20. Sitzung
Berlin, Freitag, den 17. Februar 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/99 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
- Drucksache 16/688 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/689 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Katja Kipping, Kornelia Möller und der Fraktion der LINKEN
Angleichung des Arbeitslosengeldes II in den neuen Ländern an das Niveau in den alten Ländern rückwirkend zum 1. Januar 2005
- Drucksachen 16/120, 16/688 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Menschen in Ost und West.
Man sollte ganz deutlich daran erinnern - auch Fritz Kuhn weiß dies -, dass wir im letzten Jahr das Vorhaben gestartet haben, gleiche Regelsätze in Ost und West einzuführen. Wir werden dieses Gesetz nun gemeinsam mit der CDU/CSU verabschieden. Insofern ist es wichtig, heute festzustellen: Das Arbeitslosengeld II ist künftig in Ost und West gleich. Das entsprechende Gesetz wurde einer kontinuierlichen Bewertung unterzogen. Wir können heute sagen: Wir haben dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen. So sieht eine lernende Gesetzgebung aus. Dafür steht die neue Koalition. Daran wollen wir uns messen lassen.
Ich will ganz klar feststellen: Wer glaubt, es bedürfe in Deutschland nur einer abschließenden Reform, irrt. Die Welt ist nicht statisch. Wir müssen an den Veränderungen arbeiten. Wir haben deshalb Schluss gemacht mit der Vorstellung, dass das Nettoeinkommen und die Lebenshaltungskosten im Osten niedriger sind, dass es im Osten ein unterschiedliches Verbraucherverhalten gibt und dass deshalb ungleiche Regelsätze in Ost und West gerechtfertigt sind. Wir haben sie auf ein Niveau zusammengeführt. Wir haben damit ein Stück Spaltung überwunden. Das ist das Ergebnis unserer Politik und das finden wir richtig so.
Ich sprach von lernender Gesetzgebung. Das heißt auch, dass wir die aktuellen Entwicklungen nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Dazu will ich ganz deutlich sagen: Wir müssen den Erwartungen und den Veränderungen Rechnung tragen. Damit meine ich ganz konkret die Frage, wie sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Deutschland entwickelt hat. Denn die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaften ist überdurchschnittlich stark gestiegen: allein von Januar bis September 2005 um 19,5 Prozent.
Doch wer darin Missbrauch sieht - das will ich gleich klar sagen -, liegt falsch. Denn CDU/CSU, SPD und Grüne haben es gemeinsam zu verantworten, dass diese Gesetzgebung ermöglicht worden ist und dies Rechtszustand ist. Deshalb will ich mich klar gegen jegliche Form von Diskriminierung derjenigen zur Wehr setzen, die nur ihre rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.
Ob das sinnvoll ist, ist eine ganz andere Frage. Wir müssen darüber nachdenken, ob bei all den Ausgaben, die die Gesellschaft zu tragen hat, die Justierung dieser Ausgaben in der bisherigen Form zu Recht erfolgt ist. Denn es kann nicht Aufgabe des Staates sein, für Jugendliche ein Auszugsprogramm zu organisieren.
Wir haben diesen Punkt aufgegriffen, wobei wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir wehren uns - ich finde, zu Recht - gegen die Hysterie, die in diesem Lande teilweise entfacht worden ist, dass es ganze Umzugskarawanen gegeben haben soll. Wir weisen ausdrücklich darauf hin: Der Zustand, den wir jetzt erlebt haben, ist so nicht gewollt gewesen. Aber von massenhaftem Missbrauch kann auch nicht die Rede sein.
Deshalb wollen wir, dass klargestellt wird, dass auch zukünftig jungen Menschen die notwendige Unterstützung bereitgestellt wird und dass es auch zukünftig keine Zwangsfamilien geben wird. Um es klar zu sagen: Wer gute Gründe hat, aus dem Elternhaus auszuziehen, der hat dazu auch in der Zukunft die Möglichkeit. Wer zum Beispiel eine Arbeitsstelle fernab vom Elternhaus antreten will, der muss dazu die Möglichkeit haben.
Wir haben diese Jugendlichen nicht zu Bittstellern gemacht. Vielmehr haben wir im Gesetz drei konkrete Gründe vorgesehen, bei denen man nach wie vor eine Bedarfsgemeinschaft gründen kann. Denjenigen, die schwerwiegende soziale Gründe vorweisen können, die im Elternhaus vorliegen, wird weiterhin ein Umzug ermöglicht. Diejenigen, die zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt einen Umzug in Anspruch nehmen müssen, können dies. Wir haben hinzugefügt, dass ein sonstiger schwerwiegender Grund Anlass sein kann, aus der elterlichen Bedarfsgemeinschaft auszuziehen. Wir wissen, dass dies zwei sehr konkrete Gründe und ein dritter, nicht so konkreter Grund sind. Letzterer trägt aber den Lebenswirklichkeiten Rechnung.
Wir haben ein Verhältnis von 75 langzeitarbeitslosen Jugendlichen pro Fallmanager entwickelt. Wir müssen erwarten können, dass dieser die Differenziertheit der Lebenssituation aufgreift und im Notfall denjenigen, die besonderer individueller Hilfe bedürfen, diese zuteil kommen lässt.
Das ist Ergebnis unserer Politik. Da lassen wir auch nicht nach.
Wir wollen, dass die Jugendlichen in Deutschland sich auf uns, auf die Politik verlassen können. Denn wer im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage bereits ausgezogen ist, muss nicht ins Elternhaus zurück und erhält auch weiterhin die 100-prozentige Leistung des Arbeitslosengeldes II. Das heißt, das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft werden wie bisher gezahlt. Weder Zwangsfamilie noch Zwangsräumung ist hier angesagt. Das muss heute Morgen sehr deutlich klargestellt werden.
Meine Damen und Herren, in einer solidarischen Gesellschaft müssen alle Verantwortung füreinander übernehmen. Deshalb sagen wir an diesem Punkt sehr deutlich, dass Jugendliche unter 25 Jahren künftig in der Regel 80 Prozent der Regelleistung erhalten. Sie werden damit nicht schlechter gestellt als Ehe- bzw. Lebenspartner. Denn ein Alleinstehender erhält 100 Prozent der Regelleistung; kommt ein Partner hinzu, erhöht sich der Betrag um 80 Prozent. Genau das regeln wir auch für Jugendliche oberhalb des 18. Lebensjahres, die in der elterlichen Bedarfsgemeinschaft verbleiben. Das ist angemessen. Dazu stehen wir auch.
Manche haben das als Sparen bezeichnet. Aber wofür sparen? Wir sparen für Investitionen in die Zukunft, in die bessere Kinderbetreuung, in die bessere Ausbildung, in mehr Fortbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Darin zu investieren, kann kein Schade sein. Das sind Investitionen in die Zukunft. Dazu stehen wir. Das wollen wir fortsetzen.
Worauf kommt es an? Wir wollen den Beitrag an die gesetzliche Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Bezieher zukünftig absenken. Wir senken damit aber nicht die Rentenzeiten ab. Wir minimieren damit auch nicht den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung. Er soll voll erhalten bleiben. Denn wir wollen nicht, dass Menschen dauerhaft im Arbeitslosengeld-II-Bezug bleiben. Vielmehr wollen wir, dass Menschen die Chance bekommen, aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug wieder in normale Arbeitsverhältnisse einzutreten. Insofern ist es uns wichtig, dass keine gebrochenen Erwerbsbiografien entstehen, sondern dass durchgehende Versicherungsverläufe bleiben, dass durchgängig Anspruch auf Rehabilitation bleibt und dass die vollen Leistungen bei Erwerbsminderung möglich bleiben. Das ist sozialstaatlich geboten. Dazu stehen wir. Das werden wir auch weiterhin einhalten.
Ich will in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen, dass wir gemeinsam die Langzeitarbeitslosen, die in der Vergangenheit oft als Sozialhilfeempfänger nicht rentenversichert, nicht krankenversichert und nicht pflegeversichert waren, in das solidarische Sozialsystem aufgenommen haben und damit Rechtsfortschritt in diesem Lande organisiert haben.
Wir waren es, die dafür gesorgt haben, dass man auf einer sicheren Grundlage die Zukunft angehen kann.
Ich will ganz deutlich sagen: Dazu gehört auch, dass diejenigen, die in der Vergangenheit ausgegrenzt waren, erstmals Anspruch auf alle Leistungen am Arbeitsmarkt haben. Alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente stehen den Langzeitarbeitslosen zur Verfügung. Das haben wir durchgesetzt. Uns kommt es darauf an, den Menschen zu helfen, sie zu unterstützen, sie nicht auszugrenzen.
In diesem Zusammenhang wird in vielen Fällen über die Frage der Mietschulden - über Einzelfälle - diskutiert und die Frage gestellt: Gibt es auch zukünftig die Möglichkeit, eine dem Einzelfall angemessene Regelung zur Begleichung von Miet- oder Energieschulden zu finden? Ich möchte ganz deutlich sagen: Wir wollen zuallererst, dass diejenigen, die Schulden machen, auch dafür aufkommen müssen. Deshalb müssen sie zuallererst - ich sage es hier klipp und klar - auf Darlehen verwiesen werden.
Ich sage aber auch: Da, wo es im Einzelfall notwendig ist, wo Härtefälle auftreten, wo zum Beispiel Wohnungslosigkeit droht, muss es möglich sein, dass anstatt des Darlehens eine Beihilfe gewährt wird. Wir haben im Ausschuss sichergestellt - das Ministerium hat das zweifelsfrei beantwortet -, dass der Gesetzestext genau dies hergibt. Damit geben wir ein Signal an die Fallmanager, an die Kommunen, an diejenigen, die Leistungen zur Verfügung stellen, genau so zu verfahren: Die Beihilfe ist nicht die Regel, aber sie ist im Einzelfall möglich. Das wollen wir sichergestellt wissen.
Ich bin mir insgesamt darüber im Klaren, dass wir die Jugend fördern und nicht alimentieren müssen. Das muss unsere Orientierung sein: Wir müssen all unsere Kräfte auf das Fördern konzentrieren. 2005, nachdem dieses riesige Gesetzeswerk in Kraft getreten ist, hat das noch nicht so geklappt, wie wir uns das vorgestellt haben.
Wir wissen: Viele Arbeitsgemeinschaften sind erst im Laufe des Jahres 2005 entstanden; nur etwa 50 Prozent der Aktivierungsmittel sind abgerufen worden. Das ist bedauerlich. Das heißt aber nicht, dass der Reformschritt nicht klug und richtig war. Vielmehr müssen wir genau hier ansetzen, den Reformschritt mit mehr Fahrt umzusetzen und die Maßnahmen zu unterstützen.
Wir bauen die Chancen für die Jugend aus. Deshalb sagen wir ganz deutlich: Die Koalition sieht es als eine Schwerpunktaktivität an, Vorfahrt für junge Menschen zu gewähren. Der Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ist ein Element in diesem Paket. Die Vermittlung und Qualifizierung junger Menschen sind ein Schwerpunkt der Bundesagentur für Arbeit. Wir wissen, dass auf diesem Gebiet noch viel zu leisten ist. Die Beschäftigten der BA haben unsere volle Unterstützung dabei, sich genau diesem Schwerpunkt stärker als in der Vergangenheit zu widmen.
Wir müssen auch daran erinnern, dass die Länder eine große Verantwortung für die Erstausbildung tragen. Wenn nämlich junge Menschen ohne ein gutes Bildungsniveau die Schulen verlassen, ist ein Eintritt ins Arbeitsleben nicht möglich. Hier haben die Länder zukünftig ihre Aufgaben und ihre Verantwortung stärker wahrzunehmen.
Sie können diese Aufgaben nicht einfach der Bundesagentur übereignen. Vielmehr fordern wir die Verpflichtung der Länder ein, hier das zu tun, was ihnen aufgrund unserer Verfassung gebührt.
Wir wollen, dass die intensive Betreuung Jugendlicher insbesondere in den Arbeitsgemeinschaften verbessert und ausgebaut wird. So verstehen wir die Veränderungen im Sozialgesetzbuch II, bei deren Umsetzung wir alle mithelfen und mitwirken sollen, damit sie zu einem Erfolg werden, damit zukünftig die arbeitslosen Jugendlichen, von denen - ich sage es deutlich - eine viel zu große Zahl keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, eine nachhaltige Chance zum Eintritt ins Arbeitsleben erhalten. Das wird unsere Zukunftsaufgabe sein. Dafür sind wir angetreten; dafür haben wir die Veränderungen im Sozialgesetzbuch vorgenommen. Ich bitte Sie, diese gemeinsam zu unterstützen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Dirk Niebel (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sollte unter anderem Kosten sparen und die Vermittlung in Arbeit verbessern. Beide Ziele sind offenkundig nicht erreicht worden. Die Vermittlung in Arbeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, ist nicht signifikant besser geworden; aber dafür sind die Kosten signifikant gestiegen: auf 26 Milliarden Euro statt 14 Milliarden Euro. Von daher ist es bemerkenswert, dass die Angleichung des Arbeitslosengeldes II Ost auf Westniveau durchgeführt wird. Wir sind der Ansicht, dass das Trennende zwischen Ost und West im 16. Jahr der deutschen Einheit nicht mehr Maßstab für Sozialgesetzgebung sein darf.
Allerdings gibt es Unterschiede nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Sogar in den ostdeutschen Bundesländern gibt es ganz unterschiedlich strukturierte Regionen, genauso wie in den westlichen Bundesländern. Von daher wäre es sinnvoll gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe abzuwarten, um zu wissen, wo man im Land wie teuer lebt, um das Problem dann differenzierter anzugehen. Bei der Sozialhilfe für Nichterwerbsfähige tun Sie das immerhin.
Es stellt sich zugleich die Frage, weshalb die große Koalition nun beim Arbeitslosengeld II eine Angleichung anstrebt, nicht aber bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Erwerbsunfähigen, denen es meist noch schlechter geht als denen, die jung und gesund sind.
Fest steht: Um durch einen regulären Arbeitsplatz das gleiche Einkommensniveau wie beim Arbeitslosengeld II erreichen zu können, müssen je nach Familienstand zwischen 8 und 10 Euro brutto pro Stunde verdient werden. Das kann in der nächsten Debatte über die Mindestlöhne nicht außer Acht gelassen werden.
In diesem Gesetz sind neben der Angleichung des Arbeitslosengeldes II auch noch andere Dinge enthalten, zum Beispiel die Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages für Langzeitarbeitslose um 2 Milliarden Euro. Die maroden Rentenversicherungskassen werden noch einmal zusätzlich um 2 Milliarden Euro belastet, damit sich der Staat seinen Haushalt schönrechnen kann,
obwohl wir seit gestern wissen, dass die Steuerschätzung ergeben hat, dass wir in diesem Jahr 20 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr als vorausgesehen haben werden.
Des Weiteren ist in dieses Gesetz die Neuregelung für die jugendlichen Langzeitarbeitslosen eingearbeitet. Wir sind der festen Überzeugung: Jeder Mensch in diesem Land darf aus dem Elternhaus ausziehen, wenn er es sich leisten kann. Wir sind auch der festen Überzeugung: Wer es sich nicht leisten kann und dafür die Hilfe der Allgemeinheit braucht, der muss sich schärferen Kriterien unterwerfen. In der Art und Weise, wie Sie diese Regelung allerdings vorsehen, sind die Kriterien der Überprüfung der schwerwiegenden Gründe für einen Arbeitsvermittler nicht nachvollziehbar.
Sie schaffen es ja noch nicht einmal, festzustellen, ob es eheähnliche Gemeinschaften gibt. Sie wollen doch nicht hinter jeden jugendlichen Arbeitslosen einen Arbeitsvermittler oder einen „Arbeitslosenpolizisten“ stellen, um zu überprüfen, ob die Kriterien tatsächlich erfüllt werden. Das wird in der Praxis kaum handhabbar sein, insbesondere weil über die Frage, ob man ausziehen darf, die abgebende Gemeinde entscheidet und nicht die aufnehmende. Wenn also der Bezirk Kreuzberg Kosten sparen möchte und der Jugendliche meint, er müsse dringend ganz weit weg vom Elternhaus, weil es da kriselt, nach München ziehen, dann kann Kreuzberg das genehmigen und die Münchener müssen das bezahlen. Viel Freude dabei! Das wird einen enormen Verwaltungsaufwand zwischen den Kommunen verursachen. Das Problem wird dadurch nicht gelöst.
Natürlich ist es problematisch, dass 58 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften Einpersonenhaushalte sind. Das Gesetz, wie Sie es auf den Weg gebracht haben, hat zu einer wahren Zellteilung deutscher Familien geführt. Der Anstieg der Zahl der unter 25-jährigen Arbeitslosen ist mit 28 Prozent im letzten Jahr doppelt so hoch wie der Anstieg der Zahl der anderen Langzeitarbeitslosen mit 14 Prozent.
Das von Ihnen vorgelegte Gesetz setzt das fort, was Rot-Grün gemacht hat. Ich wundere mich schon, dass die Union dabei mitmacht. Denn es setzt Flickwerk fort.
Wie ist die Situation denn tatsächlich bei der Beweisführung der eheähnlichen Lebensgemeinschaften? Was war mit den zu viel abgeführten Krankenversicherungsbeiträgen der Bundesagentur? Das Geld ist immer noch nicht zurückgekommen und die Krankenversicherungen werden natürlich ihre Kostenpauschale abziehen; da haben Sie wieder das Geld anderer Leute verprasst. Was ist mit dem EDV-Programm A2LL? Ich höre immer wieder, dass es nicht funktioniert. Bei der Bundesagentur überlegt man sich schon seit langer Zeit, ob man vielleicht ein teures Nachfolgeprojekt braucht. Es würde mich nicht wundern, wenn es noch teurer wird, wie alle anderen EDV-Projekte. Aber dass die Bundesagentur und übrigens auch die Bundesregierung wissen, dass das, was sie hier vorlegen, erst zum 1. Januar 2007 EDV-technisch ernsthaft umgesetzt werden kann und sie es trotzdem zum 1. Juli dieses Jahres einführen, das ist schlichtweg verantwortungslos und führt die Menschen in die Irre, die glauben, dass es ihnen jetzt besser gehen könnte, und die darauf setzen, dass Ihre Gesetzgebung eine minimale Halbwertzeit hat.
Die Langzeitarbeitslosen müssen dort betreut werden, wo man sich auf sie einstellen kann: in den kommunalen Job-Centern. Wir müssen endlich von der sozialen Begleitung der Langzeitarbeitslosigkeit wegkommen und auf den Pfad einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik zurückkehren. Denn soziale Größe zeigt sich nicht an der Höhe einer Transferleistung, sondern daran, dass die Möglichkeit besteht, einen Arbeitsplatz zu bekommen, damit man seinen Lebensunterhalt selbst erwirtschaften kann.
Um das zu erreichen, dafür hat die große Koalition überhaupt nichts auf den Weg gebracht: weder in ihrer Koalitionsvereinbarung noch in der Regierungserklärung noch im Rahmen ihrer praktischen Gesetzgebung. Deswegen werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf mit Enthaltung abstrafen. Denn er ist Flickwerk, bei dem Sie genauso gemurkst haben, wie es früher Rot-Grün getan hat.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Niebel, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.
Dirk Niebel (FDP):
Ja, Frau Präsidentin. Wie ich sehe, habe ich schon 40 Sekunden überzogen.
Ich komme zu meinem letzten Satz.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
45 Sekunden, Herr Kollege.
Dirk Niebel (FDP):
Mittlerweile sind es 47 Sekunden.
Den Entschließungsantrag der Grünen werden wir leider ablehnen müssen; denn in ihm wird eine Ausweitung der Leistungen gefordert. Hier geht es allerdings um das Geld anderer Leute, das diese mit ihrer Hände Arbeit zu erwirtschaften haben. Mit diesen Steuergeldern können Sie offensichtlich nicht anständig umgehen. Wir Liberale können das.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Niebel, wenn Sie sagen, dass Sie den vorliegenden Gesetzentwurf kraftvoll mit Enthaltung abstrafen werden,
dann merkt jeder, dass etwas nicht stimmt. Ich selbst bin gelernter Oppositionspolitiker und sage Ihnen: Wenn wir uns, als wir noch in der Opposition waren, enthalten haben, war es immer so, dass das, was die Regierung vorgelegt hatte, gar nicht so schlecht war.
Man muss sich nun einmal entscheiden, wie man abstimmt; das ist Ihr gutes Recht und das respektieren wir auch.
Wir müssen die knappen Mittel unseres Sozialstaates zielgenauer einsetzen; denn sie fließen nicht wie Milch und Honig in einem Land der Verheißung, sondern sie müssen von den Erwerbstätigen täglich hart erarbeitet werden. Mit diesen knappen Mitteln müssen wir zielgerichtet und verantwortungsvoll umgehen. Unser Sozialstaat muss mit seinen begrenzten Mitteln mehr erreichen. Eine der großen Fragen unserer Zeit ist, wie wir in unseren Systemen der sozialen Sicherung für mehr Effizienz und mehr Effektivität sorgen.
Dieses Ziel auf einem wichtigen Sektor zu realisieren, hat sich die große Koalition vorgenommen. Dabei geht es um den Bereich der Grundsicherung, vulgo: um das ALG II und um Hartz IV. Hierbei handelt es sich um eine Erneuerung in Stufen. Wir wollen das ALG II zielgerechter, sachgerechter und effektiver gestalten. Das sind wir den Malochern in unserer Gesellschaft schuldig, denen wir jeden Tag große Solidaropfer zumuten.
Ich will vier Aspekte unseres Gesetzentwurfes darlegen - Überschneidungen mit dem, was der Kollege Brandner gesagt hat, sind nicht zufällig, sondern großkoalitionär bedingt -:
Erstens. Das ALG II wird gerechter gestaltet. Wir gleichen den Zahlbetrag in Ostdeutschland an den Zahlbetrag in Westdeutschland an, wie es uns auch der Ombudsrat nahe legt. Die Regelleistung in den neuen Bundesländern wird um 14 Euro - von 331 Euro auf 345 Euro - erhöht. Das muss angesichts des linkspopulistischen Getöses der PDS immer wieder betont werden.
Um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, müssen wir mehr Geld ausgeben; daher wird diese Leistung erhöht. Dabei geht es immerhin um einen Betrag von 260 Millionen Euro, den wir gemeinsam mit den Kommunen zur Verfügung stellen. Nicht nur, aber auch deshalb müssen wir an den Stellen, an denen wir eindeutig über das Ziel hinausgeschossen sind, Ressourcen einsparen.
Zweitens. Da wir ein Faible für Fakten haben, sage ich Ihnen Folgendes: Das neue Recht gilt ab dem 1. Januar 2005. Seit diesem Zeitpunkt - Herr Brandner hat darauf hingewiesen - ist die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaften - so heißt dieses Wortungetüm - um 19,6 Prozent gestiegen, sogar noch deutlich stärker als die Zahl der Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften.
- Ja, das ist deutlich mehr. Der Unterschied beträgt nahezu 4 Prozentpunkte.
Gleichzeitig ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen unter 25 Jahre um 28 Prozent gestiegen -
Herr Kurth, doppelt so stark wie die Zahl der erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen über 25 Jahre. Diese beiden statistischen Daten braucht man nur zusammenzubringen, dann weiß man, was geschehen ist: Junge Leute sind auf Staatskosten, auf Kosten der Gemeinschaft von zu Hause ausgezogen; sie haben den zu großzügig bemessenen Rechtsrahmen genutzt, den der Gesetzgeber gestaltet hat. Kollege Brandner, das ist natürlich kein Missbrauch. Aber es ist ein Mitnahmeeffekt, den wir nicht wollen können.
Deswegen verändern wir heute gemeinsam die Rahmenbedingungen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Ja, bitte.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Herr Kollege Weiß, Sie haben gerade von einer zu großzügigen Ausstattung der jugendlichen ALG-II-Empfänger gesprochen. Würden Sie mir bitte erklären, wieso ein 20-Jähriger oder ein 23-Jähriger als Soldat nach Afghanistan geschickt werden kann,
aber nicht einmal eine eigene Wohnung haben darf?
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
So etwas kann ja nur einem Linken einfallen!
Wir müssen doch in den Kategorien von Eigenverantwortung, Familienverantwortung und gesellschaftlicher Verantwortung denken.
Wir schreiben doch niemandem seinen Lebensstil vor; wir verordnen niemandem, wie lange er bei den Eltern - gestern hat jemand vom „Hotel Mama“ gesprochen - wohnen muss. Das ist Privatsache; das soll jeder selbst entscheiden. Allerdings darf die Gemeinschaft mit dieser privaten Lebenswegentscheidung nicht länger belastet werden. Das ist die Folgerung aus dem Prozess, den wir eben dargestellt haben.
Grundsicherung, Herr Seifert, ist Hilfe für Hilfsbedürftige, nicht aber die Finanzierung bestimmter Lebenswegentscheidungen und persönlicher Lebensstile. Grundsicherung ist Hilfe, auf die man angewiesen ist. Deshalb hat Herr Brandner zu Recht die beiden Ausnahmen angesprochen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen haben. Die Genehmigung zum Auszug aus dem Elternhaus und zur Gründung eines eigenen Hausstandes - samt Umzug und Erstausstattung - auf Kosten der Gemeinschaft bleibt möglich, wenn schwer wiegende soziale Gründe gebieten, dass der junge Mensch von zu Hause auszieht. Manche, Herr Niebel zum Beispiel, halten „schwer wiegende soziale Gründe“ für reichlich unbestimmt. So ist es aber nicht: Die Verwaltung hat viel Erfahrung und Praxis auf diesem Feld und es gibt eine umfangreiche Rechtsprechung dazu. Außerdem ist da noch der gesunde Menschenverstand.
Die zweite Ausnahme greift, wenn jemand eine Arbeitsstelle antritt. Dann ist das Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn jemand in Zukunft seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, beim Start aber auf Hilfe angewiesen ist, müssen wir ihm selbstverständlich helfen. In diesen beiden Fällen wird Hilfe gewährt; alle übrigen Fälle sind Privatsache.
Jeder muss sich schon selbst um seinen Lebensunterhalt kümmern.
Die Fehlanreize sind damit beseitigt. Die sozialpolitische Wirksamkeit wird erhöht. Wir gestalten diese neue Norm mit dem allerbesten Gewissen; sie ist eine vernünftige Balance zwischen Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Verantwortung.
Dasselbe gilt für meinen dritten Punkt: dass wir die Bedarfsgemeinschaften präziser definieren. Bisher ist es so, dass jemand, der volljährig wird, automatisch den Status einer Bedarfsgemeinschaft erhält, mit 100 Prozent Regelsatz. Die Lebenswirklichkeit ist doch die, dass jemand, der zu Hause lebt, zu den Generalkosten - Versicherungen, Strom, haushaltstechnische Geräte - in der Regel nichts beizutragen hat. Da ist es nur recht und billig, wenn wir solche im Elternhaus wohnende junge Menschen in die elterliche Bedarfsgemeinschaft einbeziehen und ihren Regelsatz auf 80 Prozent kürzen.
Auch das bedeutet eine größere Treffsicherheit im Sozialstaat. Wir tun etwas Richtiges, wenn wir auf die Fehlentwicklungen, die wir beobachten, entsprechend reagieren.
Mein vierter Aspekt: Mehr Zielgenauigkeit auch mit Blick auf die EU-Ausländer. Die Freizügigkeit ist ein hohes Gut. Gemeint sind auch nicht die EU-Ausländer, die hier bei uns den Status eines Arbeitnehmers besitzen, weil sie gearbeitet haben. Wer aber aufgrund des Leistungsrechts nach Deutschland einreisen will, den schließen wir künftig von Leistungen aus.
Ich denke, auch das ist eine normale und richtige Folgerung. In Zukunft werden wir es nicht mehr zulassen, dass die Freizügigkeit genutzt wird, um nach der Einreise einzig und allein Leistungen zu beziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir handeln verantwortungsbewusst und machen die Statik der Grundsicherung belastungssicherer und tragfähiger. Das ist ein erster Schritt einer großen Reform. Ich bin mir sicher, dass es eine kluge Entscheidung ist.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geplanten Verschärfungen von Hartz IV sind ein Angriff auf die Eigenständigkeit junger Menschen und auf Bürgerrechte.
Dabei sind Sie es doch immer gewesen, meine Damen und Herren von SPD und CDU, die nach mehr Selbstständigkeit, nach mehr Flexibilität bei jungen Menschen rufen.
Dann degradieren Sie Volljährige unter 25 Jahre zu Minderjährigen, dann verdonnern Sie junge Erwachsene zum Sitzenbleiben im „Hotel Mama“ und kürzen gleich noch die Regelleistungen auf 276 Euro. Das ist nun wirklich die falsche Richtung.
Ich muss mich schon wundern, wie schnell Sie aus dem Häuschen sind, wenn jemand Ihren Ansatz des Sozialabbaus grundsätzlich nicht teilt. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen.
Es kann ja sein, dass Sie in den letzten Jahren etwas verwöhnt wurden. Man war halt mehr unter sich. Von der Opposition gab es eher Kritik im Detail. Sie werden sich jetzt aber daran gewöhnen müssen, dass es nicht mehr nur zwei Frauen von der PDS gibt, die Ihren Grundkonsens durchbrechen, sondern dass im Bundestag jetzt wieder eine gesamte Fraktion sitzt, die der Meinung ist, dass wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht auf dem Rücken der Schwächsten austragen dürfen.
- Herr Brauksiepe, anstatt über Leistungskürzungen zu reden, sollten wir mal darüber reden, was man beim Leben jenseits von Armut eigentlich braucht.
Wenn man im 2. Armuts- und Reichtumsbericht nachschlägt, dann kann man lesen:
In Deutschland beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze 938 Euro...
938 Euro, meine Damen und Herren von der SPD - das ist die Zahl Ihrer Regierung!
Folgt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, so stellt man fest, dass der Regelsatz mindestens 420 Euro betragen sollte. Die Angleichung der Regelsätze Ost und West ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist wahrlich schon ein Armutszeugnis für die Sozialdemokratie, dass es erst vehementer Montagsdemonstrationen und der Linkspartei bedurfte, damit Sie überhaupt auf diese Idee kommen.
Indem Sie die Angleichung Ost an West mit Kürzungen bei den Rentenbeiträgen und bei den EU-Ausländern sowie mit einem faktischen Auszugsverbot für junge Erwachsene verbinden, beweisen Sie eigentlich nur eines: Sie verfolgen nach wie vor die Politik des Gegeneinander-Ausspielens der gesellschaftlichen Schichten, die sowieso am wenigsten haben. Daran werden wir als Linke uns nicht beteiligen. Da brauchen Sie sich gar keine falschen Hoffnungen zu machen.
14 Monate lang prellen Sie die ostdeutschen Erwerbslosen nun schon pro Monat um 14 Euro. 14 Euro sind für einen ALG-II-Empfänger wahrlich kein Klacks. Den offiziellen Berechnungen zufolge hat ein Erwerbsloser seine gesamten Gesundheitskosten und seine gesamten Kosten für die Körperpflege pro Monat von 13 Euro und 19 Cent zu finanzieren. Seien wir doch einmal ehrlich: Wie weit würden wir mit knapp 14 Euro kommen, um damit die Kosten für Kosmetik und Gesundheit zu decken? Da die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland unrechtmäßig war, fordern wir Sie auf, diesen Betrag rückwirkend nachzuzahlen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Nun wenden Sie ein, das sei ein zu großer bürokratischer Aufwand. Gut, wir müssen keine unnötige Arbeit verursachen. Lassen Sie uns dann gemeinsam nach einer unbürokratischen Lösung, beispielsweise einer einmaligen Pauschale, suchen.
Apropos bürokratischer Aufwand. Sie dürfen nicht so tun, als ob die von Ihnen geplanten Verschärfungen bei den unter 25-Jährigen völlig unbürokratisch seien.
Sie alle kennen die Stellungnahme der Bundesagentur, in der ausgeführt wird, dass das Softwaresystem die Aufnahme der Kategorie „Volljährige Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ in eine bestehende Bedarfsgemeinschaft nicht zulässt. Man könnte fast meinen, das Softwareprogramm verfüge über ein rechtsstaatliches Verständnis, von dem sich hier so mancher eine Scheibe abschneiden könnte.
In den Debatten der letzten Tage wurden von den Befürwortern der Kürzung vor allen Dingen vier Argumente genannt, die ich gemeinsam mit Ihnen gerne näher beleuchten möchte.
Erstens. Die Herausbildung falscher Verhaltensmuster war ein Argument. Die Metapher von der Zellteilung machte die Runde. Aber wenn man genauer nachfragt, wo das belastbare Zahlenmaterial sei, dann wurde es verdammt dünn. Um einmal Herrn Senius von der Bundesagentur - übrigens der Sachverständige, den die großen Koalition benannt hat - zu zitieren: Man habe keine gesicherten Angaben.
Der Vertreter der Wohlfahrtspflege wurde noch deutlicher. Ich zitiere: Nach unserer Interpretation - wir sind sehr tief in die Statistik eingestiegen - gibt es keinerlei Anzeichen, nach denen man auf ein so genanntes Phänomen der Zellteilung schließen kann. - Sie haben keine belastbare Grundlage für Ihre Behauptungen. Aber Sie nehmen Ihr diffuses Empfinden als Grundlage für tiefe Einschnitte.
Eine solche Politik aus dem Bauch heraus wird in Zukunft zu weit mehr als Bauchschmerzen führen.
Zweitens. Menschen unter 25 Jahre - so Ihre Argumentation - sollen sowieso in einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz vermittelt werden. Dazu kann ich nur sagen: Schön wäre es! Ihr Anspruch nützt jedoch dem Jugendlichen, der bereits seine 50. Bewerbung vergeblich geschrieben hat, leider sehr wenig.
Drittens. Es handele sich hier - so führen Sie an - um eine steuerfinanzierte Leistung, für die die Menschen aufkommen müssten, welche jeden Tag bei Wind und Wetter zur Arbeit gehen.
Es ist tatsächlich ein Problem, dass das Steueraufkommen immer mehr von den Menschen getragen wird, die eine Arbeit haben.
Hier müssen wir tatsächlich etwas verändern. Also wagen wir uns endlich daran, Gewinne und Vermögen besser zu besteuern, um die Beschäftigten etwas zu entlasten.
Viertens. Sie sagen, die Familie sei eine Verantwortungsgemeinschaft. Als emanzipatorische Linke habe ich ein anderes Familienverständnis. Das mag Ihnen altmodisch vorkommen, aber ich bin nach wie vor der Meinung: Nicht finanzielle Abhängigkeit, sondern gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt sollten die Grundlagen des Zusammenlebens bilden.
Mit Ihrem Familienverständnis, meine Damen und Herren von SPD und CDU/CSU, beweisen Sie allerdings, wie Recht Karl Marx hatte, als er im „Kommunistischen Manifest“ schrieb:
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier entrissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
- Herr Brauksiepe, Sie werden sich wieder daran gewöhnen müssen, dass auch hier im Bundestag der in wissenschaftlichen Schriften am meisten zitierte Autor wieder eine Rolle spielt.
Die Argumente, die SPD und CDU/CSU für die Fortsetzung ihres Kürzungskurses vorbringen, überzeugen einfach nicht. Wenn Frau Connemann argumentiert, der staatlich finanzierte Auszug sei kein Bürger- und Menschenrecht, dann lässt das aufhorchen. Wollen Sie hier etwa einen Testballon für weitere Kürzungen steigen lassen? Ihre Logik, Frau Connemann, zu Ende gedacht, bedeutet, man könne die Grenze genauso gut bei 35, 55 oder am besten bei 67 Jahren ziehen, um danach nahtlos in Rente zu gehen.
Die Kürzungen, die heute Erwachsene unter 25 Jahren treffen, können von ihnen schon morgen für die unter 35-Jährigen oder für die über 55-Jährigen diskutiert werden. Wir Linken meinen jedoch: Junge Menschen dürfen nicht zum Experimentierfeld für weitere Leistungskürzungen werden.
Zusammenfassend ist zu sagen: Hartz IV junior ist kein Deut besser als Hartz IV senior. Es lohnt sich also, hier in diesem Haus über Alternativen zu reden.
Erstens sollten wir endlich das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft abschaffen
und schrittweise das Individualprinzip einführen. Es geht schließlich um soziale Rechte jedes Einzelnen.
Zweitens sollten wir das Arbeitslosengeld II durch eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ersetzen, die ein Leben jenseits der Armut und unabhängig vom Einkommen der Verwandtschaft ermöglicht. Es ist höchste Zeit dafür.
Drittens sollten wir - um die Finanzierung dieser Maßnahmen sicherzustellen - endlich einen Kurswechsel in der Steuerpolitik vornehmen und uns daran wagen, Vermögen und Gewinne von Unternehmen ordentlich zu besteuern.
Ihre bisherige Steuerpolitik hat die Löcher in den Haushalten nur weiter vergrößert.
Ich denke, wir können es uns nicht mehr leisten, auf diese Steuereinnahmen zu verzichten.
Es kann nicht sein, dass die Folgen Ihrer verfehlten Steuerpolitik, die Sie zu verantworten haben, auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Es ist höchste Zeit für einen politischen Kurswechsel in diesem Land.
Besten Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An dieser Stelle wird häufig das so genannte strucksche Gesetz bemüht, demzufolge ein Gesetz nicht so aus dem Parlament herauskommt, wie es dort eingebracht worden ist. Meistens wird das in diesem Hohen Hause von Abgeordneten in der Hoffnung geäußert, dass das Gesetz, das im Parlament beschlossen wird, besser ist als der eingebrachte Gesetzentwurf. Dass auch der umgekehrte Fall möglich ist, nämlich dass ein Gesetz das Parlament in einer schlechteren Fassung verlässt, beweist der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des als Hartz IV bekannt gewordenen SGB II. Eingebracht wurde nämlich das Vorhaben einer durchaus sympathischen Angleichung der Regelsätze in Ost und West. Herausgekommen ist dagegen ein relativ krudes und unsystematisches Spargesetz mit weiteren Leistungseinschränkungen.
Sparen ist an sich keine Sünde, sofern Begründung, Ziel und Grundannahmen stimmen. Das alles stimmt im vorliegenden Fall jedoch nicht. Sie behaupten, dass es bei Hartz IV zu Kostensteigerungen gekommen ist. Sie widersprechen nicht den öffentlich geäußerten Behauptungen, dass es bei Hartz IV sogar zu einer Kostenexplosion gekommen sei.
Sie treten auch nicht dem Eindruck entgegen, dass die Leistungsempfänger dafür verantwortlich sind.
Wahr ist aber - das ist an dieser Stelle festzuhalten -: Die gesamten Leistungen für Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Wohngeld, die zu zahlen gewesen wären, wenn es nicht zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gekommen wäre, hätten sich im vergangenen Jahr auf 40 Milliarden Euro belaufen. Die Kosten für das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft betrugen hingegen 41 Milliarden Euro. Ich kann da keine Kostenexplosion entdecken.
Berücksichtigt man zudem, dass 4,2 Milliarden Euro in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt worden sind und ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand entstanden ist, so zeigt sich, dass die Leistungsempfänger - also die Arbeitslosen - die Letzten sind, die für Kostensteigerungen verantwortlich gemacht werden können.
Das Argument einer vermeintlichen Kostensteigerung oder gar -explosion kommt Ihnen aber sehr gelegen, um die Leistungsverbesserungen zu stutzen, die das Arbeitslosengeld II - jedenfalls bisher - positiv von der früheren Sozialhilfe unterscheiden.
Es war das erklärte Ziel der rot-grünen Koalition - vor allem vom Bündnis 90/Die Grünen - in der letzten Legislaturperiode, mit dem Arbeitslosengeld II den Einstieg in eine Grundsicherung zu erreichen. Bei allen Mängeln, die das Gesetz zweifellos aufweist, ist diese Zielsetzung richtig. Wir sind dem Ziel in einigen Punkten schon ein ganzes Stück näher gekommen: gesetzliche Krankenversicherung für alle, Rentenversicherungsbeiträge auf der Basis von 400 Euro, Zugang zur aktiven Arbeitsmarktpolitik auch für frühere Sozialhilfebeziehende und nicht zuletzt der Anspruch auf eine eigenständige Leistung mit dem Erreichen der Volljährigkeit in Verbindung mit der Verpflichtung der Job-Center, diesen jungen Menschen ein Angebot zu machen. Das war kein Betriebsunfall in der Gesetzgebung; es ist vielmehr ein wichtiges Element der Grundsicherung des Arbeitslosengelds II.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben Sie nicht selbst noch im Wahlkampf die teilweise einschneidenden Kürzungen durch Hartz IV mit genau diesen Verbesserungen begründet und gerechtfertigt?
Ist denn nicht Ihr Vorsitzender Platzeck im Hartz-Sommer 2003 mit genau den Verbesserungen, die ich gerade genannt habe, über das Land gezogen, um Stimmen zu gewinnen, damit Sie mit einem blauen Auge davonkommen?
Jetzt bauen Sie den Popanz einer angeblichen Kostenexplosion und angeblicher Massenauszüge auf, um die Grundsicherungselemente von Hartz IV zu demontieren. Sie diskutieren hier hinlänglich über die unter 25-Jährigen; das ist sicherlich ein wichtiger Punkt. Aber bislang hat niemand erwähnt, dass der größte Kostenblock die 2 Milliarden Euro sind, die zulasten der Rentenversicherung eingespart werden.
Sie erwecken den Eindruck, die Jugendlichen führten auf Kosten der Steuerzahler ein Leben in Saus und Braus. Sie unterschlagen aber geflissentlich, dass die Jugendlichen bei Androhung der vollständigen Leistungskürzung - 100 Prozent Leistungskürzung! - verpflichtet sind, ein Angebot anzunehmen. Aber wo sind denn die Angebote? Das Problem ist, dass es an Angeboten mangelt
und dass der Zugang zur Arbeitsförderung sowie zu Qualifizierung und Zuschüssen, den wir im Gesetz vorgesehen haben, unzulänglich geblieben ist. Das mag natürlich auch mit dem schleppenden Aufbau der Job-Center zu tun haben. Aber hier müsste der Gesetzgeber herangehen; hier müsste man etwas machen. Fast die Hälfte der bereitgestellten Mittel für das Fördern im Rahmen von Hartz IV ist im vergangenen Jahr nicht ausgegeben worden. Tun Sie wirklich alles, damit sich das in diesem Jahr nicht wiederholt? Ich habe nicht den Eindruck. Wenn Sie mit der gleichen Anstrengung, mit der Sie Leistungskürzungen betreiben, Jugendliche förderten, bräuchten wir uns um Auszüge beileibe nicht so viele Gedanken zu machen.
Sie unterschlagen des Weiteren, dass es sich keinesfalls um ein Massenphänomen handelt. Herr Weiß und Herr Brandner haben behauptet, die Zahl der Einpersonenbedarfsgemeinschaft sei um 19 Prozent gestiegen. Tatsächlich ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften insgesamt angestiegen. Die Zahl der Mehrpersonenhaushalte ist um 16 Prozent angestiegen. Ich kann zwischen einem Anstieg um 16 Prozent und einem um 19 Prozent keine so gewichtige Differenz feststellen.
Es ist erstaunlich, dass Sie das für etwas Gravierendes und Außergewöhnliches halten. Wenn es das Phänomen der so genannten Zellteilung, also dass Jugendliche ausziehen und Einpersonenbedarfsgemeinschaften gründen, tatsächlich gegeben hätte, hätte dann in der Statistik nicht nachweisbar sein müssen, dass die Zahl der Zwei-, Drei- und Vierpersonenhaushalte in Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist? Genau das Gegenteil ist der Fall.
Das Verfahren im Umgang mit den unter 25-Jährigen ist exemplarisch. Ich nenne als weiteres Beispiel nur die Mietschulden. Hier wird ebenfalls auf fadenscheinige Art und Weise zu kurz gesprungen. Herr Brandner - wo ist er denn? -, Sie haben behauptet, die Mietschulden könnten nun auch im Rahmen der Beihilfe übernommen werden. Tatsächlich deckt dies das Gesetz nicht ab. Ich habe mir gerade aus meinem Büro den entsprechenden Änderungsantrag kommen lassen. Hier steht: Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden. - Dabei hat die Sachverständige aus der kommunalen Praxis eindeutig gesagt: Die bestehenden Beihilferegelungen sind Praxis in den Kommunen und sind günstig. Es rechnet sich für die öffentliche Hand, wenn den Hilfsbedürftigen der Mietschuldenrucksack abgenommen wird und sie sich auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt konzentrieren können. Aber Sie handeln unwirtschaftlich.
Wenn sich diese Art der Änderungen des Arbeitslosengeldes II fortsetzt, werden wohl Zug um Zug alle fortschrittlichen Ansätze des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch entfernt, sodass vermutlich am Ende nur noch eine verschlechterte Sozialhilfe übrig bleibt, die nicht nur auf der Leistungsseite defizitär ist, sondern das Ganze auch bürokratischer macht.
Notwendig wären aber ganz andere Verbesserungen im SGB II. In unserem Entschließungsantrag sind ja die dringlichsten Vorhaben benannt, die man sofort umsetzen könnte. Wir bräuchten in erster Linie eine generelle Überprüfung der Regelsätze auf Grundlage der aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Wir müssen die Regelleistung Arbeitslosengeld II in einem transparenten Verfahren anpassen. Reden wir in diesem Zusammenhang einmal über die von Ihnen genannte Zahl, Frau Kipping. Die 938 Euro umschreiben doch keinesfalls das soziokulturelle Existenzminimum, um das es in diesem Fall geht, sondern die Armutsrisikoquote. Das sind doch ganz unterschiedliche Werte. Sie sollten sich einmal mit den Eckdaten des Sozialhilferechts und des Sozialrechts vertraut machen.
Sie jammern über die Höhe des Arbeitslosengeldes II. Ich erinnere Sie daran, dass die Regelsatzverordnung eine Verordnung ist, die nicht im Parlament beschlossen wird, sondern von der Bundesregierung zusammen mit den Bundesländern erlassen wird. Sie sind doch in zwei Bundesländern mit in der Regierung. Schauen Sie sich einmal das Abstimmungsverhalten des Landes Berlin bei der Regelsatzverordnung an, bevor Sie hier über die Höhe des Arbeitslosengeldes II Krokodilstränen vergießen!
Es sind weiterhin einige Veränderungen zu berücksichtigen. Es ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, warum bei den Stromkosten ein 15-prozentiger Abschlag in der Regelsatzverordnung vorgenommen worden ist. Angesichts des Anstiegs der Energiekosten gerade der letzten fünf Jahre um fast 26 Prozent ist eine Nachbesserung erforderlich. Ebenso ist die Gesundheitsreform mit den Zuzahlungen nicht im Regelsatz systematisch verortet.
Das sind die entscheidenden Punkte. Fangen Sie damit an, Hartz IV zu einer echten Grundsicherung auszubauen! Wenn schon in der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Moment nicht alle Schritte getan werden können, dann erfüllen Sie wenigstens das verfassungsrechtliche Gebot der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Arbeit bedeutet Teilhabe und Teilhabe schafft gesellschaftliche Chancengerechtigkeit. Diese Formel ist so kurz wie zutreffend. Sie beschreibt die Zielsetzung, mit der wir gemeinsam - jetzt schaue ich die Damen und Herren in der Mitte an - die Arbeitsmarktreformen in der letzten und in der vorletzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben. Wir wollten erreichen, dass diejenigen, die im Sozialhilfesystem, aber erwerbsfähig waren, erstmals Zugang zu allen Leistungen der Bundesagentur für Arbeit erhalten. Wir wollten ihnen Chancen auf Weiterbildung eröffnen, auf Qualifizierung und Vermittlung. Wir wollten diesen Menschen alle Möglichkeiten eröffnen - das werden wir auch weiterhin tun -, damit sie statt des Verharrens in einem Transfersystem ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst bestreiten können. Das ist völlig richtig und das ist die Grundlage dessen, was wir uns in der großen Koalition vorgenommen haben.
„Fördern und fordern“ - das will ich nicht auslassen - lautete das Schlagwort, mit dem wir die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitsuchende beschrieben haben. Dieser Grundsatz gilt nach wie vor. Der Staat unterstützt diejenigen, die der Hilfe bedürfen. Deshalb sollen die Leistungen auch nur diejenigen erreichen, die ohne diese Unterstützung in ernste Bedrängnis geraten würden. Diese Zielgenauigkeit sind wir allen Steuerzahlern, aber auch den Menschen schuldig, die Tag für Tag durch ihre Arbeitsleistung diese Unterstützung von Hilfebedürftigen in unserer Gesellschaft ermöglichen.
Die Einführung des Arbeitslosengeldes II hat in Deutschland hohe Wellen geschlagen. Daran haben sich viele die Finger gewärmt und das muss keinen erstaunen. Manchmal kommt der angebliche Fortschritt als ganz plumper Populismus daher. Ich sage noch einmal vor dem Hintergrund dessen, was ich hier dargestellt habe: Wir hielten die Einführung dieses Systems für richtig und wir halten es nach wie vor für richtig. Wir lassen uns nicht bange machen. Wir haben versucht, auf die Proteste und die populistischen Kampagnen großer Boulevardzeitungen und anderer, die es gegeben hat, zu reagieren, indem wir den Ombudsrat eingesetzt haben.
Der Ombudsrat hat empfohlen, die Angleichung der Regelleistung Ost an die Regelleistung West vorzunehmen. Dieser Empfehlung folgen wir hiermit ausdrücklich. Er hat dafür eine ganz einfache Begründung geliefert, die ziemlich stichhaltig ist: Die Löhne und Gehälter sind ebenso wie Lebenshaltungskosten und Verbraucherverhalten von Region zu Region unterschiedlich. Sie sind nicht nur unterschiedlich zwischen West und Ost, sie sind auch unterschiedlich zwischen Nord und Süd, zwischen ländlichen Regionen und Ballungsregionen usw. Eine gesonderte Abstufung nur für die östlichen Bundesländer ist deshalb überhaupt nicht zu rechtfertigen. Wir setzen diese Empfehlung des Ombudsrates deshalb gerne um, und zwar gemeinsam.
Wir bekennen uns auch weiterhin und unmissverständlich zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wir hatten dabei von Beginn an festgelegt, dass wir aus Erfahrung lernen und gegebenenfalls die Konsequenzen ziehen wollen.
Eine derart komplexe und umfangreiche Reform darf nicht von Anfang an in Stein gemeißelt sein. Sie muss Raum für Anpassungen lassen, damit die notwendigen Konsequenzen aus den gesammelten Erfahrungen gezogen werden können.
Dieses SGB II gibt es jetzt 14 Monate. Wir sammeln Erfahrungen. Wir haben Aufbauerfahrungen gemacht. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag verschiedene Konkretisierungen für den Regelungsbereich des SGB II beschlossen. Sie wurde darin nach intensiver Beratung in den Ausschüssen und in einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen bestätigt. Teil dieses Paketes ist die Modifizierung von bisherigen Regelungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Bevor ich die Inhalte darstelle, möchte ich zunächst etwas zur Kollegin Kipping sagen: Der wissenschaftliche Sozialismus zeichnet sich dadurch aus - das haben wir gelernt -, dass diejenigen, die sich darauf berufen, immer nur das zitieren, was man gebrauchen kann; den Rest lässt man weg. Wenn Sie schon Werke von Marx und Engels zitieren, dann passen Sie auf, dass Sie nicht irgendwann bei den Stalin-Bänden landen. Alles, was darin steht, hat sich ja als äußerst brauchbar herausgestellt.
Insoweit wollte ich mich doch mit Ihnen, Frau Kipping, auseinander setzen, damit klar ist, worüber wir hier reden. Sie waren ja ganz stolz auf das Zitat; deswegen sollten Sie auch fair und korrekt sein. Ich sage Ihnen: Jede Politik beginnt damit, zur Kenntnis zu nehmen, was ist.
Sie haben einen Satz des Sachverständigen Senius zitiert. Ich lese Ihnen seine Aussage jetzt im Zusammenhang vor:
Wir haben nur eine eingeschränkte Empirie, auf die wir zugreifen können. Wir haben keine gesicherten Angaben, wie groß die Anzahl der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften vor Inkrafttreten des SGB II letztendlich war.
Das kann Ihnen jeder hier bestätigen. Auch das müssten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Weiter sagt er:
Fakt ist aber, dass seit 1. Januar 2005 die Zahl der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften um 19,6 Prozent angestiegen ist, während die Zahl der Mehr-Personen-Bedarfsgemeinschaften um „nur“ 16 Prozent gestiegen ist. Also haben wir hier zum einen eine deutlich stärkere Steigerung der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften, zum anderen haben wir einen deutlichen Anstieg der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren. Der war schlicht und einfach doppelt so stark im Anstieg wie der Anstieg aller erwerbsbedürftigen Hilfebedürftigen: 14 Prozent zu 28 Prozent bei den über 25-jährigen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen.
Nachdem wir diese Zahlen dargelegt haben, will ich sagen: Weil es so nicht beabsichtigt war, finde ich es völlig korrekt, dass wir „Bedarfsgemeinschaft“ neu definieren. Künftig gehört auch ein unter 25-Jähriger zur Bedarfsgemeinschaft - er bildet nicht automatisch eine eigene Bedarfsgemeinschaft -, sofern er im elterlichen Haushalt lebt. Wenn er zur Bedarfsgemeinschaft gehört, dann bekommt er nicht den vollen Satz von 345 Euro, sondern nur 80 Prozent davon. Selbst Frau Pothmer hat sich in der Aktuellen Stunde am vergangenen Mittwoch dazu herabgelassen, zu erklären - das kann man im Protokoll nachlesen -, dass der Neuregelung eine gewisse Systematik zugrunde liegt.
- Ich habe zugehört. Ich komme gleich auf Sie zu sprechen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Staatssekretär, ich muss Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Kipping zulassen.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich möchte das jetzt hier darstellen.
- Sie haben Ihr Pulver schon verschossen. Es ist doch gut.
Frau Pothmer, Sie haben hier erklärt, dass Sie für die Neuregelung großes Verständnis haben. Populistisch haben Sie aber hinzugefügt, dass die Reduzierung nicht auf 80 Prozent, sondern auf 90 Prozent erfolgen müsse. Das habe ich schon verstanden.
Wir halten die Neuregelung für sachgerecht. Sie ist richtig, weil derjenige, der zur Bedarfsgemeinschaft gehört, anders als der Haushaltsvorstand keine Generalkosten zu tragen hat: Man hat eine Waschmaschine, man hat eine Küche und man hat bestimmte Aufwendungen nicht zu erbringen. Deswegen halten wir die Neuregelung für bedarfsgerecht und richtig.
Ich komme auf den nächsten Punkt zu sprechen. Manche ziehen hier einen grenzenlosen Populismus ab. Ich finde die Argumentationsweise teilweise relativ übel. Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Es geht überhaupt nicht darum, dass diese Koalition, dass diese Regierung junge Menschen daran hindern möchte, selbstständig zu leben. Darum geht es überhaupt nicht. Das ist alles Unsinn. Wir haben ein steuerfinanziertes Bedarfssystem. Danach bekommt nur derjenige etwas, der bedürftig ist und diese Bedürftigkeit nachweist. Wenn sich in einem Jahr oder in 14 Monaten herausstellt - ich habe die entsprechenden Zahlen vorgetragen -, dass dieses System dazu führt, dass die Selbstständigmachung der Bedürftigen mehr als die anderer gefördert wird, dann stimmt etwas nicht.
Was falsch war, das stellen wir jetzt richtig.
Wir sorgen dafür, dass ein unter 25-Jähriger nur mit Genehmigung des Leistungserbringers ausziehen kann. Ich halte das auch für angemessen. Hinzufügen will ich gleich - wir haben auch das öffentlich erklärt -: Wir wollen nicht, dass junge Menschen im „Hotel Mama“ leben.
Auch das ist Unsinn. Selbst wenn Zeitungen das schreiben, muss das noch nicht richtig sein. Das wollen wir gar nicht.
Wir legen mit dem Gesetz mit dem Stichtag heute fest, dass für die jungen Menschen unter 25 Jahren, die nicht mehr im elterlichen Haushalt leben und die sich nach der bisher geltenden Gesetzesregelung verhalten haben, die gesetzlichen Änderungen, die wir jetzt vornehmen, nicht gelten. Es gibt da also einen Vertrauensschutz. Demjenigen, der bis heute ausgezogen ist und eine eigene Bedarfsgemeinschaft gegründet hat, wird diese nicht genommen. Wenn er künftig umziehen möchte, wird ihm auch nicht gesagt, dass er doch wieder zu Mama oder Papa zurückgehen soll. Das wäre auch Unsinn. Das wollen wir nicht.
Ich sage auch hier noch einmal eindeutig - wir haben es schon dreimal im Ausschuss erklärt; ich kann es nur immer wiederholen; Sie wollen es nicht begreifen und das ist das eigentliche Problem -, dass es diese Sicherung gibt und dass diejenigen, die künftig eine eigene Bedarfsgemeinschaft gründen wollen, dafür einer Genehmigung bedürfen. Von diesem Genehmigungserfordernis gibt es Ausnahmen. Die sind auch vernünftig. Wenn wir nämlich einen generellen Genehmigungsvorbehalt festlegen, schaffen wir als Gesetzgeber nicht die Möglichkeit, bestimmten Fällen, etwa dem Fall der Arbeitsaufnahme oder dem Fall, dass es den Betroffenen überhaupt nicht zugemutet werden kann, im elterlichen Haushalt zu leben, gerecht zu werden. Für diese Fälle treffen wir Regelungen. Die sind vernünftig. Auch das kann man öffentlich vertreten.
Als Nächstes komme ich zu dem Rentenversicherungsbeitrag. Ich will auf ein paar Spezialbereiche hinweisen. Es gibt Menschen, die erwerbsfähig und auch erwerbstätig sind und dazu ergänzende Hilfe bekommen. Weil sie ergänzende Hilfe bekommen, wird für sie ein Rentenversicherungsbeitrag bezahlt, obwohl sie in einem Beschäftigungsverhältnis stehen und schon aufgrund dieses Beschäftigungsverhältnisses Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden. Können Sie mir einmal erklären, warum der Staat das zweimal bezahlen soll?
Erst wir - ich will das einmal ausdrücklich sagen - haben die Rentenversicherungspflicht für diesen Personenkreis eingeführt.
Wir haben lange darüber diskutiert und uns mit der Frage auseinander gesetzt, wie wir das ausgestalten. Wir haben das so ausgestaltet, dass alle Anwartschaftszeiten genutzt werden können und Maßnahmen der Rehabilitation sowie andere Dinge in Anspruch genommen werden können. Aber wir reduzieren für den Staat die Beitragszahlung von jetzt 78 Euro auf 40 Euro und sparen damit - das ist auch überhaupt nicht zu leugnen; wir müssen nämlich sparen - knapp 2 Milliarden Euro ein, die sonst steuerfinanziert vom Staat dafür aufgebracht werden müssten. Auch das halten wir für sachgerecht und regeln es entsprechend.
Es ist schon einiges über den Leistungsausschluss für Ausländer gesagt worden. Dazu muss ich noch einmal Folgendes feststellen: Es geht nicht darum, dass Ausländer nicht die ihnen zustehenden Leistungen erhalten sollen. Aber wenn Personen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, nur um ALG II zu erhalten, dann muss dem ein Riegel vorgeschoben werden. Das tun wir jetzt.
Ich halte alles das, was wir machen, für sachgerecht und notwendig. Damit niemand sagen kann, er habe es nicht gewusst - es steht im Koalitionsvertrag; wir arbeiten auch schon an der Umsetzung -, will ich hier Folgendes ankündigen: Die große Koalition wird in den nächsten Monaten mit einem Optimierungsgesetz in einer ganzen Reihe von Positionen des SGB II und des SGB III nachsteuern und da zu Veränderungen kommen. Das ist auch sinnvoll.
Ich sage noch einmal: Ich halte die Reform, die am 1. Januar des vergangenen Jahres in Kraft getreten ist, für eine gewaltige Sozialreform. Sie ist nur mit der großen Rentenreform im Jahr 1957 oder mit der Einführung der Arbeitsförderung im Jahre 1969 zu vergleichen. Sie müssen sich einmal anschauen, wie viele Menschen davon betroffen sind. Es gibt 3,8 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Wir haben festgestellt, dass hier mehr als 300 000 Menschen aufgetaucht sind, die vorher in keinem anderen System waren. Wer sich anschaut, wie sich das SGB II entwickelt, der muss zugeben: Da muss nachgesteuert werden; da muss verändert werden. Das werden wir in diesem Jahre tun. Wir werden dabei auch über den Ausschluss von Missbräuchen diskutieren. Wir werden bürokratische Hürden beseitigen. Was die Frage der Effizienz angeht, werden wir eine ganze Reihe von Veränderungen vornehmen. Ich bitte Sie herzlich um Ihre Unterstützung und um Ihre Mitarbeit dabei.
Nun will ich aus meiner eigenen Erfahrung, aus dem, was ich in den vielen zurückliegenden Jahren in diesem Arbeitsfeld miterlebt habe, noch etwas zu den Grünen sagen. Wenn es keine Neuwahl gegeben hätte, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, dann hätten wir in der alten Koalition in diesem Jahr genauso Veränderungen vorgenommen, wie sie die neue Koalition jetzt vornimmt.
Ich bin mir relativ sicher - das können Sie glauben, weil wir viele Dinge zusammen mit den handelnden Personen gemacht haben -, dass viele der Maßnahmen, die wir jetzt treffen, mit Ihnen ganz genauso getroffen worden wären. Deswegen habe ich die herzliche Bitte: Kommen Sie ein bisschen weg von dem platten Populismus!
Erinnern Sie sich daran, was Sie in den sieben Jahren unserer gemeinsamen Koalition mitgetragen haben! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Gesetz zu!
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an die Kollegin Katja Kipping.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Da Herr Andres den Eindruck erweckt hat, ich hätte beim Zitieren bewusst etwas weggelassen, und dann stolz präsentiert hat, es habe bei der Zahl der Ein-Personen-Haushalte einen Anstieg um 19 Prozent und bei Mehr-Personen-Haushalten einen Anstieg um 16 Prozent gegeben,
möchte ich schon noch einmal darauf verweisen, dass auch in der Anhörung dargelegt wurde, dass die von Ihnen so stolz zitierten Zahlen nicht das Phänomen der Zellteilung beschreiben. Als Beleg zitiere ich Herrn Schneider von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege:
Für das Phänomen der „Zellteilung“ wird sich jedoch eine Abnahme bei den Mehr-Personen-Haushalten finden lassen müssen. Dann kann man von einer „Zellteilung“ sprechen. Das ist nicht passiert. Das heißt, es findet sich nirgendwo eine Auflösung von Zwei- oder Mehr-Personen-Haushalten wieder.
Weiter führt Herr Schneider aus:
Es finden sich statistisch nicht nur keine Anhaltspunkte für das Phänomen der Zellteilung, sondern Indizien, dass es dieses nicht gibt.
Wenn Sie, Frau Nahles, dem Vertreter der Wohlfahrtspflege Realitätsverlust unterstellen,
dann ist das Ihr Ding. Wir meinen, die genauen statistischen Untersuchungen sprechen eine klare Sprache. Das Phänomen Zellteilung ist so nicht belegbar.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Staatssekretär, bitte.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Kurzintervention, weil ich dadurch die Gelegenheit habe, noch etwas zu den Aussagen des Sachverständigen Schneider zu sagen. Seine Argumentation ist wirklich toll. Er sagt, von einer Explosion der Anzahl an Bedarfsgemeinschaften in Form von Ein-Personen-Haushalten könne nur dann die Rede sein, wenn es gleichzeitig eine Abnahme bei der Zahl der Mehr-Personen-Haushalten gebe.
Das ist blühender Unsinn; der müsste selbst Ihnen auffallen. Wenn aus einer Bedarfsgemeinschaft, die aus vier Personen besteht, einer auszieht, gibt es nach wie vor einen Mehr-Personen-Haushalt, nunmehr mit drei Personen, und zusätzlich entsteht ein neuer Ein-Personen-Haushalt. So viel zu dem von Ihnen zitierten Herrn Schneider.
Ich möchte Ihnen ganz schlicht noch etwas sagen: Wenn Sie in der Aktuellen Stunde dem zugehört hätten, was beispielsweise Frau Connemann und andere gesagt haben, dann wüssten Sie es. So muss ich Ihnen empfehlen, einmal verschiedene Arbeitsgemeinschaften aufzusuchen, sich dort umzuschauen und mit den Fachleuten, die das genehmigen müssen, zu reden. Dann erhalten Sie ganz viele Belege dafür, dass insbesondere die Zahl der Ein-Personen-Haushalte mit unter 25-Jährigen kräftig explodiert ist. Deswegen ist es richtig, dass wir hier die Regelungen ändern.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Brandner - ich freue mich, ihn jetzt wieder hier im Plenum zu sehen - hat einleitend in seiner Rede gesagt, heute sei ein guter Tag für die Menschen in unserem Lande. Nun, Herr Brandner, wenn der Tag ein guter Tag ist, an dem ein stümperhaft gemachtes Gesetz nachgebessert wird, dann mag es heute ein guter Tag sein. Tatsache ist, Sie handeln auf diesem wichtigen Feld der Politik nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“.
An Warnungen vor der Gefahr, dass die Zahl der von unter 25-Jährigen gegründeten Haushalte zunehmen werde, hat es ja damals im Gesetzgebungsverfahren wirklich nicht gefehlt. Deshalb muss man hier klipp und klar und ohne Umschweife feststellen: Mit geordneter Gesetzgebung hat das, was Sie in diesem Bereich in der Vergangenheit getan haben und auch heute wieder tun - das ist sehr wahrscheinlich; ich komme darauf zurück -, wirklich nichts zu tun.
Es wird über die Frage diskutiert, ob es massenhaften Missbrauch gegeben hat. Diese muss man wahrscheinlich mit Nein beantworten, weil diese Möglichkeit, Herr Brandner, im Gesetz ausdrücklich zugelassen war. Tatsache ist und bleibt aber, Frau Kollegin Kipping,
dass die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II unter anderem auch deswegen gestiegen sind, weil viele volljährige Jugendliche, die ALG II bezogen, eine eigene Bedarfsgemeinschaft gegründet und sich in einer eigenen Wohnung selbstverwirklicht haben. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es deren persönlicher Entwicklung gut getan hat und dass das auch ihre Selbstständigkeit fördert, aber in Ordnung ist das nicht, jedenfalls dann nicht, wenn es keine zwingenden Gründe dafür gibt und wenn es auf Kosten der Solidargemeinschaft geschieht. Das will ich hier sehr deutlich sagen.
Leistungen der Solidargemeinschaft müssen den wirklich Bedürftigen vorbehalten bleiben. Wir finden es richtig, dass die Familie oder das Elternhaus finanziell wieder stärker in die Pflicht genommen wird, wenn junge Menschen nicht für sich selbst sorgen können.
Deswegen, Herr Kollege Brandner - das sage ich auch den Kollegen von der Union -, finden wir es nicht in Ordnung, wenn der Status quo jetzt sozusagen honoriert wird. Die Findigen werden belohnt, während die Anständigen, die die Hausstandsgründungsmöglichkeiten auf Kosten des Steuerzahlers nicht in Anspruch genommen haben, nun die Dummen sind. Wir meinen, wo es sinnvoll und möglich ist, muss es im Rahmen der sechsmonatigen Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen auch einen gewissen Druck in Richtung einer Rückführung in die Haushalte geben, wenn ein offensichtlicher Missbrauch von Steuergeldern zu erkennen ist.
Dann haben Sie so getan, Herr Kollege Brandner, als ob mit diesem Gesetz nichts eingespart würde. Ich habe mir einmal das Zahlentableau besorgt, das Sie im Gesetzgebungsverfahren vorgelegt haben. Das ist schon sehr erheblich. Sie führen die Öffentlichkeit hier ein Stück weit hinters Licht. Die Abschaffung der Rentenversicherungspflicht von erwerbstätigen Leistungsbeziehern zum Beispiel bringt der Haushaltskasse in den nächsten Jahren 150 Millionen Euro per anno. Hier muss man eines sehr deutlich sagen: Die Abschaffung der Rentenversicherungspflicht von erwerbstätigen Leistungsbeziehern ist ein falsches Signal. Da widerspreche ich ausdrücklich auch dem Kollegen Andres. Das ist aber offensichtlich soziale Gerechtigkeit nach Lesart der großen Koalition. Ein reiner ALG-II-Empfänger stellt sich hinsichtlich der erworbenen Rentenansprüche besser als jemand, der eine Arbeit aufnimmt und hinzuverdient. Auch hier gilt: Die Fleißigen sind die Dummen. Das ist Ihre Politik.
Schließlich bleibt die Frage des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes. Ich habe ein Stück weit die Befürchtung, dass sehenden Auges ein erneutes Chaos im Bereich Hartz IV angerichtet wird. Sie wollen mit dem Kopf durch die Wand. Der Ausschussvorsitzende, Herr Weiß, hat in anderem Zusammenhang - bezogen auf das Saisonkurzarbeitergeld, das in dieser Woche von der Tagesordnung abgesetzt wurde - in diesen Tagen gesagt, Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Bei der Nachbesserung von Hartz IV allerdings geht Sorgfalt offensichtlich nicht vor Schnelligkeit, sondern hier soll politisches Handeln demonstriert werden. Ob das Ganze am Ende gelingt, ist mehr als fraglich. Es hat jedenfalls mit sorgfältiger Gesetzgebung nichts zu tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion.
Maria Michalk (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unser aller Leben ist gekennzeichnet von permanenten Veränderungen. Mal sind es gewollte, mal ungewollte, mal sind es kleinere, mal größere. Jetzt stehen wir am Anfang eines langen Reformweges. Deshalb, lieber Kollege Kurth: Emotionen runter! Sachlichkeit, Nüchternheit, Beharrlichkeit und auch Gemeinsamkeit sind angesagt. Der Herr Staatssekretär hat die Verbindung zwischen der vorigen und der jetzigen Wahlperiode hergestellt. Herzlichen Dank dafür, auch für die Sachlichkeit in dieser Frage.
Darüber, dass es sich bei der Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe im Januar letzten Jahres um eine große Veränderung für die betroffenen Menschen und für unsere Gesellschaft handelt, sind wir uns, glaube ich, sehr einig. Deshalb ist es ganz natürlich, dass die Umsetzung dieser Reform einerseits mit besonders hohen Erwartungen verbunden ist. Andererseits ist es aber auch normal, dass so ein Prozess nicht ohne Fragen und Probleme ablaufen kann.
Da es sich beim Arbeitslosengeld II grundsätzlich um eine bedürftigkeitsabhängige Leistung handelt, die nur in der Höhe gewährt wird, in der tatsächlich Hilfebedürftigkeit besteht, und die ausschließlich vom Steuerzahler erbracht wird, ist Sorgfalt und Kontrolle absolut notwendig.
Einen kritischen Punkt hat die Bundesregierung auf Empfehlung des Ombudsrates aufgegriffen - nicht, Frau Kollegin Kipping, weil Demonstrationen kurz vor Landtagswahlen, vor allen Dingen in Sachsen, von Ihnen missbraucht worden sind; jetzt gibt es nämlich keine Demonstrationen mehr -, der den Prozess sachlich begleitet hat, und jetzt ein erstes Änderungsgesetz mit den Inhalten, die heute schon angesprochen worden sind, vorgelegt. Ich will mich jetzt aber auf den Kernpunkt dieser Vorlage konzentrieren, nämlich die Angleichung des Ostbetrages auf das Westniveau.
Mit der bisherigen Fassung der in den neuen und alten Bundesländern unterschiedlichen Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sollten die Unterschiede in der Verbrauchsstruktur und im privaten Konsumverhalten berücksichtigt werden. Aber solche Unterschiede lassen sich eben nicht an Himmelsrichtungen festmachen und gleichen sich, wie wir wissen, in der Summe der konsumtiven Verhaltensweisen in den Regionen aus. Es muss der Bedarfsdeckungsgrundsatz erfüllt werden; das so genannte soziokulturelle Existenzminimum muss sichergestellt werden.
Die Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitssuchende sollen die Bedarfe des täglichen Lebens und für eine Teilnahme am kulturellen Leben der Hilfsbedürftigen decken. Den größten Anteil am Regelsatz haben die Ausgaben für Nahrungsmittel und Getränke. Von der amtlichen Statistik werden gegenwärtig jedoch keine regional differenzierten Preisindizes für entsprechende Warenkörbe ermittelt, aus denen sich eine objektiv nachvollziehbare Differenzierung der Lebenshaltungskosten nach Ost und West, nach Bundesländern oder gar nach Kreisen ableiten ließe.
Die augenscheinlichste Differenzierung bei den Lebenshaltungskosten liegt wohl bei den Wohnungsmieten. Das ist unstrittig. Diese Kosten werden aber über die Erstattung der Kosten für die Unterkunft separat gedeckt. Sie beeinflussen die Regelsätze also nicht. Es ist daher konsequent, das Arbeitslosengeld auf Westniveau zu vereinheitlichen.
14 Euro mehr im Monat ist vielleicht für den einen oder anderen in diesem Hause gerade einmal der Preis für ein Mittagessen. Für den Betroffenen ist es eine große Summe, die ihm hilft. Besser wäre es natürlich, die Betroffenen hätten einen Arbeitsplatz und sie könnten sich durch ihr selbst verdientes Einkommen ihr Leben gestalten. Auch das ist unstrittig.
Diese Erhöhung um 14 Euro pro Person und Monat führt zu einer jährlichen Mehrbelastung in Höhe von 260 Millionen Euro. Davon trägt der Bund 220 Millionen Euro und die Länder 40 Millionen Euro, wobei - auf diesen Punkt möchte ich ausdrücklich hinweisen - diese in der Revision nach § 46 Abs. 6 SGB II berücksichtigt werden sollen. Diese Kostenfrage sollte man nicht kleinreden, zumal als mittelbare Folge unserer heutigen Entscheidung, nämlich der Erhöhung von Sozialleistungen, grundsätzlich mit einer Ausweitung des Kreises berechtigter Personen zu rechnen ist, die dann erstmals - auch das sollte man nicht verschweigen - Anspruch auf aufgestockte Leistungen nach dem SGB II erhalten werden.
Da die durchschnittlichen Bruttoverdienste in den neuen Bundesländern derzeit in vielen Branchen noch deutlich unter den durchschnittlichen Bruttoverdiensten im alten Bundesgebiet liegen, wird es auch zu einem Anstieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften kommen, was zu einer Erhöhung des Verwaltungs- und Personalaufwandes zur Betreuung dieser Gemeinschaften führen kann.
Als Beispiel will ich nur anführen, dass das monatliche Nettoeinkommen von 50 Prozent aller Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern zwischen 400 und 1 100 Euro liegt. Die Bedenken, dass die sozialpolitische Wirkung eines verringerten Lohnabstandes zur Demotivation der arbeitssuchenden Personen führt, teile ich mit Blick auf die neuen Bundesländer nicht. Bis auf wenige Ausnahmen kenne ich ausschließlich Leute, die wirklich arbeiten wollen, die aber keine Arbeit aufnehmen können, weil ganz einfach die Arbeitsplätze fehlen. Das ist unser grundsätzliches Problem, an dessen Lösung wir weiter arbeiten müssen.
Die Mobilität derjenigen, die Arbeit haben und alles dafür tun, diese zu behalten, können Sie heute am Freitag spätabends zum Beispiel auf der A 4 bewundern. Es gibt Kolonnen von Fahrzeugen, die von Westen in Richtung Bautzen und Görlitz fahren.
Aus fachlicher und rechtssystematischer Sicht kann man bei der Angleichung des Ostbetrages auf das Westniveau schon Fragen stellen, da die Anpassungssystematik nach § 20 Abs. 4 SGB II eigentlich durchbrochen wird. Denn die Höhe der Regelleistung orientiert sich an den Veränderungen des aktuellen Rentenwertes und an den Regelsätzen des SGB XII.
Wir müssen also sehen: Rechtssystematisch war der ursprüngliche Ansatz richtig. Wir folgen aber den Empfehlungen des Ombudsrates - insofern ist dies auch eine politische Entscheidung - und beschließen heute aus diesen politischen Gesichtspunkten die Vereinheitlichung der Regelsätze. Damit erfüllen wir unsere Verpflichtung, die Festsetzung der Regelsätze nach dem Gleichheitsgrundsatz vorzunehmen.
Um der Grundsicherung in der Bevölkerung insgesamt mit Blick auf das, was sie eigentlich sein sollte, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, wie mein Kollege Weiß schon ausführlich begründet hat, auf die sich jeder verlassen, auf der sich aber keiner zulasten der anderen ausruhen kann, wieder Akzeptanz zu verschaffen, musste eine neue Balance gefunden werden.
Ein überteuertes, uneffektiv gewordenes soziales Netz strapaziert nicht nur unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es droht am Ende ein Wohlstandsverlust für alle, am meisten für die sozial schwachen Gruppen unserer Gesellschaft, für die wir das soziale System erhalten wollen.
Deshalb: Wir sind erst am Anfang eines langen Reformprozesses. Ich bitte darum, dass wir diesen in Ruhe und vernünftig gemeinsam weitergestalten.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion.
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Debatte, die wir in dieser Woche - sei es in der Aktuellen Stunde und heute Morgen - zu diesem Thema geführt haben, noch einmal durch den Kopf gehen lasse, dann habe ich den Eindruck, dass eine ganze Menge an Verwirrung gestiftet worden und Nebel entstanden ist. Es geht nicht um alle Jugendlichen in dieser Republik. Es geht um diejenigen, die der Hilfe bedürfen, die arbeitslos sind, in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern leben und ausziehen wollen, obwohl sie selbst keine eigenen wirtschaftlichen Grundlagen haben. Um nichts anderes geht es hier.
Ich habe den Eindruck, als sollte nach außen vermittelt werden, wir hätten nichts anderes vor, als junge Menschen zu ärgern. Es geht nicht um Ärgern und auch nicht um Sozialabbau. Die Sozialpolitik richtet sich nicht danach aus, wie viel Geld irgendwohin fließt. Die Sozialpolitik richtet sich danach aus, was man mit dem, was man einsetzt, bewirkt und erreicht. Eines der wesentlichen Ziele der Sozialpolitik ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren. Nichts anderes ist in SGB II vorgesehen.
Die letzten 14 Monate haben gezeigt - Staatssekretär Andres hat es eindrucksvoll dargestellt -, dass es mit dem SGB II ein völlig neues Projekt zur sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das SGB II ist natürlich an verschiedenen Stellen zu verändern. Es gibt Handlungsbedarf.
Die immense Kostenexplosion, die wir erlebt haben, hat unter anderem auch damit zu tun, dass vermehrt Arbeitslose zwischen 18 und 25 Jahren auf Kosten des Staates aus dem Elternhaus ausziehen. Was anfänglich dafür gedacht war, junge Menschen bei einem Auszug zu unterstützen, weil sie in einer anderen Stadt einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeit gefunden haben, hat sich mittlerweile unter jungen Menschen als kostenloses Umzugspaket herumgesprochen.
Wenn junge Menschen in einer Kommune meines Wahlkreises auf einen Ausbildungsplatz mit einer Vergütung von knapp 350 Euro im ersten Jahr verzichten, weil es finanziell attraktiver ist, nach SGB II zu leben, das heißt eine Grundsicherung plus die Übernahme der Mietkosten für die lang ersehnte eigene Wohnung und dazu noch den Umzug finanziert zu bekommen, dann, so behaupte ich, ist etwas falsch in unserer Gesellschaft, in unseren Köpfen und damit auch in der Vorgehensweise unseres Staates.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Ja.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Herr Kollege, Sie haben von Hilfe zur Selbsthilfe gesprochen. Definieren Sie die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge bei ALG-II-Empfängern und die damit einhergehende Rentenkürzung auch als Hilfe zur Selbsthilfe?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Die Senkung der Rentenbeiträge hat mit Hilfe zur Selbsthilfe nichts zu tun, sondern ist Auswirkung der Einzahlungen in das Rentensystem.
Deswegen gehört das nicht in diese Diskussion.
- Regen Sie sich nicht auf! Es geht hier um die Frage, ob es uns gelingt, junge Menschen und Menschen, die der Hilfe anderer bedürfen, aus der Sozialhilfe und damit aus dem SGB II herauszuholen und ihnen eine Perspektive aufzuzeigen. Das hat mit der Rentenversicherung und mit der Absicherung der Rente nichts zu tun.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Ja, aber dann keine mehr.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Schiewerling, Sie haben gerade einen Auszubildenden, der 350 Euro verdient, einem Bezieher von Arbeitslosengeld II gegenübergestellt. Würden Sie mir aber darin zustimmen, dass der Auszubildende, sofern er in einem eigenen Haushalt lebt, Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II und die Übernahme der Kosten für die Unterkunft hat und insofern dem Bezieher von Arbeitslosengeld II, der keinen Ausbildungsplatz hat, gleichgestellt ist?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Die exakten Regelsätze habe ich im Augenblick nicht präsent.
Meine Aussage bezog sich nicht auf die Höhe der Ausbildungsbeihilfe bzw. Ausbildungsvergütung. Meine Aussage bezog sich vielmehr darauf, dass, wenn jemand die Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, auf diesen aber verzichtet, weil das aus materiellen Gründen attraktiver ist, die Chancen in unserer Gesellschaft von den Einzelnen nicht richtig erkannt werden. Das war meine Botschaft.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, wir sind zwar nicht in der Fragestunde, aber es gibt trotzdem noch die Bitte um Zulassung einer Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Lötzsch.
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Eine Frage lasse ich noch zu. Dann müssen wir aber sehen, dass wir heute noch fertig werden.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Vielen Dank für die Großzügigkeit, Herr Kollege. - Sie haben gerade angemerkt, dass das Thema „Höhe der Rentenversicherungsbeiträge“ nicht in diese Debatte gehöre. Stimmen Sie mir aber zu, dass mit der Entscheidung über diesen Gesetzentwurf, die jetzt zu treffen ist, gerade die Kürzung des Rentenversicherungsbeitrages erfolgt? Ich könnte meine Frage vereinfacht formulieren: Haben Sie das Gesetz gelesen?
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Durch die Senkung des Beitrags zur Rentenversicherung senkt sich die Rentenanwartschaft von etwas mehr als 4 Euro im Monat auf 2,18 Euro. Das weiß ich natürlich. Aber das hat doch mit der Hilfe zur Selbsthilfe, die ich vorhin angesprochen habe, nichts zu tun.
Bei aller Sympathie für die Emanzipation junger Menschen: Es ist nicht Aufgabe des Staates, zu finanzieren, dass junge Menschen nicht zu Stubenhockern werden.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der wichtig ist. Ich gehe davon aus, dass Kinder, die bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahres im Haushalt ihrer Eltern gelebt haben, nicht plötzlich mit Vollendung des 18. Lebensjahres von ihren Eltern an den Kosten der Wohnung, zum Beispiel für Versicherungen und Fernsehgebühren, beteiligt werden. Deshalb halte ich es für zumutbar, die Ansprüche junger Menschen auf 80 Prozent zu reduzieren, vor allem dann, wenn sie nicht selbst für sich sorgen können.
Dass wir hier nicht willkürlich vorgehen, ist im geplanten § 22 Abs. 2 a SGB II des vorliegenden Gesetzentwurfes, über den wir gleich abstimmen werden, geregelt. Heute Morgen wurde schon ausführlich dargestellt, unter welchen Bedingungen auch ein Auszug aus dem Elternhaus akzeptiert und mitgetragen wird.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass die geplante Kürzung des Arbeitslosengeldes II keine Erfindung im Rahmen der Hartz-IV-Reform ist. Die Anpassung im Familienbereich ist bereits im SGB XII geregelt und schon lange bewährte Praxis. Dies wird jetzt im Prinzip nur auf das SGB II übertragen. Der gekürzte Regelsatz für unter 25-Jährige gefährdet nicht das Existenzminimum dieser jungen Menschen. Wir haben im SGB XII geregelt, dass Jugendliche, die im Haushalt ihrer Eltern leben, 237 Euro bekommen. Nach SGB II erhalten die Jugendlichen - das ist bereits der gekürzte Betrag - 276 Euro. Das ist nicht weniger, sondern das sind 39 Euro mehr. Nicht alles was neu ist, ist unbedingt schlecht.
Meine Damen und Herren, mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des SGB II trägt dazu bei, dass Menschen ohne Arbeit gefordert werden, ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft bestreiten zu können. Schließlich wollen wir Menschen in Arbeit bringen und sie somit aus dem Bezug staatlicher Leistungen herausholen.
Unser oberstes Ziel ist und bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen alle mithelfen: jeder Einzelne, die Tarifpartner, der Staat und die Gesellschaft.
Wir haben den Arbeitsgemeinschaften und den optierenden Gemeinden vorgegeben: Vorfahrt für junge Menschen. Junge Arbeitsuchende werden gezielt unterstützt. Sie sollen umgehend in einen Ausbildungsplatz, ein Praktikum oder einen Zusatzjob mit Qualifizierung kommen. Dass die Eingliederungsmaßnahmen fruchten, belegt auch die sinkende Zahl arbeitsloser junger Menschen. Sie ist im vergangenen Monat um über 52 000 gesunken.
Es ist meines Erachtens eine Frage der Menschenwürde, dass ein junger Mensch die Möglichkeit und die Aufgabe hat, mit seines eigenen Kopfes und seiner eigenen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Falls er das nicht kann, weil er nicht beliebig qualifizierbar ist oder eine leichte Behinderung hat, muss ihm der Staat helfen. Aber zunächst einmal ist jeder selbst gefordert.
Wir müssen die jungen Menschen erreichen - das ist ein Punkt, der mir große Sorge bereitet -, die aus einem Elternhaus kommen, das bereits in zweiter oder dritter Generation von Sozialhilfe lebt.
Das ist ein Themenbereich, der uns sehr bewegt. Ich glaube, dass es notwendig ist, gerade den jungen Menschen eine Perspektive aufzuzeigen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren, und dass es sich nicht lohnt, ein Leben lang von Transferleistungen des Staates zu leben.
Mein Appell an die jungen Menschen lautet: Ihr könnt mehr, als ihr denkt! Ihr könnt mehr, als ihr euch bis jetzt vielleicht selbst zugetraut habt! Ich appelliere an die Eltern, gemeinsam mit ihren Kindern die Beratungsmöglichkeiten und Unterstützung bei Berufsorientierung und Lebenshilfe anzunehmen, die vonseiten des Staates und der freien Träger angeboten werden, damit sie aus eigener Kraft die Brücke begehen können, die ihnen der Staat und die Gesellschaft bauen.
Ich fordere die Arbeitsgemeinschaften und die optierenden Kommunen auf, noch mehr als bisher jungen Menschen auf ihrem Weg in Arbeit beratend und begleitend zur Seite zu stehen, die vorhandenen Netzwerke zu nutzen und die Eingliederungsmittel, die der Bund zur Verfügung stellt, auch wirklich abzurufen und gut einzusetzen.
Eines ist klar: Das SGB II löst keine Probleme wie Vereinsamung, Schwierigkeiten in der Erziehung oder Bildungsarmut. Das SGB II gewährt eine Grundversorgung, nicht mehr und nicht weniger. Beim Sprung aus der Grundversorgung wollen wir helfen, aber springen, meine Damen und Herren, muss jeder selbst.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über diesen Tagesordnungspunkt kommen: Mir liegen Meldungen zu drei mündlichen Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, und zwar von Diana Golze, Elke Reinke und Jörn Wunderlich, die ich dann aufrufen werde. Außerdem liegen mir noch zwei schriftliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von Dagmar Enkelmann und Lutz Heilmann vor.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat die Kollegin Diana Golze.
Diana Golze (DIE LINKE):
Ich stimme gegen dieses Gesetz, da ich den Gedanken der Gleichbehandlung konsequent zu Ende denke. Es geht nicht, wie vorhin gesagt wurde, um ein staatlich gefördertes Auszugsprogramm. Wir wollen auch keine Umzugskarawane organisieren. Ich begrüße die längst überfällige Angleichung der Regelleistungen Ost und West, aber wir dürfen nicht gleichzeitig beschließen, dass es Jugendliche erster und zweiter Klasse gibt. Wenn wir nicht in der Lage sind, jedem jungen Menschen einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bieten, dürfen wir sie nicht für unser Versagen bestrafen und zahlen lassen.
Wir führen jede millionenschwere Initiative zur Stärkung des Selbstbewusstseins und des Demokratieverständnisses junger Menschen ad absurdum, wenn wir ihnen gleichzeitig kein eigenständiges Leben ermöglichen und ihnen immer tiefer in die Tasche greifen. 345 Euro sind schon zu wenig, aber 276 Euro für unter 25-Jährige sind ein Skandal. Das hat mit Vorfahrt für Jugend nichts zu tun.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer weiteren Erklärung erhält die Kollegin Elke Reinke.
Elke Reinke (DIE LINKE):
Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten abgeben zu dürfen.
Ich lehne den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf ab, weil in ein Änderungsgesetz zum längst überfälligen Ost-West-Angleich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zusätzliche Hartz-IV-Verschärfungen eingeflochten wurden. Sie stopfen Haushaltslöcher auf Kosten junger Erwachsener und ihrer Familien. Mich erreichen täglich Anrufe, und zwar nicht nur von Hartz-IV-Betroffenen. Die Menschen sind enttäuscht und zornig über dieses Gesetz. Sie meinen, dass das wie Zuckerbrot und Peitsche und eine riesige Sauerei ist. Sie sagen: Diesem Machwerk dürft ihr als Linke nicht zustimmen.
Danke.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Zu einer weiteren Erklärung erhält das Wort Jörn Wunderlich.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme gegen diesen Gesetzentwurf. Denn als das Änderungsgesetz zum SGB II auf Drucksache 16/99 zum ersten Mal in den Ausschuss kam, ging es lediglich um die Angleichung des ALG II vom Ost- auf das Westniveau.
Dem hätte ich noch zustimmen können. Es wurde dann aber sofort von der Tagesordnung genommen.
In der jetzigen Form kann ich dem nicht mehr zustimmen. Denn in Drucksache 16/688 sind noch schnell Verschärfungen gestrickt worden, die sozial unerträglich sind. Ich begrüße ausdrücklich eine Anhebung des ALG II. Aber aufgrund der massiven sozialen Einschnitte kann ich dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht zustimmen. Was ich von den neuen Änderungen halte, habe ich - so denke ich jedenfalls - am Mittwoch deutlich gemacht.
Ich stimme gegen diesen Gesetzentwurf, damit ich morgen noch in den Spiegel schauen kann, ohne mich schämen zu müssen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/99. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/688, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung in der dritten Beratung angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/696 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich würde jetzt gern wissen, wie das Abstimmungsverhalten der Fraktion der Linken ist. Meiner Ansicht nach hat ein Teil der Fraktion der Linken dagegen gestimmt und ein Teil hat sich enthalten.
- Das ist ihr gutes Recht, sehr richtig, Herr Kollege. -
Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei einigen Gegenstimmen der Fraktion der Linken und einigen Enthaltungen der Linken abgelehnt.
- Es hat kein Teil zugestimmt, Frau Kollegin Enkelmann.
- Nein, Sie haben überhaupt nicht abgestimmt.
- Ich habe Sie gesehen.
- Frau Kollegin Enkelmann, mein Blick war auf die Fraktion der Linken gerichtet. Sie haben definitiv überhaupt nicht abgestimmt.
Tagesordnungspunkt 15 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/688 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Angleichung des Arbeitslosengeldes II in den neuen Ländern an das Niveau in den alten Ländern rückwirkend zum 1. Januar 2005“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Mindestlohnregelung einführen
- Drucksache 16/398 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mindestarbeitsbedingungen mit regional und branchenspezifisch differenzierten Mindestlohnregelungen sichern
- Drucksache 16/656 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Ob in Deutschland oder in Frankreich, bei uns werden Unternehmen aus anderen Ländern zu ganz anderen Lohnbedingungen, zu ganz anderen Sozialbedingungen Arbeit anbieten. Diese Konkurrenz bedeutet Dumping: weil sie ausschließlich auf das Drücken der Löhne hinausläuft.
Die Kosten in Deutschland sinken aber doch nicht: Weder wird die Miete geringer noch werden Busfahrten billiger noch Bahnfahrten. Im Gegenteil, alles wird teurer. Deshalb ist es doch nicht zu viel verlangt, dass der Gesetzgeber von den Unternehmen die Zahlung eines Mindestlohns erwartet und sie dazu verpflichtet.
- Auf die Arbeitsplätze komme ich noch zu sprechen.
Wenn man für einen solchen Mindestlohn streitet, muss man auch sagen, wo er liegen soll; dafür braucht man einen Maßstab.
Wir können uns nach dem richten, was der Gesetzgeber als pfändungsfreies Einkommen festgelegt hat. Wenn Sie jemandem ein Darlehen gewähren, dieser es nicht zurückzahlt und Sie nach drei Jahren endlich Ihren Vollstreckungstitel haben, dann bekommen Sie, wenn diese Einzelperson nur 985 Euro netto hat, gar nichts davon. Erst wenn die Person mehr als 985 Euro hat, können Sie pfänden. Das ist doch ein Maßstab! Damit hat der Gesetzgeber - die Mehrheit im Bundestag - gesagt: An diesen Betrag lassen wir auch einen Gläubiger nicht heran. Genau dieser Betrag muss der Mindestlohn in Deutschland werden: Wer arbeitet, muss mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen.
So kommt unsere Rechnung zustande: Bei 8 Euro brutto pro Stunde kommen Sie bei einer 40-Stunden-Arbeitswoche auf einen Bruttolohn im Monat, dem netto etwa diese 985 Euro entsprechen. Damit würde jeder mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen. Das ist doch nicht zu viel verlangt.
Es gibt noch ein Argument für unser Anliegen: 14 europäische Staaten haben einen Mindestlohn eingeführt - und sie haben damit keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Sagen Sie jetzt nicht: Die sind alle doof und wir sind als einzige schlau. Nein, sie hatten gute Gründe, einen Mindestlohn einzuführen.
Reden Sie einmal mit einem Taxifahrer, mit einer Friseuse, mit Leuten aus dem Bäckereihandwerk oder gar mit Wachpersonal!
- Ja, ich bin jetzt ein paar Jahre einem normalen Beruf nachgegangen. Da lernen Sie viele Leute kennen. Da müssen Sie mal wieder rein; das ist zur Abwechslung gar nicht schlecht.
Wenn Sie mit diesen Leuten reden, werden Sie eins feststellen: Es gibt Leute, deren Bruttoeinkommen bei 3 Euro, 4 Euro die Stunde liegt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie reden sonst auf Kosten Ihrer Kollegen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
So viele Überstunden können Sie gar nicht machen, dass Sie davon Ihren Lebensunterhalt einigermaßen bestreiten können. Ich sage, es ist eine Frage des Anstands, dass wir - der Bundestag - dafür sorgen, nicht von Armut umgeben zu sein. Dafür brauchen wir den Mindestlohn.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gysi, nach Ihrem Beitrag bin ich in einer Hinsicht erleichtert: Anscheinend gibt es in Ihrer Fraktion doch Leute, die die freie Rede beherrschen; das klang ja vorhin bei den abgelesenen Erklärungen anders.
Mir ist gleichwohl klar, dass die Zettel, die hier eben abgelesen wurden, nicht aus SED-Zeiten stammen.
Denn zu DDR-Zeiten konnten die Leute auf solche Summen, wie Sie sie hier einfordern, nicht hoffen; das waren damals andere Zeiten.
Es war schon etwas gespenstisch, wie das hier eben vorgetragen wurde; die Anmerkung sei mir vorweg gestattet.
Mit der Forderung, die hier von der PDS erhoben worden ist, steht sie an der Spitze der Forderungen, die in Hinsicht auf die Höhe eines Mindestlohns erhoben worden sind.
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg dazu gesagt hat, was das für das Lohngefüge bedeutet, gerade in den neuen Ländern, die Sie hier hervorheben: 34 Prozent der Menschen, die in den neuen Ländern arbeiten - nehmen Sie den Fall: mit zwei Kindern -, haben ein Einkommen im Monat, mit dem sie den Betrag, den Sie hier gefordert haben, nicht erreichen. Für 34 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten würde das bedeuten: Ihr Arbeitsplatz ist akut gefährdet, wenn das, was in Ihrem Antrag gefordert wird, umgesetzt wird. In der Realität einer sozialen Marktwirtschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb behaupten muss, ist so etwas nicht zu machen; das haben Sie gefälligst zur Kenntnis zu nehmen. Solche Forderungen kosten Arbeitsplätze, sie treiben zusätzlich Menschen in die Arbeitslosigkeit. Das ist reiner Populismus.
Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
Nun wird man natürlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich im Bereich des Niedriglohnsektors in den vergangenen Jahren etwas verändert hat, und zwar auch zum Negativen. Im Vorgriff auf das, worüber wir gleich vielleicht noch diskutieren, will ich ausdrücklich sagen: Auf unserem Arbeitsmarkt und im Niedriglohnbereich ist eben nicht alles wunderbar geordnet. - Traditionell und richtigerweise haben wir die Tarifautonomie. Die Tarifvertragsparteien haben in den letzten Jahren aber an Bindungskraft verloren.
Die Wirkungen der Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien haben Bedeutung eingebüßt.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, wo in diesem Bereich politischer Handlungsbedarf besteht.
Die große Koalition hat sich das im Koalitionsvertrag entsprechend vorgenommen. Wir haben uns vorgenommen, die Geltung des Entsendegesetzes zu erweitern.
- Hören Sie zu, Herr Kollege Niebel! - Wir werden es auf den Bereich der Gebäudereiniger ausweiten und wir haben uns vorgenommen, eine weitere Ausdehnung auf weitere Branchen zu prüfen. Das ist der eine Punkt.
Daneben haben wir uns vorgenommen, Lösungsmöglichkeiten für den Bereich der Kombilöhne vorzuschlagen - das werden wir im Laufe dieses Jahres machen -, um auch im Niedriglohnbereich etwas zu tun. Hier geht es natürlich darum, dass wir den Staat und die Steuerzahler vor Ausbeutung schützen. Deswegen wird darüber zu reden sein, wie man das, was ein Arbeitnehmer durch sein Markteinkommen und die hinzukommenden staatlichen Transfers erhält, justieren und in ein vernünftiges Verhältnis zueinander setzen kann. Aus diesem Grund ist im Koalitionsvertrag an dieser Stelle auch der Zusammenhang mit den Themen Mindestlohn und Entsendegesetz aufgeführt. Wir haben deutlich gemacht, dass eine Debatte über den Kombilohn natürlich auch diese Themen berührt. Die Bundeskanzlerin hat in den vergangenen Wochen mehrfach völlig zu Recht auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Wir sind an dieser Stelle offen, uns auch Gedanken darüber zu machen, wie wir im Bereich des Niedriglohns vorankommen. Wir sind hier offen und wir werden unaufgeregt, mit der nötigen Sorgfalt und ohne irgendwelche ideologischen Vorbehalte an diese Fragen herangehen.
Ich möchte das ausdrücklich auch vor dem Hintergrund der Vereinbarungen sagen, die gestern im Europäischen Parlament getroffen worden sind. Wir haben nun die Dienstleistungsrichtlinie. Ich denke, das geht im Grundsatz in die richtige Richtung. Ich finde es richtig, dass der Bundesarbeitsminister und der Bundeswirtschaftsminister auch vor diesem aktuellen Hintergrund gemeinsam bekräftigt haben, dass die Koalition bei ihrem Willen bleibt, den deutschen Arbeitsmarkt gegen Lohndumping zu schützen und rechtzeitig entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen.
Ich denke, für die Koalitionsfraktionen gilt gemeinsam, dass tarifliche Lösungen immer Vorrang vor gesetzlichen Lösungen haben. Deswegen werden die Möglichkeiten, die uns durch das Entsendegesetz geboten werden, in diesem Zusammenhang zu prüfen sein. Dabei werden wir insbesondere auch unsere Möglichkeiten prüfen, ein Absinken der Löhne ins Bodenlose zu verhindern.
Im Übrigen will ich in diesem Zusammenhang deutlich sagen: Die Frage, was denn nun eigentlich eine anständige Entlohnung für eine Arbeit ist, ist sehr alt. Ich darf das sagen: Dies ist eine sehr christliche Frage und sie hängt mit unserem Verständnis von Menschenwürde und mit unserem christlichen Menschenbild zusammen. Wer anständig arbeitet, hat auch einen Anspruch auf einen anständigen Lohn.
Das ist nicht Gegenstand einer neuen Debatte. Schon Papst Leo XIII. hat Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Gedanken zu dieser Frage formuliert. Papst Pius XI. hat dann in seiner Sozialenzyklika von 1931 darauf hingewiesen, dass bei der Bemessung eines gerechten Lohns verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, eben auch die allgemeine Wohlfahrt. Ich zitiere ihn sehr gerne. Schon damals hat er gesagt:
Die Gemeinwohlgerechtigkeit verbietet daher, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl nur dem eigenen Vorteil gemäß die Löhne über den zulässigen Spielraum hinaus hinabzudrücken oder hinaufzutreiben; ...
Das schrieb Pius XI. schon vor gut 80 Jahren. Da war er schon sehr viel weiter als die Linke heute.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Aber gerne, Herr Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Brauksiepe, nachdem ich Ihnen aufmerksam zugehört habe, weiß ich zwar jetzt, was Papst Leo XIII. und Papst Pius XI. in dieser Frage gedacht haben. Aber so recht hat sich mir noch nicht erschlossen, wie Ihre persönliche Position oder die Position Ihrer Fraktion zu dem Thema Mindestlohn aussieht.
Wäre es zu viel verlangt, mir in Kürze zu sagen, ob Sie dafür oder dagegen sind?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Nein, das ist nicht zu viel verlangt, Herr Kollege Kolb. Ich habe noch 3,25 Minuten an Redezeit, die ich diesem Thema widmen werde.
- Ja, jetzt habe ich noch mehr Redezeit. - Ich will Ihnen deutlich sagen: Es geht in der Tat darum, dass wir verschiedene Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigen, auf die ich im Laufe der nächsten Minuten noch zu sprechen kommen werde. Ich beginne mit dem Punkt, der eben angesprochen worden ist.
Ich sage Ihnen erst einmal etwas zu der Frage der in den anderen europäischen Ländern so weit verbreiteten Mindestlöhne, die angeblich dafür sprechen, Mindestlöhne auch in Deutschland einzuführen. Es heißt, dass es in 14 Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich will Ihnen die Mindestlöhne in ein paar Ländern nennen: Lettland: 71 Cent die Stunde, Litauen: 85 Cent die Stunde, Estland: 93 Cent, Slowakei: 93 Cent. So viel zum Mindestlohn in anderen Ländern und den angeblich guten Gründen, die dafür sprechen. Genau das wollen wir nicht.
Jetzt zu der Frage, wie es in Deutschland sinnvollerweise laufen soll. Ich habe eben darauf hingewiesen: Es gibt bei uns die Tradition der Tarifautonomie, die unser Land aus guten Gründen von anderen Ländern unterscheidet. In Großbritannien gibt es seit 1909 Mindestlöhne, in Frankreich seit 1915 und in anderen Ländern sieht es ähnlich aus. Bei uns steht anstelle der Tradition der Mindestlöhne die Tarifautonomie.
Diese hat für uns Vorrang; das will ich Ihnen deutlich sagen.
In der Frage, wie wir bei Niedriglöhnen, Kombilohn oder Mindestlohn vorankommen können, sind drei Leitlinien im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege Kolb, dass wir darin mit Ihnen einig sind. Die erste Leitlinie ist: Die Löhne in diesem Land dürfen nicht ins Bodenlose sinken. Es muss eine sittliche Untergrenze geben, unterhalb derer niemand arbeiten muss. Derjenige, der anständig arbeitet, muss einen angemessenen Lohn bekommen. Sollten die Tarifvertragsparteien bei den Löhnen etwas übersehen haben, ist der Gesetzgeber gefordert, dem Einhalt zu gebieten.
Die zweite Leitlinie, die zu beachten ist - ich denke, auch da werden Sie uns zustimmen -: Es dürfen keine zusätzlichen Anreize für Schwarzarbeit geschaffen werden. Das setzt allen Regelungen, die wir treffen, Grenzen nach oben.
Die dritte Leitlinie ist: Die Löhne müssen für die Unternehmen finanzierbar bleiben. Es dürfen keine zusätzlichen nicht tragbaren Belastungen für den Haushalt entstehen. Das haben wir im Koalitionsvertrag im Zusammenhang mit dem Kombilohn festgehalten. Es wird und darf keine flächendeckende Subventionierung von Unternehmen geben. - Um diese Leitlinien geht es.
Also: Erstens. Kein Absinken der Löhne ins Bodenlose! Zweitens. Keine zusätzlichen Anreize für Schwarzarbeit! Drittens. Das Problem muss in einer Weise gelöst werden, die den Staat insgesamt nicht finanziell überfordert. Von diesen Linien lassen wir uns leiten. Wir haben uns vorgenommen, dieses Thema in diesem Jahr anzugehen, und das werden wir auch tun. Wir werden Lösungen finden, von denen ich sicher bin, dass sie tragfähig sein werden.
Wir müssen aber von dem Denken in ideologischen Kampfbegriffen wegkommen. Ich bin froh, dass im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie dieses Gerede um das Herkunftslandprinzip vom Tisch ist. Es geht um die Sache, nicht um das Hochhalten irgendwelcher Prinzipien.
Auch bei dieser Debatte geht es darum, wie wir im Niedriglohnbereich vorankommen. Die Sozialdemokraten entwickeln ihre Vorstellungen und wir entwickeln unsere Vorstellungen. In dieser Frage werden wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen:
unideologisch, unaufgeregt und nach dem Motto „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“, anstelle kurzfristiger populistischer Erfolge, die den Menschen im Niedriglohnsektor nicht helfen. Um sie geht es uns.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Kollege Brauksiepe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich das Parlament nun eine Vorlesung, eine geschichtliche Abhandlung zu den Mindestlöhnen, angehört und man vielleicht aufgrund des rhetorischen Feuerwerks die Logik nicht verstanden hat, bleibt für mich eine einfache Frage.
Sie haben Lösungen angekündigt. Wann werden Sie diese Lösungen vorstellen? In Ihrer Rede haben Sie das jedenfalls nicht getan.
Ich habe noch eine Frage. Waren die Angaben zu den Mindestlöhnen in Litauen, Estland und Lettland vielleicht ein Hinweis darauf, welche Mindestlöhne in Deutschland zu erwarten sind, wenn Sie darüber entscheiden könnten?
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Brauksiepe, bitte.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege, Sie wissen, dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Mit uns wird es kein Abgleiten der Löhne ins Bodenlose geben. Wir werden dazu Vorschläge erarbeiten, die wir noch in diesem Jahr vorlegen werden.
Die von mir genannten Zahlen belegen eines: Je stärker der real existierende Sozialismus in der Vergangenheit verbreitet war, desto größer ist das Elend der arbeitenden Menschen heute. Das und nichts anderes belegen diese Zahlen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Linke und Grüne wollen mit der heutigen Debatte Druck auf die zerstrittene Koalition ausüben, Mindestlöhne einzuführen. In der Tat ist zu befürchten - das ergibt sich auch aus dem, was Herr Kollege Brauksiepe gesagt bzw. nicht gesagt hat -, dass die Koalition ernsthaft einen solchen Schritt erwägt. Auch Äußerungen von Bundesarbeitsminister Müntefering lassen diesen Schluss zu.
In der Tat, es klingt durchaus heimelig, Herr Kollege Brandner, wenn Herr Müntefering feststellt: „Wer seinen Job richtig macht, muss auch so viel Geld bekommen, dass er seine Familie davon ernähren kann.“
Im Ergebnis stimme ich ihm zwar zu - das wird Sie sicherlich wundern, Herr Kollege Brandner -, aber das erreicht man nicht dadurch, dass man die Löhne auch für einfache Tätigkeiten per Gesetz hochschraubt
- hören Sie zu, Herr Brandner! -, sondern dadurch, dass man Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch ihre eigene Tätigkeit finanzieren können, bei Bedarf einen ergänzenden staatlichen Transfer gewährt, wie es die FDP mit ihrem Konzept des Bürgergeldes vorgeschlagen hat.
Ich stelle für die FDP-Bundestagsfraktion klipp und klar fest: Gesetzliche Mindestlöhne - egal, in welcher Form - lösen keine Probleme; sie verschärfen sie.
Das hat der jetzige Unionsfraktionsvorsitzende, Volker Kauder, am 9. April 2005 in einem Interview mit der „Welt“ noch genauso gesehen. Es ist wirklich erschreckend, festzustellen, wie sich zwischenzeitlich die CDU/CSU in dieser Frage immer mehr sozialdemokratischen Positionen annähert.
Mindestlöhne sind faktisch Arbeitsplatzvernichtungsprogramme. Sie führen - besonders im Bereich der gering Qualifizierten - zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und fördern die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Im Übrigen fördern sie auch die Schwarzarbeit.
Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dass Sie das nicht sehen wollen. Jeder Mindestlohn - ob kollektiv oder staatlich vorgeschrieben - grenzt einen unteren Produktivitätsbereich aus dem Arbeitsmarkt aus.
Schon jetzt wirken die staatlichen Transfers der sozialen Sicherung - auch das ALG II - faktisch wie ein Mindestlohn. Überproportionale Lohnerhöhungen bzw. Sockellohnanhebungen haben schon in der Vergangenheit dazu geführt, dass in vielen Bereichen gering Qualifizierte verdrängt worden sind. Unter gesetzlichen Mindestlöhnen haben in der Regel gering qualifizierte Langzeitarbeitslose zu leiden.
- Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage, Herr Brandner!
Die Forderung nach Mindestlöhnen lässt die aus meiner Sicht entscheidende Frage offen, wer zu solchen Bedingungen noch Arbeitsplätze schaffen soll. Die deutsche Volkswirtschaft leidet schon jetzt unter massiven Problemen: unter zu geringen Wachstumsraten, unter überzogener Bürokratie,
unter den hohen Steuer- und Abgabelasten und der zu hohen Regelungsdichte im Arbeits- und Tarifrecht.
Ich finde, es ist eher mehr als weniger Flexibilität notwendig.
Wir brauchen ein flexibleres Tarifrecht, damit sich die Löhne wieder an der Produktivität orientieren können. Notwendig sind auch Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse für Arbeit und ein funktionierender Niedriglohnsektor, damit sich auch die Aufnahme einer gering entlohnten Tätigkeit gegenüber der Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen lohnt.
Ich habe bereits festgestellt, dass das von der FDP vorgeschlagene Bürgergeld - also das System einer negativen Einkommensteuer - in diese richtige Richtung wirkt. Ich kann Sie nur ermuntern, Herr Brandner, sich damit zu befassen.
Abschließend stellt sich die Frage - die auch der Kollege Gysi bereits angesprochen hat -, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Wir glauben, dass der Markt diese Frage beantwortet. Ich habe Ihre Angaben, meine Damen und Herren von der Linken, nachvollzogen und bin - diese Rechenaufgabe habe ich ohne Taschenrechner gelöst - bei 985 Euro und einer Arbeitszeit von rund 160 Stunden im Monat - das ist zwar etwas mehr als eine 35-Stunden-Woche, aber so rechnet es sich besser - auf einen Stundenlohn von 6,15 Euro als gesetzlichen Mindestlohn gekommen.
- 985 Euro netto? Dann wird es ja sogar noch mehr. Ich rechne gerne noch einmal nach
und werde mich nachher vielleicht noch einmal zu Wort melden. Aber besser wird es dadurch nicht, Herr Gysi.
- Hören Sie mir zu! Ich entschuldige mich ja. Aber dadurch wird es, wie gesagt, nicht besser; denn dann werden noch mehr Arbeitsplätze und noch mehr Menschen in Beschäftigung aus dem ersten Arbeitsmarkt verdrängt. Ich frage Sie, ob Sie das ernsthaft wollen.
Es bleibt festzuhalten: Mindestlöhne lösen keine Probleme, sondern schaffen welche.
Ein weiteres Problem, das noch zu nennen wäre, ist die Bürokratie. Es bedarf letztendlich eines riesengroßen Kontrollapparates, um festzustellen, ob die Mindestlohnregelungen eingehalten werden. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, warnt daher zu Recht vor den bürokratischen Folgen einer solchen Regelung.
Wir können klipp und klar, ohne Wenn und Aber, ohne Wackeln und Herumeiern sagen: Wir sind gegen gesetzliche Mindestlöhne in Deutschland.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Andrea Nahles (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die ostdeutsche Floristin, die für 1 000 Euro brutto 41 Stunden in der Woche arbeitet, muss es wie Hohn klingen, wenn Sie, Herr Kolb, sagen, dass der Markt dieses Problem letztlich schon lösen werde. Das kann ich nur zurückweisen.
Wir werden über diese Frage noch einmal ernsthafter diskutieren müssen.
Gestern ist im Europäischen Parlament eine Entscheidung getroffen worden, über die wir uns in Deutschland sehr freuen dürfen. Gemeinsam mit den christlich-konservativen haben die sozialistisch-sozialdemokratischen Abgeordneten einerseits die Dienstleistungsfreiheit durchgesetzt und damit unnötige Hemmnisse für den freien Dienstleistungsverkehr in ganz Europa beseitigt. Andererseits ist das Herkunftslandprinzip, das einen weiteren unseligen Dumpingwettlauf um niedrige Löhne sowie geringe Umwelt- und Sozialstandards ausgelöst hätte, auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet. Dorthin gehört es auch. Darüber dürfen wir uns sehr freuen.
Nun ist das Herkunftslandprinzip zwar weg. Aber wir haben im Zielland unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht. Dass im gesamten europäischen Umland bei der Umsetzung der Entsenderichtlinie der Europäischen Union viel mehr Branchen als in Deutschland einbezogen worden sind, ist nun für uns ein Problem. Wenn in den nächsten Jahren in Deutschland die volle Freizügigkeit gilt, dann sind wir - unabhängig von der Dienstleistungsrichtlinie - ohne eine Ausweitung der Entsenderichtlinie und des Entsendegesetzes auf weitere Branchen verwundbar. Dann haben wir unsere Interessen nicht adäquat vertreten. Wir brauchen also eine Ausweitung des Entsendegesetzes hier in Deutschland.
Es ist Angela Merkel gewesen, die festgestellt hat, dass es in 19 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt und dass es daher nur schwer zu erklären ist, warum wir in Deutschland noch nicht einmal darüber sollen reden dürfen.
Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, ist, warum wir überhaupt über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns diskutieren müssen. Dass es Steuerdumping in Europa gibt, wissen wir alle. Es gibt aber auch Lohndumping. Wir müssen darüber nachdenken, wie sich das verhindern lässt. In Deutschland gibt es mittlerweile 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und Armutslöhne bekommen.
Es gibt dafür einen ganz klaren Gradmesser. Die Armutslohngrenze liegt nämlich bei 1 400 Euro brutto. Jeder fünfte ostdeutsche Arbeitnehmer arbeitet zurzeit für weniger als 1 300 Euro. Das sind Armutslöhne. Das heißt, dass das, was in den USA als Working Poor bezeichnet wird, längst Deutschland erreicht hat.
Es gibt nämlich Armut trotz Arbeit. Das können wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht hinnehmen, das können wir nicht akzeptieren. Ich hoffe, das gilt auch für die Bundesregierung.
Es geht aber nicht nur darum, dass wir Armutslöhne in Bereichen haben, in denen wir keine tarifvertraglichen Regelungen haben.
Mittlerweile sind in Ostdeutschland nur noch 54 Prozent der Unternehmen tarifvertraglich gebunden. Zieht man davon den öffentlichen Dienst ab, dann wird man feststellen, dass die Zahl der tarifvertraglich nicht gebundenen Unternehmen relativ noch höher ist.
Es reicht also nicht, Löhne tariflich abzusichern oder eine Tarifgruppe für allgemeinverbindlich zu erklären. Das wird denen, die überhaupt nicht mehr tariflich eingebunden sind, weil deren Arbeitgeber sich aus der Tarifgemeinschaft herausgestohlen haben, nichts nützen.
Deswegen müssen wir über diese tarifliche Absicherung hinausgehen und auch deshalb brauchen wir Mindestlöhne. Das steht für mich außer Frage.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Andrea Nahles (SPD):
Gerne.
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben eben beklagt, dass die verfügbaren Einkommen von vielen Menschen, insbesondere in den neuen Bundesländern, nach Ihrem Dafürhalten zu gering sind. Widerspricht das nicht dem Willen der großen Koalition, die auch von der SPD-Fraktion mitgetragen wird, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu erhöhen, weil damit den Menschen noch mehr Kaufkraft entzogen wird?
Andrea Nahles (SPD):
Herr Niebel, erstens wird diese große Koalition nicht auch, sondern ganz ausdrücklich von der SPD mitgetragen. Zweitens ist es selbstverständlich richtig, dass wir die Frage der Mehrwertsteuererhöhung, die Sie offensichtlich in jede Debatte hier im Deutschen Bundestag einfließen lassen
- das ist Ihr wichtigster Profilierungspunkt -, gerne an anderer Stelle diskutieren können. Wenn Sie aber sagen, dass Sie ausdrücklich keinen gesetzlichen Mindestlohn wollen, dann ist das eine weitaus größere Bedrohung für untere Einkommensgruppen in Deutschland
als die Mehrwertsteuererhöhung. Lassen Sie uns darüber streiten, wenn das Thema an der Reihe ist. Machen Sie jetzt bitte keine Show zu einem Thema, das heute gar nicht zur Debatte steht.
Man kann feststellen, dass das Problem der unteren Einkommensgruppen durch tariflich festgesetzte Löhne leider nicht gelöst wird. In den unteren Einkommensbereichen gibt es Tariflöhne, die 4 Euro betragen, teilweise sogar weniger. Es reicht also nicht, wie es heute von den Grünen vorgeschlagen wird, beispielsweise durch das Gesetz zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen die unteren Tarifgruppen festzuschreiben. Ich kann Sie nur auffordern, sich einmal die Tabellen mit den tariflich festgelegten Löhnen im unteren Einkommensbereich anzusehen. Da wird Ihnen einiges auffallen. Sie sind den entscheidenden Schritt nicht gegangen. Sie vermeiden ja heute eine klare Aussage zum Mindestlohn. Das trauen Sie sich offensichtlich nicht. Ihre Vorschläge reichen nicht aus, um das Niveau, das wir brauchen, zu erreichen und die Leute aus der Armut zu holen.
Ich glaube auch, dass wir uns heute von der Linkspartei nicht in eine Debatte treiben lassen sollten, in der es um 20 oder 50 Cent mehr oder weniger Mindestlohn geht.
Es geht zunächst einmal nicht um die Höhe des Mindestlohns, sondern um die Frage, ob wir eine untere Haltelinie brauchen. Ich sage Ihnen: Ja. Muss das im Verbund mit den Tarifparteien und unter Berücksichtigung der Tarifautonomie in Deutschland geschehen? Da sage ich auch: Ja.
Brauchen wir aber auch jenseits der Tarifverträge, die nicht mehr verhindern, dass die Löhne in Deutschland abrutschen, zusätzliche Regelungen? Auch dazu sage ich: Ja. Wir brauchen Mindestlöhne.
Warum schlagen Sie vor, dass das alles gesetzlich festgelegt wird? Warum soll das alles über einen Kamm geschoren werden? Sie treten hier dafür ein, dass ein bestimmter Betrag festgelegt wird. Wir hingegen wollen eine unabhängige Kommission - es gibt ein sehr gutes Vorbild in Großbritannien -, die die Tarifparteien einbezieht und die ein Mindestentgelt festlegt. Das ist ein anderer Ansatz als der, dass wir hier im Bundestag versuchen, einmal ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger gesetzlich festzulegen.
Mein Petitum hier ist: Lassen Sie uns denen, die von der Sache wirklich etwas verstehen, beispielsweise den Tarifparteien, eine Mitsprachemöglichkeit in Bezug auf das, was auf diesem Gebiet in diesem Lande geschieht, einräumen. Das ist besser, als hier von vornherein über 20 Cent mehr oder weniger zu streiten. Das ist kein hilfreicher Weg.
Wenn wir uns an dieser Stelle über Mindestlöhne streiten, dann darf dabei nicht vergessen werden, was Löhne eigentlich sind. Löhne sind eben mehr als ein Kostenfaktor oder eine Variable im Standortwettbewerb. Löhne stehen zunächst einmal für die schiere Existenz vieler Menschen. Löhne bedeuten darüber hinaus ein Stück weit die Absicherung des Lebensstandards. Löhne haben aber auch etwas mit Würde zu tun: Für gute Arbeit bekommt man auch gutes Geld. Das hat auch etwas damit zu tun, dass man überhaupt die Eintrittskarte für diese Gesellschaft erhält.
Es muss uns heute darum gehen, dafür zu sorgen, dass der eigentliche Zweck von Löhnen - Menschen erhalten den Verdienst für ihre eigene Arbeit - gesichert und befördert wird.
In den letzten Jahren haben wir Folgendes erlebt: Auf der linken Seite wurde so getan, als gäbe es irgendwo eine Quelle der Geldvermehrung und als ginge es nur noch darum, Grundeinkommen zu verteilen. Von dieser Vorstellung ist auch das Modell des Bürgergeldes nicht weit entfernt. Auf der anderen Seite wurde der Eindruck erweckt, das Manko in Deutschland sei der Niedriglohnbereich und man müsse dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen in diesem Bereich tätig sind. Wir sind ein Hochlohnland und wir wollen es bleiben. Deswegen müssen wir in diesem Land in Bildung, Innovation und Wachstum investieren.
Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der untere Rand unseres Hochlohnlandes entkoppelt wird, sodass ganze gesellschaftliche Gruppen aus der Armutsfalle - sie existiert, auch wenn wir sie nicht bewusst herbeigeführt haben - nicht mehr herauskommen. Wir wollen Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Niedriglohnbereich organisieren. Deswegen wollen wir mehr Geld in Prävention und Aktivierung investieren. Das bringt mehr, als immer nur Transferleistungen zu erbringen. Die gesamte Arbeitsmarktpolitik, die wir in den letzten Jahren vertreten haben, folgt dieser Logik.
Demzufolge ist eine Hochlohnlandstrategie ohne eine Definition von Mindestabsicherung, von würdigem Entgelt für Arbeit in diesem Land nicht möglich. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass die Mindestabsicherung auf dem Niveau von ALG II liegt. Uns muss doch klar sein, dass Arbeit anders als Transferleistungen die Schaffung von Mehrwert bedeutet. Die Höhe eines Mindestlohns sollte sich deshalb ganz schlicht daran orientieren, dass diejenigen, die Vollzeit arbeiten, mehr verdienen als diejenigen, die Sozialgeld, zum Beispiel ALG II, beziehen.
Hier wird immer wieder behauptet - das fand ich sehr interessant, Herr Kolb -, der Mindestlohn würde schaden.
Das kann ich nicht feststellen.
Wir haben diese Debatte in Großbritannien und in den USA gehabt. In unserer Arbeitsgruppe Wirtschaft war vor einigen Tagen Herr Zimmermann vom DIW. Obwohl er ein Gegner des Mindestlohns ist, hat er, möglicherweise zähneknirschend,
sagen müssen: Die Einführung von Mindestlöhnen hat auf die Beschäftigung weder einen positiven noch einen negativen Einfluss. - In Großbritannien, wo man 1999 einen Mindestlohn eingeführt hat - da wurde für die Wirtschaft sozusagen der Untergang des Abendlandes beschworen -, hat es nicht nur keinen negativen, sondern sogar einen positiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt gegeben.
Das heißt, es geht bei der Frage Mindestlohn nicht um eine Schwächung des Arbeitsmarkts,
sondern um die Stärkung von Arbeit gegenüber Transfer. Es geht um Würde und es geht darum, dass wir Armutslöhne und Sozialdumping in diesem Land verhindern. Deswegen brauchen wir das.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erhält nun das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Nahles und Herr Brauksiepe als Vertreter der großen Koalition haben hier den Vorteil, dass sie wahrlich komfortabel mit Redezeit ausgestattet sind.
Sie haben aber wieder unter Beweis gestellt: „Viel hilft viel“ trifft nicht immer zu. Sie haben hier viel geredet, aber nicht gesagt, was sie wollen.
Frau Nahles, das trifft auch auf Sie zu, und ich finde es schon ein bisschen absurd, dass Sie uns vorwerfen, wir hätten keine klare Linie. Wir haben einen Antrag vorgelegt, der sehr klar und sehr differenziert darstellt, wofür sich die Grünen in dieser Frage einsetzen.
Wir setzen uns dafür ein, weil wir sehen, dass Sozial- und Lohndumping inzwischen tatsächlich die Substanz unserer Wirtschaftsordnung zu zerstören droht. Herr Kolb, da hilft auch kein Mantra: „Die soziale Marktwirtschaft wird es schon richten“. Da hilft auch kein intensives Wünschen. Da müssen Sie schon handeln, wenn Sie verhindern wollen, dass immer mehr Beschäftigte unterhalb der Bedingungen des Mindeststandards arbeiten.
Es trifft inzwischen nicht nur den nicht organisierten Bereich im Niedriglohnsektor. Es trifft inzwischen auch den tariflich organisierten Niedriglohnbereich.
Wir sehen, dass die Einkommen insgesamt immer stärker unter Druck geraten. Natürlich müssen wir auf das reagieren, was durch die Erweiterung der Europäischen Union und durch die angekündigte Dienstleistungsrichtlinie auf uns zukommt, wenn wir verhindern wollen, dass die Lohnspirale immer weiter nach unten geht.
Ich frage Sie, Herr Kolb, und Ihre Kollegen von der FDP-Fraktion: Was ist eigentlich Ihre Antwort auf eine Situation zum Beispiel im Bereich der Gebäudereiniger, in dem es inzwischen Löhne von 3 Euro bis 4 Euro die Stunde gibt? Das zeigt doch das Ausmaß dieser wirklich irrwitzigen Entwicklung. Da können Sie nicht einfach sagen: Die Marktwirtschaft wird es schon richten.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir von den Grünen wollen unbedingt ein offenes und auch freizügiges Europa, weil wir im Gegensatz zu vielen von Ihnen darin eine richtig große Chance auch für unsere Unternehmen und für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen; denn denen wird es erleichtert, ihre hoch qualifizierten Dienstleistungen unbürokratisch im europäischen Ausland zu erbringen. Das schafft Arbeitsplätze auch in Deutschland.
Was wir aber nicht wollen, ist: Hungerlöhne und miserable Arbeitsbedingungen, die das Ergebnis von Unterbietungskonkurrenz und von Schmutzkonkurrenz sind. Dagegen müssen wir ganz deutlich Stellung beziehen.
Ich will Sie noch einmal an den Fleischskandal des letzten Sommers erinnern. Allein in Nordrhein-Westfalen sind durch die Kontrollaktion der dortigen Landesregierung 50 Verdachtsfälle von illegaler Beschäftigung zur Anzeige gekommen.
- Wir müssen aber schauen, wie wir auch darauf reagieren.
Statt zwischen acht und zehn Stunden - das wären die normalen Arbeitszeiten - ist da zum Beispiel 19,5 Stunden gearbeitet worden.
Die Unterbringung hatte mit Menschenwürde wirklich nichts mehr zu tun. Arbeiter sind zum Teil im Schweinestall untergebracht worden. Das ist soziale Realität!
- Ja, genau, darauf komme ich jetzt. - Wir meinen, dass die Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes keinen Beitrag dazu leistet, solche Situationen zu verhindern, sondern im Gegenteil immer noch so wie in der Vergangenheit dazu führen kann, dass solches Handeln eher gefördert wird, weil die Menschen in die Illegalität getrieben werden.
Wir sind also der Auffassung, dass es falsch ist, die Arbeitnehmerfreizügigkeit noch einmal, wie es die Bundesregierung plant, für weitere drei Jahre einzuschränken. Das ist der falsche Weg. Wir setzen auf eine umfassende Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen, die für in- und ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen gelten müssen.
Folgendes möchte ich an die Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei sagen:
Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns begibt man sich auf einen sehr schmalen Grat zwischen Schutz und Verderben gerade für diejenigen, für die wir uns in besonderer Weise einsetzen wollen, nämlich für die Geringqualifizierten. Mindestlöhne können nämlich tatsächlich zum Einstellungshindernis werden, wenn sie, gemessen an der Produktivität der Arbeitskräfte, zu hoch festgesetzt werden. Wenn sie hingegen zu niedrig festgesetzt werden, können sie gleichsam eine staatliche Legitimation für einen Niedriglohnbereich schaffen. Wir brauchen also eine sehr fein taxierte Regelung, die auf der einen Seite Lohndumping verhindert, auf der anderen Seite aber nicht zur Ausgrenzung derjenigen führt, um die es uns in besonderer Weise geht. In dieser Frage haben Sie sich - das muss ich ganz ehrlich sagen - im letzten Jahr nun nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Ursprünglich hatten Sie nämlich in Ihrem letztjährigen Wahlprogramm 1 400 Euro Mindestlohn gefordert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden aus den 1 400 Euro ganz schnell 1 000 Euro.
Ich frage mich, wie lang die Halbwertzeit Ihrer heutigen Forderung nach 8 Euro Stundenlohn ist.
Mit dieser 8-Euro-Forderung laufen Sie Gefahr, dass ganze Branchen plattgemacht werden.
Die Arbeitsbereiche von Wachpersonal, Verkäuferinnen, Floristinnen - dieser Bereich wurde ja schon angesprochen -, aber auch Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft könnten so verloren gehen.
Damit ist niemandem geholfen.
Wir wollen regional- und branchenspezifisch differenzierte Lösungen. Wir schlagen Ihnen deswegen folgenden Dreischritt vor:
Erstens wollen wir die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen ermöglichen.
Zweitens wollen wir eine Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung im Tarifvertragsgesetz, um Mindestlöhne unterschiedlich gestalten zu können.
Drittens wollen wir eine Reform des Mindestarbeitsbedingungengesetzes von 1952.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir mit diesem Dreischritt tatsächlich die Gratwanderung zwischen Lohndumping auf der einen Seite und Ausgrenzung von Geringqualifizierten und Berufseinsteigerinnen und -einsteigern auf der anderen Seite hinbekommen.
In Deutschland hat die Debatte um den Mindestlohn ja leider eine lange und nicht immer rühmliche Geschichte. Einer der Protagonisten war immer der Ex-Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Michael Rogowski. Er hat gesagt, wir brauchen auf gar keinen Fall einen Mindestlohn, im Gegenteil, die tariflichen Untergrenzen müssen weiter durchbrochen werden. Ich hoffe zutiefst, dass diese Position eine Position aus einer anderen Zeit ist. Diese Hoffnung speist sich aus meinem Eindruck, dass sich etwas bewegt, sogar bei der CDU/CSU, auch wenn die Formulierungen in der Rede von Herrn Brauksiepe noch sehr vorsichtig waren.
Kanzlerin Merkel jedenfalls hat da schon einmal Position bezogen. Bei Herrn Glos sieht das noch anders aus, wenn ich das richtig gelesen habe.
Insgesamt hat sich die große Koalition bis jetzt diesem Thema verweigert. Nun kommt der Arbeitsminister in die Strümpfe. Fehlt nur noch, dass die Regierung jetzt tatsächlich in die Siebenmeilenstiefel steigt. Unser Vorschlag zur Einführung von branchen- und regionalspezifischen Mindestlöhnen könnte dafür vielleicht ein ganz geeigneter Schuhanzieher sein.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi das Wort.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Frau Pothmer, ich wollte eine Sache klarstellen. Man muss politische Entwicklungen in anderen Parteien richtig verfolgen, wenn man sich dazu äußern will. Es gab bei uns immer den Unterschied zwischen 1 400 Euro brutto und 1 000 Euro netto Mindestlohn.
- Darf ich zu Ende sprechen? Ich sage gleich noch etwas zu dem Unterschied, den auch die FDP offensichtlich nicht mehr begreift. Früher kannten Sie den.
Der Parteitag hat ganz klar beschlossen, dass es bei 1 400 Euro brutto bleibt. Wir hatten einen Nettobetrag vorgeschlagen; aber er hat ganz klar so entschieden. Insofern gab es da keine Änderung.
Nun sage ich Ihnen, dass unser Antrag damit in Übereinstimmung steht. 985 Euro beträgt der pfändungsfreie Nettobetrag, der einer Bürgerin oder einem Bürger bleiben muss. 985 Euro netto entsprechen etwa 1 440 Euro brutto. Das ist die Situation in Deutschland. Die 8 Euro pro Stunde, die wir fordern, sind brutto. Netto sind das weniger. Mit diesen 8 Euro brutto kommen Sie in etwa auf das Bruttogehalt von 1 440 Euro und damit netto auf die 985 Euro, die in Deutschland pfändungsfrei sind.
Ich will das einfach einmal sagen, weil das ein Maßstab ist.
Jetzt wollen Sie das nach Branchen unterscheiden. Die Lebenskosten in Deutschland sind aber gleich, unabhängig davon, ob ich in der einen Branche oder in der anderen Branche arbeite.
Es kann Branchen geben, die so produktiv sind, dass es dort gar keine Mindestlöhne gibt, sondern höher bezahlt wird. Aber der Mindestlohn in Deutschland ist die Mindestanforderung, die wir an Arbeitgeber stellen.
Ich nenne einmal ein Beispiel. Die Union plädiert für Kombilöhne. Wir sind nicht dafür. Aber wie wollen Sie denn Kombilöhne einführen, wenn es keinen Mindestlohn gibt? Sie müssen doch einen Betrag ansetzen, bis zu dem Sie aufstocken wollen. Da brauchen Sie einen Mindestlohn; darum kommen Sie an dieser Stelle nicht herum.
Das Zweite, was uns in dem Zusammenhang wichtig ist: Das, was zur Schwarzarbeit gesagt worden ist, ist wirklich kein Argument. Sie können doch nicht im Ernst sagen, die Entnahme von Waren im Warenhaus müsse geduldet werden, damit es weniger Diebstähle gibt. Verstehen Sie? Schwarzarbeit ist eine Straftat. Wenn es Mindestlöhne gibt, besteht zum ersten Mal ein klarer Schadenersatzanspruch,
der sich auf die Differenz zwischen dem, was bezahlt wurde, und dem Mindestlohn bezieht.
Dann noch ein Satz zu den Unternehmen. Natürlich wissen auch wir, dass es kleinere Unternehmen gibt, die heute nicht in der Lage sind, Mindestlöhne zu bezahlen. Deshalb steht in unserem Antrag, dass es für diese Unternehmen Übergangsregelungen geben muss.
Aber eines sage ich Ihnen auch: Wenn alle Bäcker, auch der polnische und der tschechische, die in Deutschland arbeiten, den Mindestlohn zahlen müssen, dann haben wir wieder Wettbewerbsgleichheit; dann fällt das keinem Bäckermeister schwer.
Das ist Marktwirtschaft; das müsste selbst die FDP begreifen.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Pothmer, möchten Sie erwidern?`
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein. Das war ja weniger an mich gerichtet als vielmehr an die CDU/CSU-Fraktion.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wir sind ja jedem dankbar, der sich im Sinne der Bewirtschaftung der Redezeit nicht angesprochen fühlt und damit keinen zusätzlichen Redeanspruch reklamiert.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Linkspartei hat am 18. Januar 2006 den hier vorliegenden Antrag auf Einführung eines Mindestlohns gestellt. Hierbei fällt auf, dass ein Vertreter der Linkspartei, Herr Lafontaine, noch gestern vor diesem Hohen Haus gefordert hat, das Steuerniveau müsse deutlich angehoben werden, da die Unternehmensteuern in Deutschland im internationalen Vergleich viel zu gering seien.
- Ja, ich habe aufgepasst.
Mit der nunmehr erhobenen Forderung nach Einführung eines Mindestlohns ohne Berücksichtigung und außerhalb des Kontextes von so genannten Kombilohnmodellen zeigt die Linkspartei abermals unverhohlen ihr Verständnis von Marktwirtschaft.
Im Antrag führen Sie noch wortwörtlich aus:
Die Autonomie der Tarifparteien bei der Lohnfindung ist ein hohes gesellschaftliches Gut in Deutschland. Die Tarifautonomie ist auch in Zukunft zu schützen.
Etwas weiter fordert die Linkspartei die Bundesregierung auf,
schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten, einen rechtlichen Anspruch auf einen Lohn von mindestens 8 Euro/Stunde (brutto) haben.
Der Versuch der Reglementierung von Angebot und Nachfrage, der Versuch der Reglementierung von Lohnhöhen, aber auch von Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen hat bei der Vorvorgängerin der Linkspartei, der SED, über 40 Jahre nicht funktioniert.
Mit völlig untauglichen Rezepten versucht die Linkspartei nun in offensichtlich populistischer Weise - möglicherweise gar gegen besseres Wissen -, durch Einführung eines Mindestlohnniveaus zum jetzigen Zeitpunkt abermals eine Vielzahl von gering qualifizierten Arbeitsplätzen zu beseitigen bzw. ins Ausland zu verlagern.
Vom Grunde her wird sich unsere Partei einer Diskussion über Sinn und Höhe möglicher Mindestlohnregelungen nicht entziehen. Zunächst wäre hier aber auch mit unserem Koalitionspartner, mit unseren neuen Freunden von der SPD, zu definieren, ob der Mindestlohn die Löhne am unteren Rand der Tariflöhne festschreiben soll, um beispielsweise osteuropäische Billiganbieter abzuwehren und den Niedriglohnsektor einzugrenzen, oder ob der Mindestlohn eine deutlich niedrigere Untergrenze darstellen soll, mit der verhindert werden soll, dass Arbeitgeber den von unserer Fraktion angepeilten Kombilohn nur dazu nutzen, um die Löhne allzu stark zu drücken.
Je nach Definition eines so genannten Mindestlohns liegt hier eine enorme Bandbreite zwischen 3,50 und 7,50 Euro vor, sodass auf dem von der Linkspartei beantragten Niveau von 8 Euro zum jetzigen Zeitpunkt eine Mindestlohnfestsetzung beim besten Willen nicht erfolgen kann.
In den Tagesordnungen von Bundestag und Europäischem Parlament gibt es dieser Tage interessante Berührungspunkte. Die Vorredner sind zum Teil bereits darauf eingegangen. Gestern debattierte das Europaparlament über die Dienstleistungsrichtlinie; es hat diese mit großer Mehrheit verabschiedet. Heute reden wir hier über den gesetzlichen Mindestlohn.
Die Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie kreiste bei uns in der Vergangenheit vielfach nicht nur um Lohndumping und Billiganbieter aus Osteuropa, sie hat auch die Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn stark beeinflusst. Schon 2001, also im Vorfeld der EU-Osterweiterung, hat die Union vor uneingeschränkter Dienstleistungsfreiheit gewarnt. Wir sind auch heute der Ansicht, dass gegen unzumutbare Billiglöhne konsequent vorgegangen werden muss. Dabei ist die Autonomie der Tarifparteien auch in Zukunft zu gewährleisten. Wie das mit einem flächendeckenden Mindestlohn von 8 Euro gehen soll, den Linkspartei und in ähnlicher Höhe auch einzelne Gewerkschaften fordern, ist mir schlicht schleierhaft.
Probleme gibt es ja schon im Niedriglohnsektor insgesamt - dazu gehören Jahreseinkommen unter 20 000 Euro - wie auch in den Branchen, in denen ein tariflicher Mindestlohn eingeführt wurde. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfache Arbeiten so weit angehoben worden, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer wurden.
In der niedersächsischen Chemieindustrie werden in der untersten Tarifgruppe 11,10 Euro gezahlt, in der Metall- und Elektroindustrie von Baden-Württemberg beträgt der niedrigste Stundenlohn 10,42 Euro. Im Baugewerbe - bestes Beispiel für tarifliche Mindestlöhne - kommt im Zeitraum vom 1. September 2005 bis 31. August 2006 ein ungelernter Arbeiter im Westen auf einen tariflichen Mindestlohn von 10,20 Euro und im Osten auf einen tariflichen Mindestlohn von 8,80 Euro.
Für Maler und Lackierer liegt der Mindestlohn bei 7,15 Euro im Osten bzw. bei 7,85 Euro im Westen. Bei Dachdeckern sind es seit dem 1. Januar 2006 10 Euro.
Oft bleiben die niedrigsten Tarifgruppen jedoch unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren in diesen Branchen Arbeitsplätze zu Hunderttausenden gestrichen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung neuer Stellen ganz zu schweigen.
- Warten Sie noch ein wenig, Herr Niebel. Ich sage Ihnen gleich das Ergebnis.
Dasselbe würde - natürlich in größerem Umfang - für einen gesetzlichen Mindestlohn auf hohem Niveau gelten. Er würde zwar ausländische Billigarbeitskräfte fern halten, aber auch Beschäftigungschancen für niedrig Qualifizierte verringern. Wenn ein Mindestlohn höher ist, als der Arbeitsmarkt eigentlich hergibt, dann sperrt er gerade diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus.
- Sie dürfen ruhig lauter klatschen, Herr Niebel.
Soll ein Unternehmer zwischen den Alternativen wählen, einen gering Qualifizierten bei hohem Mindestlohn einzustellen oder die Produktion in Länder mit niedrigerem Lohnniveau zu verlagern, braucht man nicht viel Fantasie zu haben, um sich vorzustellen, wofür er sich letztendlich entscheidet. Diese Möglichkeit besteht für Global Player ungleich stärker als für einen kleinen mittelständischen Handwerksbetrieb. Kleine und mittelständische Unternehmen, die 75 Prozent der Arbeits- und Ausbildungsplätze in unserem Land stellen, werden diesbezüglich entsprechend benachteiligt. Das kann aber eigentlich nicht im Interesse der Tarifvertragsparteien sein. Es kann nicht darum gehen, das untere Lohnniveau über einen gesetzlichen Mindestlohn anzuheben und so als - unerwünschten - Nebeneffekt weite Teile unseres Arbeitsmarktes von unten stillzulegen.
Darüber hinaus hat der Mindestlohn, per Gesetz festgelegt, das Potenzial, die Tarifautonomie auszuhebeln. Der Staat kann aber nicht Ersatz für die Tarifparteien sein. Zudem würden bei Tarifverhandlungen die Gewichte verschoben: Ein gesetzlich garantierter Mindestlohn birgt die Gefahr, dass dieser über gewerkschaftlichen Druck weiter angehoben wird. Für jede Regierung wird es dann sehr schwer, diesen Mindestlohn im Sinne einer dem Markt überlassenen Lohnfindung wieder zu senken. Letztlich würden so die gesamten Arbeitsmarktreformen konterkariert. Der über das Arbeitslosengeld II gesunkene Anspruchslohn, mit dem gering Qualifizierte integriert werden sollen, würde durch die Hintertür wieder angehoben.
Wie soll es nun weitergehen? Unsere Fraktion beschränkt sich nicht auf ein bloßes Nein zum vorliegenden Antrag der Linkspartei. Wir wollen, da die Forderung nach einem Mindestlohnstandard ohne Einbeziehung der Kombilohndiskussion grundsätzlich keinen Sinn macht, im Rahmen der Einführung eines Kombilohnmodells ohne Aufgeregtheit prüfen, ob und, wenn ja, in welcher Höhe ein Mindestlohn in unser bestehendes System eingeführt werden kann.
In jedem Fall soll vermieden werden, dass Ähnliches, wie heute Morgen bei der vorherigen Abstimmung in diesem Hohen Haus geschehen - als durch die Einschränkung der Bildung von Bedarfsgemeinschaften durch unter 25-jährige Hartz-IV-Empfänger bestehende gesetzliche Möglichkeiten zurückgefahren werden mussten -, bereits nach kurzer Zeit bei der Einführung eines Mindestlohnmodells droht. Die finanziellen Auswirkungen, die tariflichen Einschränkungen wie auch die Auswirkungen auf das kollektive Arbeitsrecht sind mit den jeweils betroffenen Gruppierungen zu erörtern, bevor eine sinnvolle Diskussion über die Einführung eines Mindestlohnsektors zielstrebig geführt werden kann.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich auf das zutreffende Sprichwort verweisen: Was immer du beginnst, bedenke das Ende.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Lehrieder, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Hause werden drei Positionen zu dem heute zur Diskussion stehenden Thema vertreten. Ich will vor dem Hintergrund unseres Antrages auf diese drei Positionen eingehen.
Da ist zunächst die Position der Freien Demokratischen Partei,
die klipp und klar gegen Mindestlöhne ist, allerdings nur für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die geringe Löhne erhalten. Denn Sie sind sehr wohl - Kollege Gysi hat bereits darauf hingewiesen - für staatlich festgelegte Löhne und staatlich festgesetzte Preise, wenn es um Anwälte, Architekten, Ärzte usw. geht.
Mit der Forderung nach einem Honorar von 50 Euro pro Stunde für diesen Bereich sind Sie für gesetzliche Löhne. Aber wenn es um geringe Löhne geht, versagt auf einmal Ihr Denkvermögen. Darin sehen Sie auf einmal eine große Gefährdung für den Arbeitsplatz.
Insofern nehmen wir zur Kenntnis, dass Sie eine dezidierte Position haben, die im Hinblick auf eine bestimmte Klientel zwar akzeptabel, letztendlich aber unglaubwürdig ist. Denn Sie können wirklich niemandem erklären, wieso Sie bei Berufsgruppen, die viel verdienen, für Mindestlöhne sind, aber bei Berufsgruppen, die wenig verdienen, keine Mindestlöhne vorsehen wollen. Das ist niemandem in Deutschland zu erklären.
Die große Koalition hat sich noch nicht verständigt. Es geht uns nicht darum - wie einige gemutmaßt haben -, der großen Koalition irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten, indem wir dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Wir glauben, dass wir in Deutschland im Moment die Situation haben, dass die Bruttolöhne sinken; ich sage das immer wieder. Das heißt, Lohndumping wird ohne Einschränkung fortgesetzt. Menschen werden arbeitslos, weil sie durch andere ersetzt werden, die bereit sind, für viel geringere Löhne zu arbeiten. Diesen Prozess wollen wir stoppen. Wir haben nicht mehr die Zeit, noch lange zu quatschen. Wir müssen entscheiden. Deshalb haben wir diesen Antrag auf die Tagesordnung gesetzt.
Nun möchte ich etwas zu der Argumentation des Kollegen Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion sagen. Es ist schön, dass Sie, wie ich Sie hier erlebt habe, so für Tarifverträge eintreten. Es ist gut, dass Sie diese Position einnehmen und auch in Zukunft für Tarifverträge eintreten. Nur, beim Mindestlohn geht es überhaupt nicht um diese Position. Sie leben außerhalb der Realität. Es gibt ganze Bereiche in Deutschland, wo die Tarifverträge überhaupt nicht mehr greifen und die Menschen gar keinen tarifvertraglichen Schutz mehr haben. Deshalb brauchen wir Mindestlöhne.
Reden Sie doch nicht völlig an der Wirklichkeit vorbei! Es ist unglaublich, was man sich hier teilweise anhören muss.
Wir sind gespannt, was aus dem Gesäusel wird, das von der Kanzlerin vorgetragen worden ist: Wir brauchen Mindestlöhne; ich nähere mich diesem Projekt. - Irgendwann muss man sich entscheiden. Die betroffenen Menschen können nicht mehr warten. Sie sind bereits seit Jahren arbeitslos. Deshalb kann man dieses Thema nicht in der Form ansprechen, wie Sie es getan haben.
Natürlich, Frau Kollegin Pothmer, gibt es Argumente für die Position der Grünen. Sie krankt aber daran, dass differenzierte Mindestlohnregelungen letztendlich zu einem Lohn von 3,40 oder 3,90 Euro führen würden. Wir lehnen dies schlicht ab. 3,40 oder 3,90 Euro stellen in Deutschland keine Grundlage dafür dar, anständig leben zu können. Hier unterscheiden wir uns von der Position der Grünen.
Was die Argumentation des Vorredners angeht, 8 Euro seien nun wirklich nicht vertretbar, so frage ich mich, ob Sie nicht in der Lage sind, einmal über die Grenze zu schauen. In Frankreich liegt der Mindestlohn bei 8,13 Euro. Wieso stellen Sie sich also hierher und tun so, als sei dies nicht machbar, als sei eine Massenabwanderung von Arbeitsplätzen die Folge? Sie betreiben eine Irreführung der Öffentlichkeit. Was andere europäische Länder können, können wir auch in Deutschland. Deshalb sind wir für den Mindestlohn.
Eine letzte Bemerkung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, würden Sie - -
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Ja, ich weiß, Herr Präsident. - Die Bolkestein-Richtlinie stellt für uns eine Herausforderung dar - - Ach, es geht um eine Frage. Entschuldigung!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie hätten beinahe leichtsinnig die Möglichkeit der Verlängerung Ihrer Redezeit ausgeschlagen und wir alle hätten sagen können: Wir sind dabei gewesen.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Vielen Dank für den Tipp, Herr Präsident. Ich sehe, Sie sind fürsorglich.
Bitte schön, Herr Kollege.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mir geht es eigentlich nicht um die Verlängerung Ihrer Redezeit. Aber das muss ich wohl in Kauf nehmen.
Sie reden ja so gerne über Tarifverträge. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das Land Berlin, in dem die PDS bzw. Linkspartei mitregiert, Tarifflucht betrieben hat, und stimmen Sie mir zu, dass hier auch öffentliche Aufgaben durch 1-Euro-Jobs erfüllt werden?
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Kollege, ich habe schon viele Wahlkämpfe geführt. Es ist rührend, dass Sie jetzt versuchen, Wahlkampf zu führen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass der Tarifvertrag im Land Berlin, unter den der Kollege Bsirske seine Unterschrift gesetzt hat, differenziert ausgestaltet ist und sogar dafür gesorgt hat, dass Solidarität innerhalb des öffentlichen Dienstes verwirklicht werden konnte.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, statt kleinkarierte Fragen zu stellen, die einfach falsch sind.
Ich komme zum Schluss: Die Bolkestein-Richtlinie, die sich zurzeit im Parlament in der Diskussion befindet - sie ist ja noch nicht verabschiedet worden -, wurde mittlerweile stark verwässert. Ich will mich gar nicht in die Diskussion darüber einmischen - so viel Zeit steht mir auch gar nicht mehr zur Verfügung -, wer sich wo durchgesetzt hat. Nachdem nun aber die Bereiche Sozialgesetzgebung und Verbraucherschutz herausgenommen worden sind, muss man schon genau hinsehen, was hier eigentlich passiert.
Die Richtlinie stellt aber auf jeden Fall einen Grund dar, in Deutschland endlich einen Mindestlohn einzuführen. Sie wird nämlich nicht nur auf die Löhne Druck ausüben, die sich unterhalb der Schwelle bewegen - das ist in Gesamteuropa mittlerweile akzeptiert -, sondern auch auf die Löhne, die sich über den Mindestlöhnen bewegen. Das wird bei dieser Diskussion immer ausgeklammert. Deutschland befindet sich mittlerweile in einer Lohnabwärtsspirale. Es ist höchste Zeit, diese Spirale zu stoppen, wenn man überhaupt noch ein Herz für diejenigen hat, die den Euro mehrmals umdrehen müssen, weil sie nicht wissen, wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt bezahlen sollen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kolb das Wort.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Schönen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Lafontaine, damit es sich nicht versehentlich in Ihren Köpfen festsetzt, will ich auf Folgendes hinweisen: Bei der Gebühren- und Honorarordnung - das ist ein Thema, über das man sicherlich trefflich streiten kann - handelt es sich, wie Sie zu Recht gesagt haben, um eine Preisregelung. Wir reden hier über den Umsatz beispielsweise einer Rechtsanwaltspraxis oder eines Architekturbüros.
Ich weiß, dass die Linken ein Problem damit haben, zwischen Umsatz und Gewinn zu unterscheiden.
Deshalb will ich noch einmal darauf eingehen. Von dem, was ein Rechtsanwalt erlöst, muss er noch die Miete für die Kanzlei und die Löhne und Gehälter der Rechtsanwalts- und Notargehilfin zahlen. Der Kollege Gysi kennt das. Was am Schluss verbleibt - das hängt von vielen Faktoren ab, auch davon, wie viele Fälle ein Rechtsanwalt hat -, stellt die Vergütung des Anwalts dar.
Dass das ein gewisser Unterschied ist, sollte man zur Kenntnis nehmen.
Einmal nachrichtlich zu den Honorar- und Gebührenordnungen: Die für Architekten sind seit Jahren nicht mehr angepasst worden, die für Anwälte vielleicht, weil die eine relativ gute Lobby im Deutschen Bundestag haben, Herr Kollege Gysi. Bei den Architekten ist das schwieriger. So üppig sind die Honorare jedenfalls nicht.
Ich will noch etwas anderes ausdrücklich festhalten: Ich habe Ihre Anregung aufgenommen, erneut nachgerechnet - das war eigentlich nicht erforderlich, weil Sie es hier gesagt haben - und festgestellt: Die Linke will einen Mindestlohn von 8 Euro. Sie verweisen auf Frankreich. Das Problem ist nur, dass die Franzosen in der Regel einen Mindestlohn festlegen, diesen ins Schaufenster legen, ihn dann jedoch mit sehr vielen Ausnahmen aushöhlen, sodass er in der Praxis nicht greift. Wenn wir in Deutschland flächendeckend einen Mindestlohn von 8 Euro hätten, würde das einen Kahlschlag in vielen Bereichen hervorrufen. Es würden wahrscheinlich Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Bereichen entfallen, in denen die Löhne heute deutlich unter diesem Mindestlohn liegen. Deswegen kann man Ihrem Vorschlag nicht mit gutem Gewissen und Verstand folgen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung, Herr Kollege Lafontaine.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Ich verstehe, dass die FDP Schwierigkeiten hat, wenn man sie mit ihrer Widersprüchlichkeit konfrontiert.
Ich gehe zunächst einmal auf Ihren Beitrag ein, in dem Sie so tun, als ginge es nur um eine Preisfestsetzung. Das ist sachlich falsch.
Selbst wenn man für staatlich festgesetzte Preise ist, verehrter Herr Kollege, ist das für die FDP kein Ruhmesblatt, weil Sie ja in jedweder staatlicher Festlegung von Preisen ein Teufelswerkzeug sehen. Wieso haben Sie im Bereich der Selbstständigkeit keine Probleme mit staatlich festgesetzten Preisen?
Im Übrigen ist Ihr Hinweis schlicht und ergreifend sachlich falsch. Wir haben Gebühren und Honorare. Die Gebühren spiegeln - wenn man so will - die Preissteuerung wider. Honorare sind die Stundensätze. Bei Selbstständigen mit höheren Einkommen - da kommen Sie nicht raus - sind Sie für staatlich festgesetzte ordentliche Mindestlöhne, während Sie sie den Geringverdienern verwehren wollen. Das macht Ihre Unglaubwürdigkeit aus.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun haben sich außer dem Präsidenten auch noch viele Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege Lafontaine, an der Vermehrung Ihrer Redezeit wirklich tatkräftig beteiligt,
was ich wegen gelegentlicher Beschwerden noch einmal ausdrücklich festhalten möchte. Ich weise im Übrigen aber schon jetzt darauf hin, dass ich weitere Kurzinterventionen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht mehr zulassen möchte, weil wir zu Beginn eine Vereinbarung über die Gesamtdebattenzeit getroffen haben.
Nun erhält als nächste Rednerin die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
Katja Mast (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat starten:
Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, bundeseinheitliche tarifliche Mindestlöhne in allen Branchen zu vereinbaren.
Soweit dies nicht erfolgt oder nicht erfolgen kann, werden wir Maßnahmen für einen gesetzlichen Mindestlohn ergreifen.
Ich zitiere das SPD-Wahlkampfmanifest aus dem Bundestagswahlkampf des letzten Jahres.
Es macht deutlich, dass die SPD in Gänze hinter dem Ziel steht: Wer arbeitet, muss auch davon leben können.
Unser Parteivorsitzender, Matthias Platzeck, hat völlig Recht, wenn er fordert, existenzsichernde Löhne in Deutschland zu garantieren.
Heute diskutieren wir im Bundestag über existenzsichernde Löhne. In jedem Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern wird die Sorge deutlich: Ein Arbeitstag rund um die Uhr, ohne den eigenen Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können! Es gibt viele Beispiele, die eines deutlich zeigen: Unser Handeln als Volksvertreter ist dringend notwendig. Insgesamt gibt es in Deutschland zurzeit 3 Millionen Menschen, die Vollzeit arbeiten und dennoch unter der Armutsgrenze leben. Ich weiß nicht, ob Sie sich alle vorstellen können, was das heißt, aber ich denke, die meisten hier im Haus wissen das.
Es gibt Menschen in Deutschland, die bei einer Vierzigstundenwoche weniger als 600 Euro brutto verdienen, zum Beispiel ein Angestellter im Gartenbau in Sachsen mit einem Stundenlohn - wenn ich Sie jetzt schätzen ließe, würden Sie nie auf diesen Stundenlohn kommen -
von 2,74 Euro. Das sind 438 Euro brutto im Monat. Ein Friseur in Thüringen bekommt 3,18 Euro pro Stunde.
Nur zum Vergleich: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger bekommt inklusive Zuschuss zu Miete und Heizkosten maximal 665 Euro.
Durch die Freizügigkeit in Europa hat sich unser Arbeitsmarkt verändert. Jeder Europäer kann vom Grundsatz her überall in der Europäischen Union arbeiten. Aber in den einzelnen europäischen Staaten sind die Lohnunterschiede enorm. Für uns in Deutschland stellt sich nun die Frage: Wollen wir uns an das Lohnniveau in Polen, Rumänien oder Portugal anpassen? In Rumänien beispielsweise sind Monatslöhne von 150 Euro keine Seltenheit. Wir von der SPD wollen uns daran nicht anpassen.
Denn sonst wäre die Sorge der Menschen berechtigt. Sowohl unser Wohlstand als auch unser Sozialstaat basieren auf dem Prinzip: Wer arbeitet, muss davon seine Existenz sichern können.
Nun ist natürlich die Frage spannend, wie hoch ein existenzsichernder Lohn sein soll. Unsere Kolleginnen und Kollegen von der PDS haben sich festgelegt: Mindestens 8 Euro per Gesetz lautet ihre Forderung. Aber so einfach ist die Welt nicht.
Selbst der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und Verdi-Chef Frank Bsirske legen sich auf einen Betrag darunter fest, nämlich 7,50 Euro. Aber ich frage mich: Sollen wir nun einen Wettlauf starten, in dem jeder eine andere Zahl nennt und die höchste ist die beste Zahl?
Mein persönliches Verständnis von Politik sagt mir: Das ist falsch. Es geht um differenzierte Lösungen, die die Tarifautonomie berücksichtigen.
Hilfreich finde ich auch einen Blick über die Grenzen. 18 von 25 EU-Mitgliedstaaten haben einen Mindestlohn, davon sind 16 gesetzlich festgelegt. In Großbritannien, zum Beispiel, liegt der Mindestlohn unter 7,50 Euro. Mindestlohn - dies ist vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP sehr wichtig - ist schon längst ein international akzeptiertes Instrument als Antwort auf die Globalisierung.
Wie soll nun die Höhe des Mindestlohns in Deutschland aussehen? Wir in der SPD sind der Meinung: Sie muss die Regelungen der Tarifautonomie berücksichtigen.
Das ist ein komplexes System, aber es hat sich in der Praxis bewährt. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion setzen uns deshalb mit den Gewerkschaften zusammen und diskutieren über Modelle. Unser Ziel ist es, ausgehend von spezifischen Bedürfnissen der Branchen und auch der Regionen, Instrumente zu entwickeln, die existenzsichernde Löhne garantieren. Dort, wo es Tarifverträge gibt, sollen diese für die gesamte Branche gelten. Das erreichen wir durch das Entsendegesetz oder die Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Dort, wo es keine Tarifverträge gibt, brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn, der sich ebenfall an den Besonderheiten orientiert.
Dieses komplexe System macht allerdings auch deutlich, dass ein Schnellschuss hierbei alles andere als sinnvoll ist. Wir sind uns sicher, dass wir sowohl in der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften als auch in unserer Koalitionsarbeitsgruppe zu guten Ergebnissen kommen werden. Woher kommt diese Sicherheit? Die Zahl der Befürworter einer Neuregelung nimmt auch in konservativen Kreisen zu.
Gute Lösungen brauchen Zeit. Diese Zeit wollen wir uns in diesem Jahr nehmen.
Wie gesagt, es gibt in der Europäischen Union bereits 18 Länder mit einem Mindestlohn. Ab nächstem Jahr sind es 19. Denn dann gehören wir dazu. Das sind wir den Menschen schuldig, die darauf angewiesen sind.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die FDP-Fraktion.
Dirk Niebel (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Gysi, wer Mindestlöhne festlegt, der wird als nächsten Schritt auch die staatlichen Brot- und Butterpreise haben.
Denn beidem liegt das gleiche Prinzip zugrunde. Deswegen ist Ihr Antrag nicht zielführend.
Das Grundproblem in Deutschland ist ein ganz anderes - es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung in dieser Debatte überhaupt nicht das Wort ergreift -: Das Grundproblem besteht darin, dass viel zu viele Menschen in einer dauerhaft gefestigten Arbeitslosigkeit verharren müssen.
Weshalb ist das so? 2 Millionen Menschen bzw. 39 Prozent der Arbeitslosen sind gering qualifiziert. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit, Herr Gysi, ist das Ergebnis der in den vergangenen Jahrzehnten gut gemeinten und durchgeführten Sockellohnerhöhungen, bei denen die Löhne der unteren Lohngruppen deutlich höher - überproportional - angehoben worden sind als die Löhne der anderen. Das war gut gemeint, aber man hat damit die Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt; denn der Preis für ihre Leistung war plötzlich zu hoch. Diese Leistung wurde dann im Inland oder als legale Leistung nicht mehr nachgefragt. Dass die Schattenwirtschaft mittlerweile ein geschätztes Volumen von 346 Milliarden Euro hat, ist unter anderem ein Ergebnis dieser gut gemeinten Sockellohnerhöhungen;
denn der Faktor Arbeit ist darüber hinaus viel zu stark durch Steuern und Abgaben belastet.
Wenn ich höre, was insbesondere vonseiten der Sozialdemokratie gesagt wird, dann muss ich mich sehr wundern: Einerseits beklagen Sie, dass die Menschen zu wenig Geld haben, andererseits tragen Sie die Merkel-Münte-Steuererhöhung, die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte, mit, wodurch Sie den Menschen noch mehr Geld aus der Tasche ziehen.
Es ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, warum Sie nicht den umgekehrten Weg gehen: Sie sollten versuchen, die Menschen zu entlasten und dafür zu sorgen, dass ihnen von ihrem selbst verdienten Geld mehr übrig bleibt. Dann könnten sie investieren und konsumieren. Dann könnten auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden,
wodurch die Menschen die Chance hätten, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Indem man aber einen staatlich festgelegten Mindestlohn einführt, greift man in die Tarifautonomie ein. Frau Mast hat bereits angedeutet, dass in all den Bereichen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt, ein staatlicher Mindestlohn eingeführt werden soll. Hier widersprechen Sie sich selbst. Sie haben ja vorgelesen, wie hoch die Tariflöhne sind. Auch ich habe mich darüber informiert. Teilweise ist es wirklich beängstigend, zu sehen, welche Regelungen die Tarifvertragsparteien, also auch die Gewerkschaftsfunktionäre, die Ihrer Partei angehören, unterschrieben haben. So gibt es zum Beispiel im privaten Transport- und Verkehrsgewerbe in Mecklenburg-Vorpommern einen Tariflohn in Höhe von 3,91 Euro. Jeder weiß, dass man in Deutschland nicht von einem solch niedrigen Stundenlohn leben kann.
Aber man kann das Steuersystem auf vernünftige Art und Weise so organisieren - das hat auch der Herr Bundespräsident Anfang dieses Jahres im „Stern“ vorgeschlagen; wir führen ja nachher noch eine Debatte dazu - und zu einem negativen Einkommensteuersystem kommen, dass jemand sowohl durch Arbeit Geld verdienen als auch ohnehin vorhandene Transferleistungen beziehen kann, ohne dass durch Mitnahmeeffekte bei den Arbeitgebern die Arbeitsplätze „downgegradet“ werden.
- Herr Präsident, falls Sie Herrn Tauss nicht sehen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er mich etwas fragen möchte. Ich würde mich auch fragen lassen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es ist ja sehr schwer, Herrn Tauss nicht zu sehen.
Dirk Niebel (FDP):
Das ist wohl wahr, ja.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Deswegen erweckt Ihre Nachfrage unnötigerweise den Eindruck einer bestellten Zwischenfrage. Dass dem so ist, möchte ich ausdrücklich ausschließen. Aber ich vermute, dass Sie die Zwischenfrage des Kollegen Tauss genehmigen möchten.
Dirk Niebel (FDP):
Ich würde mir diese Freude nie entgehen lassen, Herr Präsident.
Jörg Tauss (SPD):
Lieber Herr Niebel, Ihre Freude wird sich noch steigern. Ich will Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir eine Wette abzuschließen, und zwar darüber, ob es in den letzten Jahren Sockellohnerhöhungen gegeben hat oder nicht. Wenn Sie mir beweisen können, dass es in einem Tarifvertrag in den letzten Jahren zu Sockellohnerhöhungen gekommen ist, also zu Tariferhöhungen, von denen die unteren Lohngruppen überproportional profitiert haben, würden Sie von mir eine Kiste unseres guten nordbadischen Weins bekommen,
und wenn Sie diesen Nachweis nicht erbringen können, müssten Sie mir eine Kiste geben. Wären Sie bereit, diese Wette mit mir abzuschließen, damit wir dieses Thema im Deutschen Bundestag künftig nicht mehr auf diese Art und Weise erörtern müssen?
Dirk Niebel (FDP):
Lieber Herr Kollege Tauss, da ich weiß, dass Sie den guten nordbadischen Wein nach den Landtagswahlen am 26. März dringender benötigen werden als ich, werde ich diese Wette nicht annehmen;
denn Sie haben von den „letzten Jahren“ gesprochen. Diese Formulierung ist zunächst einmal zu definieren.
- Wenn Sie mir eine Frage stellen, müssen Sie auch mit meiner Antwort leben.
- Sie können mich fragen, was Sie wollen, und ich kann Ihnen antworten, was ich will; so handhaben wir das.
Wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik Deutschland ansehen, werden Sie feststellen, dass die Massenarbeitslosigkeit, die sich seit dem Ölpreisschock gerade im Bereich der gering Qualifizierten verfestigt hat, das Ergebnis der Sockellohnerhöhungen ist, zu denen es damals gekommen ist.
Wenn Sie sich die Tarifverträge, die im öffentlichen Sektor in den letzen 15 Jahren abgeschlossen worden sind, ansehen, werden Sie das ebenfalls feststellen. Aber nun sollten Sie sich einfach hinsetzen und sich um Ihre eigenen Probleme kümmern.
Ein Aspekt wurde gar nicht beachtet: das Arbeitslosengeld II. Sie haben das Arbeitslosengeld II als soziokulturelles Existenzminimum eingeführt. Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens wurde richtigerweise festgestellt, dass jede legale Arbeit zumutbar ist.
Mit dem Arbeitslosengeld II, bei dessen Berechnung Sie leider immer vergessen, die Wohn- und Energiekosten einzubeziehen, gibt es bereits einen staatlich festgelegten Mindestlohn. Wenn Sie nun einen Anreiz dafür schaffen wollen, dass die Betroffenen aus dem Bezug von Transferleistungen herausgehen, dann müssen Sie den Mindestlohn, den Sie neu einführen wollen, deutlich höher als das Arbeitslosengeld II ansetzen. Denn anderenfalls hätte das den Effekt, dass kein Mensch einen wirtschaftlichen Anreiz hätte, statt des Bezugs einer Transferleistung eine Arbeitsstelle anzunehmen.
Wir wollen doch nicht dauerhaft eine Gesellschaft von Taschengeldempfängern organisieren, in der den Menschen zuerst womöglich alles Selbstverdiente weggenommen und ihnen dann etwas zugeteilt wird. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, durch eigener Hände Arbeit wieder ein Bestandteil der Gesellschaft zu werden und ihren Lebensunterhalt - wenigstens teilweise - selbst zu verdienen. Das hat etwas mit der Würde der Betroffenen zu tun; darum muss es uns gehen.
Vor dem Hintergrund der heutigen Debatte fordere ich Sie noch einmal eindringlich auf: Kehren Sie um! Verlassen Sie den Weg, die Bürger immer weiter abzukassieren! Fangen Sie damit an, dass Sie wenigstens auf die Merkel/Münte-Steuererhöhung verzichten.
Sorgen Sie dafür, dass in diesem Land investiert und konsumiert werden kann! Nur das schafft Arbeitsplätze und nur das bringt die Menschen aus der Sockelarbeitslosigkeit heraus, die unter anderem Sie, Herr Tauss, durch Ihre falsche Tarifpolitik mit zu verantworten haben.
Vielen herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es war Mitte 2004, als Franz Müntefering mit seiner Forderung nach Mindestlöhnen die Republik in Aufregung versetzt hat. Inzwischen hat sich der Pulverdampf zum Glück verzogen.
Ich erinnere mich noch sehr genau an die Bundestagsdebatte über Mindestlöhne im letzten Jahr,
als wir mit den Grünen das Entsendegesetz entsprechend anpassen wollten. Schade, dass die PDS zu diesem ihr doch so wichtigen Thema damals nichts zu sagen hatte: Kein einziges Wort zum Mindestlohn in dieser Debatte! Heute lehnen Sie sich dafür umso weiter aus dem Fenster. Voran bringt uns Ihr Schnellschussantrag leider nicht. Mit Ihrer pauschalen Forderung von 8 Euro für alle Tätigkeiten lassen sie die Vielschichtigkeit des Themas vollkommen außer Acht. Die Sorge ist aber berechtigt, dass mit einem beliebig gegriffenen Mindestlohn - nach dem Prinzip Hoffnung - großer Schaden angerichtet werden kann. Was wir brauchen, sind differenzierte und möglichst branchenspezifische Lösungen.
Informieren Sie sich doch einmal bei den Gewerkschaften! Diese haben inzwischen einen dreistufigen Ansatz zum Schutz vor Lohndumping entwickelt: An erster Stelle Tarifverträge, an zweiter die Ausweitung des Entsendegesetzes - mit dem Vorteil, dass nicht der Gesetzgeber, sondern die Tarifparteien selbst die Mindestlöhne vereinbaren - und an dritter Stelle gesetzliche Mindestlöhne. Ich finde diesen Ansatz gut. Er kommt unseren Vorstellungen sehr entgegen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sind die Lösungsvorschläge der Gewerkschaften in dieser für die Menschen im Niedriglohnbereich so wichtigen Frage offensichtlich egal.
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, wird man das Gefühl nicht los, dass Sie Angst vor der eigenen Courage haben. Wie sonst kann es sein, dass Sie Übergangsregelungen für kleine und mittlere Unternehmen einführen wollen, die damit überfordert sind, 8 Euro die Stunde zu zahlen?! Wie lange sollen solche Übergangsfristen gelten und wer soll das alles kontrollieren? Dazu finde ich in Ihrem Antrag kein einziges Wort.
Zum Antrag der Grünen. Ich will eine gewisse Sympathie für Ihren Antrag nicht verhehlen.
Aber man merkt, dass er mit heißer Nadel gestrickt ist.
Bei einem so wichtigen Thema sollten wir uns aber die nötige Zeit nehmen.
Wir lehnen beide Anträge ab.
Minister Müntefering hat angekündigt, bis zum Herbst einen Vorschlag zu Kombi- und Mindestlöhnen vorzulegen. Im Koalitionsvertrag haben wir verabredet, die Lohnstrukturen am Arbeitsmarkt gemeinsam unter die Lupe zu nehmen, Kombilohnmodelle zu prüfen und dabei auch das Thema Mindestlohn anzupacken. Ich bin zuversichtlich, dass uns hier etwas Gutes gelingen wird. Denn in den Reihen der Union ist Bewegung zu erkennen.
Wenn der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Würmeling offen anspricht, dass er glaubt, dass wir in mehr Branchen in Deutschland Mindestlöhne bekommen, und betont, dass auch er dafür sei, dann ist das eine gute Verhandlungsgrundlage.
Diese Aussicht kann Sie, meine Herren von der FDP - Damen sind keine mehr da, obwohl gerade Frauen dieses Thema enorm interessieren müsste -, natürlich nicht befriedigen.
Bei Ihnen ist keinerlei Bewegung zu erkennen. Ich frage Sie: Warum lösen Sie sich nicht endlich aus Ihrer ideologischen Totenstarre und nehmen zur Kenntnis, dass Deutschland und Europa nicht nur aus Wettbewerb pur bestehen? Hier leben Menschen, die ein Recht auf Teilhabe, Chancengleichheit und natürlich auch existenzsichernde Löhne haben. Die Menschen können frei wählen, wo in Europa sie leben und arbeiten wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen.
Wir haben gerade erlebt, was passiert, wenn wir nicht aufpassen und den Rahmen nicht richtig setzen. Dann verlieren die Menschen das Vertrauen in die Politik. Sie wenden sich von einem Europa ab, das ihnen das Gefühl vermittelt, Verlierer zu sein. Der massive Protest der Bevölkerung gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat gezeigt: Markt ist nicht alles, er kann nur in Übereinstimmung mit guten Standards im Sozial- und Arbeitsrecht funktionieren. Mindestlöhne sind hier ein wichtiger Baustein.
Herr Niebel, das ist auch ganz unabhängig von der Mehrwertsteuererhöhung.
Mit oder ohne Mehrwertsteuererhöhung: Wir brauchen Mindestlöhne.
Herr Niebel, stellen Sie also endlich Ihre Nebelmaschine ab.
Inzwischen begreifen das immer mehr: Wissenschaftler, Gewerkschafter und zum Glück auch unser neuer Koalitionspartner.
Die FDP hingegen verteufelt den Mindestlohn als maximalen Unsinn. Herr Brüderle spricht vom Antikapitalismus der Sozialdemokraten, der sich in dieser Frage offenbare, und erschrickt über die Sozialdemokratisierung der Union, die sich in erschreckendem Tempo fortsetze.
Frau Merkel wandele in dieser Frage inzwischen gar auf den Spuren von Marx und Co.
Also ehrlich: Wenn es denn so wäre und wenn es den Menschen dann nützt: Ich könnte nichts Schlechtes daran finden, Herr Niebel.
Meine Damen und Herren von der FDP: Sie sollten sich einmal fragen, warum Sie mit Ihrer Einstellung zum Mindestlohn zunehmend alleine stehen. Ich will es Ihnen sagen: Sie haben sich zu weit von den Lebenswirklichkeiten der Menschen entfernt.
Herr Niebel, Sie haben im Oktober einen flotten Spruch losgelassen.
Mit Blick auf die SPD haben Sie gesagt:
Wer heute Mindestlöhne fordert, verlangt morgen staatlich festgelegte Bierpreise.
Herr Kollege, richtig muss der Satz lauten: Wer heute Mindestlöhne fordert, setzt sich für die Menschen ein, die von ihrer Hände Arbeit leben müssen und dafür ihren gerechten Lohn verlangen. - Das tun wir, Herr Niebel.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Über die Verstaatlichung der Bierpreise und die Mehrwertsteuer reden wir dann ein anderes Mal.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der Kollege Laurenz Meyer das Wort.
Als Vertreter einer einschlägig ausgewiesenen Region wird er die Frage nach der Entwicklung der Bierpreise sicher abschließend beantworten.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf das Thema Bierpreise werde ich mich hier überhaupt nicht kaprizieren. Ich schlage vor, dass wir das Thema Mindestlohn so angehen, wie wir viele andere Themen auch angehen,
dass wir uns in Europa umschauen und uns ansehen, was dort funktioniert und was dort aus unserer Sicht möglicherweise auch nicht funktioniert.
Zunächst einmal muss ich dabei feststellen: In 19 von 25 Ländern gibt es einen Mindestlohn. Als Zweites stelle ich fest - darauf hat der Kollege Brauksiepe schon hingewiesen -, dass die Unterschiede in Europa riesengroß sind: Der Mindestlohn bewegt sich innerhalb der EU zwischen 1 300 Euro und 120 Euro. Deswegen werden wir uns das ansehen und schauen, ob andere es richtig machen. Wenn es Möglichkeiten gibt, zu sinnvollen Lösungen zu kommen, werden wir sie nutzen.
Während ich mir heute die Debatte hier angehört habe, habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass auf allen Seiten ideologisch schon richtig abgerüstet worden ist. Bei der Rede von Herrn Gysi und durch den Antrag der Linken habe ich etwas Bemerkenswertes erfahren. Wenn ich Journalist wäre, dann würde ich mich bezüglich der Rechnung von Herrn Gysi, mit der er auf seinen Mindestlohn gekommen ist, nicht nur auf die 8 Euro, sondern auch auf die 40 Stunden konzentrieren. Als Überschrift würde ich schreiben: Gysi fällt Bsirske in den Rücken und akzeptiert die 40-Stunden-Woche.
Das ist die erste Botschaft des heutigen Tages und wir sollten sie festhalten.
Ich komme nun zu dem, was Herr Lafontaine und Herr Gysi über Anwälte und Architekten gesagt haben. Herr Lafontaine, Herr Gysi, wenn Anwälte anders als Sie nur einen Auftrag in der Woche haben, möglicherweise noch von einem Mandanten mit weniger Geld, dann ist das für den Mandanten zwar gut, dass er einen festen Satz bezahlen muss, aber nicht für den Anwalt. Deswegen ist dieses ganze Gerede einfach nur Klassenkampf pur. Hier müssen wir uns fragen: Was wollen Sie damit für die Menschen erreichen?
In der Bauwirtschaft gilt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wir wissen aber auch, was in diesem Bereich passiert. Das brauchen wir uns nur in Ruhe anzusehen. Wenn einer staatlichen Stelle - Frau Nahles, selbst Gewerkschaften -, die einen Bauauftrag zu vergeben hat, ein Angebot mit ausschließlich deutschen Kräften für 10 Millionen Euro und ein anderes Angebot mit Subunternehmen aus dem Ausland für 8 Millionen Euro vorliegt, dann ist die Versuchung offensichtlich groß - für staatliche Stellen wie für Gewerkschaften wie für Arbeitgeber -, das Angebot mit den Subunternehmen für 8 Millionen Euro anzunehmen. Damit sind die ganzen Regelungen ausgehebelt und wir haben ein Problem.
Wenn dann noch die Arbeitszeiten nicht kontrollierbar sind und die betreffenden Arbeitnehmer bei gleichen Löhnen fünf Stunden mehr arbeiten als die deutschen Arbeitnehmer oder sogar Mieten für miserable Unterkünfte bezahlen, wenn ihnen noch die Löhne weggenommen werden, dann ist uns allen nicht geholfen. Damit müssen wir uns beschäftigen. Deswegen müssen wir mögliche Regelungen kritisch hinterfragen, ehe wir sie als Lösung akzeptieren.
Auch bei uns gibt es Mindestlöhne. Wir haben den Mindestlohn beim Arbeitslosengeld II in vielen Fällen aufgestockt. Arbeitslosengeld-II-Empfänger können einen 400-Euro-Job oder 1-Euro-Job annehmen, sodass im Grunde genommen eine Lohnhöhe vorgegeben ist. Jemand, der rational denkt, wird sich also fragen: Nehme ich jetzt eine Arbeit an oder kombiniere ich das mit Schwarzarbeit? So ist die Situation.
Frau Nahles, ich will es für uns noch ein bisschen komplizierter machen. Sie haben gesagt, jedem fünften Arbeitnehmer in Ostdeutschland stehen weniger als 1 400 Euro zur Verfügung.
- Gut, also unter 1 300 Euro. Das ist aber für das, was ich ausdrücken will, nicht entscheidend. Jeder von uns ist sicherlich der Meinung, dass 1 300 Euro nicht viel sind.
- Brutto. Natürlich gönnen wir es jedem, dass er mehr als nur diese Summe verdient.
Aber die Fragestellung, die hinter dem steht, was wir hier diskutieren, ist, offen ausgesprochen, ob wir Gefahr laufen wollen, dass die 20 Prozent der Arbeitnehmer, die heute weniger als 1 300 Euro verdienen, arbeitslos werden, wenn wir den Mindestlohn bei 1 300 Euro ansetzen.
Diese Fragestellung müssen wir diskutieren, bevor wir Lösungen zustimmen.
Wir müssen sicher sein, dass dieser Effekt nicht eintritt, und wir müssen den Menschen helfen, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Wir dürfen sie nicht behindern oder durch gut gemeinte Regelungen ihren Arbeitsplatz gefährden.
Bei einem anderen Punkt, den Sie genannt haben, will ich Ihnen aus vollem Herzen widersprechen. Sie haben gesagt: Lohn hat etwas mit Würde zu tun.
Ich sage Ihnen: Arbeit hat etwas mit Würde zu tun. Ob jemand eine Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen hat, hat etwas mit Würde zu tun.
- Über diese Überlegungen werden wir sprechen.
Selbstverständlich wollen wir, dass Arbeit - der Kollege Brauksiepe hat darauf hingewiesen - insgesamt so entlohnt wird, dass ein Mensch davon leben kann. Wenn es unter den Bedingungen in Deutschland wegen der Produktivität des Einzelnen nicht möglich ist, dass sein Lohn ausreicht, dann wollen wir ihn mit staatlichen Transferleistungen aufstocken. Es sollte nicht so sein, dass jemand ausschließlich von Transferleistungen lebt; vielmehr geht es um eine Kombination von Arbeitseinkommen und Transferleistungen.
Schauen Sie sich einmal an, wie viele Menschen heute einen 1-Euro-Job annehmen wollen, wie die Zahl der Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen und einen 400-Euro-Job haben, angestiegen ist. Da passiert einiges. Gleichzeitig sehen wir, dass es natürlich eine Verlockung ist, neben dem 400-Euro-Job schwarzzuarbeiten. Frau Nahles, auch Sie haben sicherlich schon festgestellt, dass es sehr schwer ist, Schwarzarbeit in Kombination mit einem 400-Euro-Job zu kontrollieren, weil die Betreffenden bei einer Kontrolle erklären, dies sei der erste Tag ihres 400-Euro-Jobs.
Dabei dürfen wir uns nicht von ideologischen Vorstellungen leiten lassen, sondern es geht in der Diskussion darum: Was wollen wir erreichen?
Wir wollen erreichen, dass Menschen Arbeit bekommen und dass die Mitnahmeeffekte in diesem Prozess auf ein Minimum reduziert werden.
Wir sollten insofern - wie es meines Erachtens heute bei manchen der Fall war - nicht nur aus der Sicht derer diskutieren, die bereits Arbeit haben, sondern auch aus der Sicht derjenigen, die Arbeit suchen. Wir haben das Problem, dass die Hälfte der Arbeitslosen Langzeitarbeitslose sind. Viele von ihnen haben keine Berufsausbildung und auch keinen Schulabschluss. Damit wird sich die CDU/CSU-Fraktion nicht zufrieden geben.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Wollen wir, dass diese Zahlen immer weiter steigen, weil wir nichts tun, oder wollen wir zumindest den ernsthaften Versuch machen, auch diesen Menschen in Deutschland wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu bieten? Darum geht es - um nicht mehr und nicht weniger.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/398 und 16/656 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 20. Sitzung - wird am
Montag, den 20. Februar 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]