zeigt drei nach
unten spitz zulaufende Embleme in den Farben ultramarinblau und
weiß. Damit ist ausgewiesen, dass das hier gelagerte Kulturgut
im Falle eines bewaffneten Konflikts gemäß der Haager
Konvention unter Sonderschutz steht . Ein Status, den die UNESCO
weltweit nur fünf Objekten zuerkannt hat: Vatikanstadt, drei
Lagerungsorten für Kulturgut in den Niederlanden und dem
"Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland".
Gerade in Kriegszeiten wurden Kulturgüter immer wieder
bedenkenlos vernichtet, um Gegner zu demütigen und zu
demoralisieren. Unersetzliche Werke sind auf diese Weise der
Menschheit verloren gegangen. Deshalb haben die Vereinten Nationen
1954 einen Vertrag zum Schutz von Kulturgut ins Leben gerufen.
Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, im Kriegsfall
Kulturgut weder zu zerstören noch sich es widerrechtlich
anzueignen. Bis heute sind 103 Staaten der Haager Konvention
beigetreten, darunter die meisten europäischen
Länder.
"Während des jugoslawischen Bürgerkriegs wurden ganz
bewusst Archive angegriffen", sagt der Präsident des
Bundesarchivs Hartmut Weber, "um Identitäten zu
zerstören. Die Europäische Union versucht jetzt, den
Archivaren zu helfen. Beispielsweise um Sterbe- und Geburtsregister
zurückzusichern, um den Bewohnern Identität zu geben,
damit man nachweisen kann, welcher ethnischen Gruppe wer
angehört."
Im Falle der Zerstörung von Kulturgütern sieht die
Haager Konvention eine individuelle strafrechtliche Verfolgung der
Täter vor - eine Regelung, die bislang nur schwer
einzulösen war, da es sich wie im Balkankrieg oder in
Afghanistan vor allem um paramilitärische Gruppen handelte,
denen man nur schwer oder gar nicht habhaft werden konnte. Zudem
ist bis 1990, bis zum Ende des Kalten Krieges, der
Kulturgüterschutz von der Öffentlichkeit weitestgehend
ignoriert worden, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern
weltweit, sagen Fachleute der UNESCO in Paris. Wie bedeutsam der
Kulturgüterschutz ist, hatte zuletzt die überflutete
Semperoper in Dresden gezeigt oder die Zerstörung historischer
Dokumente und Gebäude in Tschechien durch die
Elbe-Hochwasserkatastrophe, aber auch der Brand der Herzogin Anna
Amalia Bibliothek in Weimar.
Inzwischen hat der Wachdienst, der die Stollenanlage im Auftrag
des Bundesinnenministeriums vor Ort betreut, die Alarmanlage
entsichert. Feuchte, kühle Luft schlägt dem Besucher
durch das vergitterte Eingangstor entgegen. Dahinter führt ein
dunkler Tunnel tief in den Berg. Zuständig für die Anlage
ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe, Abteilung "Kulturgutschutz". Hier spricht man
stolz von der "Schatzkammer der Nation".
Doch der Stollen "Barbara" wurde nicht etwa für die
Einlagerung von Kunstwerken, Büchern oder Urkunden ausgebaut,
bewahrt werden hier Mikrofilme. Seit 1961 wird in der
Bundesrepublik die Sicherungsverfilmung von Archivalien
durchgeführt. Das sind schriftliche oder grafische Zeugnisse
deutscher Geschichte, die nur als Original, also in einem einzigen
Exemplar existieren. Die Vernichtung solcher Unikate würde
einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten, sei es durch bewaffnete
Konflikte, Naturkatastrophen, Tintenfraß oder Papierzerfall.
Der offizielle Beispielkatalog verfilmter Archivalien zählt
folgende schützenswerte Dokumente auf: die Baupläne des
Kölner Doms, die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X. gegen
Martin Luther, ein eigenhändiges Schreiben von Voltaire an
Herzog Karl Eugen von Württemberg, den Vertragstext des
Westfälischen Friedens oder das Protokoll der
Wannsee-Konferenz. Nach der Wiedervereinigung sind auch 8.200
Kilometer Sicherungsfilm aus DDR-Beständen übernommen
worden.
Fast alle europäischen Länder sind wie die
Bundesrepublik dabei, eigene Archiv- und Bibliotheksbestände
auf Sicherungsfilm zu übertragen. Doch nur in der Schweiz gibt
es ein vergleichbares Lager, ebenso wie in den Rocky Mountains bei
Salt Lake City, wo die Mormonen über einen riesigen
Archivstollen zur Dokumentation der Ahnenreihe verfügen.
Die Entscheidung, was in der Bundesrepublik verfilmt wird,
treffen die Archivverwaltungen des Bundes und der Länder.
Dabei schreiben die Richtlinien für den Schutz von
Kulturgütern einen "repräsentativen Querschnitt in
zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" vor. Eine
äußerst unpräzise Beschreibung für den
archivarischen Alltag. Doch man habe "die Formulierung nicht
umsonst so allgemein gehalten, weil sich Archivgut vom Inhalt her
nur schwer normieren lässt. Vorschriften sind dazu da, um
flexibel gehandhabt zu werden", hält Uwe Schaper entgegen,
Direktor des Landesarchivs in Berlin.
Doch angesichts der Dokumentationsflut staatlicher Organe:
Verkommt die Sicherungsverfilmung für den "Barbara-Stollen"
nicht zur Sisyphusarbeit? Muss man da als Archivar nicht
verzweifeln? "Als Archivar lernen Sie, mit der eigenen Endlichkeit
zu leben", hebt Schaper hervor. "Sie bewegen sich mit den
Unterlagen, die sie verwalten, in mehreren Jahrhunderten. Sie
lernen Leute kennen, wie sie gehandelt haben, auf dem
Höhepunkt ihres Seins und wie sie von der Bildfläche
verschwinden. Wir können nicht alles hinterlassen. Wobei die
Frage auch ist: Müssen wir unseren Nachfolgern alles
hinterlassen?"
Nach einem halben Kilometer im Hauptstollen heißt es, links
abbiegen. Wir stoßen auf eine kleine Einbuchtung. Dort
befinden sich parallel zum Hauptstollen und durch Drucktüren
gesichert die beiden langen Lagerstollen. Hier wird das
Filmmaterial verwahrt. Der Etat für den unterirdischen
Kulturgutbunker ist mit weniger als drei Millionen Euro
lächerlich gering. "Wir haben keine Lobby", hebt Roland
Stachowiak hervor, verantwortlich für den Bereich
Kulturgüterschutz beim Bundesamt für
Bevölkerungsschutz: "Wir haben eine konstante
Mangelverwaltung." Allein um das schriftliche Kulturgut der
Bayerischen Staatsbibliothek auf Mikrofilm zu sichern,
bräuchte man etwa 120 Millionen Euro.
Wofür wird man den unterirdischen Archivbunker der
Bundesrepublik in 500 Jahren halten? In Paris bei der UNESCO
befindet sich ein internationales Regis-ter, in dem der Barbara
Stollen eingetragen ist. Aber wer kann den Erhalt des Registers
(und seines Duplikats in der New Yorker Zentrale) garantieren? Wer
weiß den geheimen Schatzort noch zu nennen, wenn Deutschland
einmal von der Landkarte verschwunden sein sollte?
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