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Das Parlament
Nr. 05 / 30.01.2006

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Michael Marek

Auf den Spuren des kollektiven Gedächtnisses in der Schatzkammer der Nation

Im Bergwerkschacht in Baden wird das kulturelle und politische Vermächtnis Deutschlands auf Mikrofilmen verwahrt

In Oberried, 15 Kilometer südöstlich von Freiburg, wird das kulturelle und politische Vermächtnis der deutschen Nation verwahrt. Wo früher Silber geschürft wurde, lagern heute in einem stillgelegten Bergwerksschacht 1,4 Milliarden Mikrofilmfotografien, auf denen Dokumente deutscher Geschichte gespeichert sind; in luftdichten Edelstahlcontainern verpackt, geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie sollen einmal Zeugnis über das Leben, Denken und Wirken unserer Zivilisation ablegen.

Bis zum Beginn der 90er-Jahre wussten nur wenige, dass sich im Schwarzwald eine Einlagerungsstätte für unwiederbringliche Dokumente befindet; darunter das bismarckische Sozialistengesetz und die Krönungsurkunde Otto des Großen. 1972 hatte das Bundesamt für Zivilschutz mit dem Stollenausbau begonnen, Ende Oktober 1975 trafen unter Ausschluss der Öffentlichkeit die ersten Mikrofilmbehälter ein. Die Angelegenheit sei wie eine geheime Kommandosache betrieben worden, sagt Oberrieds Bürgermeister Franz-Josef Winterhalter, "nicht einmal die Gemeindebehörde wurde davon unterrichtet. In der Zeit des Kalten Krieges war man nicht darauf erpicht, die Dinge der Öffentlichkeit mitzuteilen. Aber seit 1989 geht man mit den Dingen etwas öffentlichkeitsbewusster um."

Auf die heutige Nutzung des Stollens weist lediglich ein oberhalb des Zugangs angebrachtes Schild hin. Es zeigt drei nach unten spitz zulaufende Embleme in den Farben ultramarinblau und weiß. Damit ist ausgewiesen, dass das hier gelagerte Kulturgut im Falle eines bewaffneten Konflikts gemäß der Haager Konvention unter Sonderschutz steht . Ein Status, den die UNESCO weltweit nur fünf Objekten zuerkannt hat: Vatikanstadt, drei Lagerungsorten für Kulturgut in den Niederlanden und dem "Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland".

Gerade in Kriegszeiten wurden Kulturgüter immer wieder bedenkenlos vernichtet, um Gegner zu demütigen und zu demoralisieren. Unersetzliche Werke sind auf diese Weise der Menschheit verloren gegangen. Deshalb haben die Vereinten Nationen 1954 einen Vertrag zum Schutz von Kulturgut ins Leben gerufen. Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, im Kriegsfall Kulturgut weder zu zerstören noch sich es widerrechtlich anzueignen. Bis heute sind 103 Staaten der Haager Konvention beigetreten, darunter die meisten europäischen Länder.

"Während des jugoslawischen Bürgerkriegs wurden ganz bewusst Archive angegriffen", sagt der Präsident des Bundesarchivs Hartmut Weber, "um Identitäten zu zerstören. Die Europäische Union versucht jetzt, den Archivaren zu helfen. Beispielsweise um Sterbe- und Geburtsregister zurückzusichern, um den Bewohnern Identität zu geben, damit man nachweisen kann, welcher ethnischen Gruppe wer angehört."

Im Falle der Zerstörung von Kulturgütern sieht die Haager Konvention eine individuelle strafrechtliche Verfolgung der Täter vor - eine Regelung, die bislang nur schwer einzulösen war, da es sich wie im Balkankrieg oder in Afghanistan vor allem um paramilitärische Gruppen handelte, denen man nur schwer oder gar nicht habhaft werden konnte. Zudem ist bis 1990, bis zum Ende des Kalten Krieges, der Kulturgüterschutz von der Öffentlichkeit weitestgehend ignoriert worden, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit, sagen Fachleute der UNESCO in Paris. Wie bedeutsam der Kulturgüterschutz ist, hatte zuletzt die überflutete Semperoper in Dresden gezeigt oder die Zerstörung historischer Dokumente und Gebäude in Tschechien durch die Elbe-Hochwasserkatastrophe, aber auch der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar.

Inzwischen hat der Wachdienst, der die Stollenanlage im Auftrag des Bundesinnenministeriums vor Ort betreut, die Alarmanlage entsichert. Feuchte, kühle Luft schlägt dem Besucher durch das vergitterte Eingangstor entgegen. Dahinter führt ein dunkler Tunnel tief in den Berg. Zuständig für die Anlage ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Abteilung "Kulturgutschutz". Hier spricht man stolz von der "Schatzkammer der Nation".

Doch der Stollen "Barbara" wurde nicht etwa für die Einlagerung von Kunstwerken, Büchern oder Urkunden ausgebaut, bewahrt werden hier Mikrofilme. Seit 1961 wird in der Bundesrepublik die Sicherungsverfilmung von Archivalien durchgeführt. Das sind schriftliche oder grafische Zeugnisse deutscher Geschichte, die nur als Original, also in einem einzigen Exemplar existieren. Die Vernichtung solcher Unikate würde einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten, sei es durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen, Tintenfraß oder Papierzerfall. Der offizielle Beispielkatalog verfilmter Archivalien zählt folgende schützenswerte Dokumente auf: die Baupläne des Kölner Doms, die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X. gegen Martin Luther, ein eigenhändiges Schreiben von Voltaire an Herzog Karl Eugen von Württemberg, den Vertragstext des Westfälischen Friedens oder das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Nach der Wiedervereinigung sind auch 8.200 Kilometer Sicherungsfilm aus DDR-Beständen übernommen worden.

Fast alle europäischen Länder sind wie die Bundesrepublik dabei, eigene Archiv- und Bibliotheksbestände auf Sicherungsfilm zu übertragen. Doch nur in der Schweiz gibt es ein vergleichbares Lager, ebenso wie in den Rocky Mountains bei Salt Lake City, wo die Mormonen über einen riesigen Archivstollen zur Dokumentation der Ahnenreihe verfügen.

Die Entscheidung, was in der Bundesrepublik verfilmt wird, treffen die Archivverwaltungen des Bundes und der Länder. Dabei schreiben die Richtlinien für den Schutz von Kulturgütern einen "repräsentativen Querschnitt in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" vor. Eine äußerst unpräzise Beschreibung für den archivarischen Alltag. Doch man habe "die Formulierung nicht umsonst so allgemein gehalten, weil sich Archivgut vom Inhalt her nur schwer normieren lässt. Vorschriften sind dazu da, um flexibel gehandhabt zu werden", hält Uwe Schaper entgegen, Direktor des Landesarchivs in Berlin.

Doch angesichts der Dokumentationsflut staatlicher Organe: Verkommt die Sicherungsverfilmung für den "Barbara-Stollen" nicht zur Sisyphusarbeit? Muss man da als Archivar nicht verzweifeln? "Als Archivar lernen Sie, mit der eigenen Endlichkeit zu leben", hebt Schaper hervor. "Sie bewegen sich mit den Unterlagen, die sie verwalten, in mehreren Jahrhunderten. Sie lernen Leute kennen, wie sie gehandelt haben, auf dem Höhepunkt ihres Seins und wie sie von der Bildfläche verschwinden. Wir können nicht alles hinterlassen. Wobei die Frage auch ist: Müssen wir unseren Nachfolgern alles hinterlassen?"

Nach einem halben Kilometer im Hauptstollen heißt es, links abbiegen. Wir stoßen auf eine kleine Einbuchtung. Dort befinden sich parallel zum Hauptstollen und durch Drucktüren gesichert die beiden langen Lagerstollen. Hier wird das Filmmaterial verwahrt. Der Etat für den unterirdischen Kulturgutbunker ist mit weniger als drei Millionen Euro lächerlich gering. "Wir haben keine Lobby", hebt Roland Stachowiak hervor, verantwortlich für den Bereich Kulturgüterschutz beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz: "Wir haben eine konstante Mangelverwaltung." Allein um das schriftliche Kulturgut der Bayerischen Staatsbibliothek auf Mikrofilm zu sichern, bräuchte man etwa 120 Millionen Euro.

Wofür wird man den unterirdischen Archivbunker der Bundesrepublik in 500 Jahren halten? In Paris bei der UNESCO befindet sich ein internationales Regis-ter, in dem der Barbara Stollen eingetragen ist. Aber wer kann den Erhalt des Registers (und seines Duplikats in der New Yorker Zentrale) garantieren? Wer weiß den geheimen Schatzort noch zu nennen, wenn Deutschland einmal von der Landkarte verschwunden sein sollte?

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