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Stand: 20.02.2001
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Vortrag von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse

im "Zentrum für den Dialog zwischen den Kulturen", in Teheran am 20. Februar 2001

Es gilt das gesprochene Wort

Das Jahr 2001 ist aus der Sicht eines Parlamentariers ein besonderes, ein besonders verpflichtendes Jahr: Es ist das "Internationale Jahr des Dialogs zwischen den Kulturen".

Aufgerufen zu diesem permanenten grenzüberschreitenden Dialog hat die Weltorganisation UNESCO. Sie entsprach damit einem Antrag Ihres Landes, Ihrer Regierung - der Islamischen Republik Iran.

In Deutschland haben wir diesen Appell, diese Einladung zum interkulturellen Austausch sehr aufmerksam und dankbar zur Kenntnis genommen. Mehr noch: Wir stellen uns hinter diese Initiative, wir unterstützen die ihr zugrunde liegende Idee - die Idee der Völkerverständigung. Ich darf Ihnen versichern: Wir Deutschen beteiligen uns am Dialog, so konstruktiv wie möglich und auf Basis gegenseitiger Akzeptanz. Wir sind neugierig, offen und um wechselseitiges Verstehen bemüht.

Der grenzüberschreitende Dialog zwischen den Kulturen, zwischen den Zivilisationen ist ganz in unserem Interesse. Er entspricht den Lehren, die wir aus unseren schmerzvollen geschichtlichen Erfahrungen gezogen haben. Und er entspricht unseren heutigen Vorstellungen von Demokratie, Toleranz und der Förderung der Menschenrechte.

Mir ist bewusst, dass wir - trotz aller ernsthaften Bemühungen auf der einen wie der anderen Seite - noch immer an der Schwelle zum Dialog stehen. Die EXPO, auf der sich Iran mit einem eigenen Salon präsentierte, bot den Kommunikationswilligen zwar gute Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu informieren. Doch EXPO, das wissen wir auch, ist nicht alle Tage. Noch zu selten gelingt es uns, die hohe Schwelle zum Dialog wirklich zu überschreiten, zu selten finden die Bemühungen, sich einander verständlich zu machen, eine nachhaltige Resonanz, zu selten spiegeln sie sich positiv in den Medien und im Alltag der Menschen wider. Schlimmer noch: manch ein Versuch, das zarte, zerbrechliche Pflänzchen des interkulturellen Austauschs zu pflegen, scheitert auf tragische Weise infolge äußerer Eingriffe. Manch eine hoffnungsvolle Initiative verkümmert, ohne je wirklich geblüht zu haben. Und das macht mich nachdenklich.

Mir scheint, die gegenseitigen Vorurteile zwischen den Kulturen und damit zwischen uns Menschen erweisen sich auch heute noch, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als überaus hartnäckig und zäh. Davon zeugt nicht selten schon der sprachliche Umgang: Obwohl es genauso wenig "den Islam" wie "den Westen" gibt, ist dieses ungleiche Wortpaar Inbegriff eines angeblich unüberwindlichen Antagonismus zweier Welten geblieben.

Daran hat auch der Prozeß der Globalisierung zunächst wenig geändert. Das Zusammenwachsen der Welt ist gekennzeichnet durch soziale, politische und kulturelle Umwälzungen, die tief in unseren Alltag, in unsere Biographien hinein reichen und auf die wir reagieren müssen - als Subjekte, als Gestalter des Prozesses, nicht als "Getriebene", nicht als seine "Opfer".

Ich habe in den letzten zehn Jahren eine Beobachtung gemacht, die allgemeine Gültigkeit zu haben scheint: Auf Gefühle von Unsicherheit oder gar Bedrohung reagieren Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft offenbar ähnlich. Sie reagieren mit dem Rückzug auf das Vertraute und Traditionelle, mit Abgrenzung oder Aggression gegen das Fremde, mit einem Hang zu bequemen Dichotomien und simplifizierten Feindbildern.

Und so wird dann auf der eine Seite "der Islam" auf seine fundamentalistische Variante reduziert. Und auf der anderen Seite gilt "der Westen" als Verkörperung einer gottlosen Moderne, die die religiöse und kulturelle Identität der islamischen Welt bedroht. Die wechselseitige Dämonisierung hat kulturgeschichtlich eine lange Tradition. Sie hat verhindert, dass beide Seiten die großen Kulturleistungen der jeweils anderen anerkannt haben, und sie hat über weite Strecken vergessen lassen, wie fruchtbar sich einst Orient und Okzident in Wissenschaft und Kultur beeinflusst haben.

So sehr ich es mir wünschte: Das von Goethe in Anknüpfung an die Poesie von Hafis beispielhaft und auf einem hohen literarischen Niveau geflochtene Band einer fruchtbaren Symbiose zwischen westlicher und islamischer Kultur, zwischen Okzident und Orient, ist noch immer nicht Bestandteil des kulturellen Alltagsbewußtseins geworden, jedenfalls in Deutschland noch nicht, sondern es erfreut vor allem die Experten - Literaturwissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Politiker. Die Vermittlung, die Weitergabe dieses Wissens funktioniert noch nicht.

Das "noch" in diesem Satz, diese kleine Relativierung, sage ich absichtsvoll und in guter Hoffnung. Denn Gespräche, wie wir sie im vergangenen Jahr mit Präsident Chatami während seines Staatsbesuches in Deutschland führten und wie sie Regierungsmitglieder und Abgeordnete unserer Länder seit Jahren immer wieder führen, tragen dazu bei, dass sich mehr und mehr Menschen für die jeweils andere Kultur und Religion, für die Geschichte des anderen Volkes, für den Alltag der Menschen dort interessieren. Diese Hoffnung hat sich mir tief eingegraben, und sie war und ist ein wichtiges Motiv für meine Reise in den Iran.

Doch nicht nur politischer Wille, sondern auch und vor allem die sich unaufhaltsam vollziehenden globalen ökonomischen Verflechtungen bringen immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Kulturen miteinander in Kontakt. Kenntnis und Verständnis des Fremden wird künftig immer weniger nur die Sache weniger Spezialisten, die Sache von Politikern, Diplomaten, Wissenschaftlern oder Industriellen, sein. Schon heute leben in den westlichen Ländern Menschen aus verschiedenen Kulturen friedlich nebeneinander und miteinander.

Dieses Neben- und Miteinander birgt die Chance, im Blick auf das Fremde, das Andere zugleich auch das Bewußtsein für das Eigene zu schärfen. Es offenbart einen größeren kulturellen Reichtum und es befruchtet den Intellekt - wenn man denn bereit ist, aufeinander zuzugehen und einander zuzuhören.

Doch genau hier, in der Bewertung der Chancen kultureller Begegnung, scheiden sich die Geister. Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington beispielsweise erwartet vom Aufeinandertreffen der Kulturen nichts Gutes, er wittert nur Gefahr. In seinem vor fünf Jahren erschienenen Buch "The Clash of Civilisations" entwirft er eine zweigeteilte Welt, die "vom Kampf der Kulturen" bestimmt und um ihren Frieden gebracht wird. Huntington prophezeit, dass sich künftige militärische Konflikte zwischen den großen Kulturen abspielen werden, allen voran zwischen der westlich-christlichen und der islamischen Welt.

Ich habe diese These immer für falsch gehalten und bin überzeugt, dass Huntington irrt - vor allem, weil seine Prognose auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der Auswirkungen kultureller Begegnungen beruht.

Huntingtons These vom Zusammenstoß der Kulturen ist geprägt von einem Denken, das noch ganz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurzelt. Offenbar ist es für manche immer noch sehr bequem, in Dichotomien zu denken und in einer zweigeteilten Welt mit klarem Feindbild zu leben. Die alte Ost-West-Konfrontation zwischen Washington und Moskau wird recht schlicht durch eine neue Zweiteilung zwischen Christentum und Islam ersetzt. Für die Konflikte, die infolge von Differenzierungsprozessen innerhalb der Kulturen entstehen, hat der amerikanische Politologe wenig Interesse.

Er wertet das Aufeinandertreffen der Kulturen als Bedrohung. Deshalb fordert er - auch in neueren Stellungnahmen - den Westen auf, sich auf seine eigenen Werte zu besinnen und seine eigenen Institutionen zu stärken, um für den beschworenen Konflikt mit anderen Kulturen gerüstet zu sein. So schürt er mit dem konfrontativen Denken von gestern die globalen politischen Konflikte, vor denen er zu warnen vorgibt. Neues Denken ist das nicht.

Denn die Begegnung der Kulturen ist keineswegs die große Gefahr des 21. Jahrhunderts. Vielfalt der Kulturen, der immense zivilisatorische Reichtum der Welt, der gegenseitige Austausch, die Horizonterweiterung bringen bedeutend mehr Wissen, eröffnen neue Möglichkeiten. Im Zeitalter der Globalisierung bietet die Kommunikation der Kulturen geradezu die Jahrhundertchance für friedliche Kooperation, für verständnisorientierten Dialog sowie vor allem für gemeinsame Lösungen globaler Probleme. Das ist die zentrale politische Gestaltungsaufgabe des 21. Jahrhunderts - gerade im Verhältnis der westlichen Staaten, insbesondere Europas, zur islamischen Welt.

Huntington und diejenigen, die seine Thesen unreflektiert, unkritisch übernehmen, verkennen, dass es "den Islam" nicht gibt. Eine Reduktion der vielen Facetten dieser traditionsreichen Weltreligion auf seine fundamentalistische Variante wird der kulturellen und politischen Vielfalt im arabischen, aber auch asiatischen und pazifischen Raum überhaupt nicht gerecht.

Die in Europa und USA noch häufig verbreitete Gleichsetzung des Islam mit religiösem Fundamentalismus ist grob irreführend. Sie verstellt den Blick auf die atemberaubende Vielfalt islamischer Strömungen in Geschichte und Gegenwart, auf ihren kulturellen und intellektuellen Reichtum. Sie verstellt aber auch den Blick auf das, was uns, uns Christen und Muslime, kulturell unlösbar verbindet - die gemeinsamen Grundlagen unserer Religionen.

Und hier erlaube ich mir, einen iranischen Poeten aus dem 13. Jahrhunder zu zitieren, der die Sache auf den Punkt gebracht hat: Sadi Saadi schrieb: "Alle Menschen sind Teil des Ganzen, da sie - in der Schöpfung - den gleichen Ursprung haben. Ihre Gemeinschaften können demnach nicht unabhängig voneinander existieren und sollten voneinander lernen." Wie gesagt: Dieser Gedanke ist beinahe 800 Jahre alt!

Dass das Gemeinsame im islamischen, christlichen und jüdischen Glauben das Trennende überwiegt, wird kaum einmal herausgestellt. Zu selten wird darüber gesprochen, dass Islam, Christentum und Judentum in wesentlichen Anschauungen übereinstimmen - in der Gleichheit aller Menschen vor Gott, in der Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe und - natürlich - in der Forderung nach Bewahrung des Friedens.

Die drei Kulturen haben sich gegenseitig befruchtet, von der Religion über die Philosophie bis hin zur Mathematik. Alle drei hatten Phasen der Aufklärung, Phasen dogmatischer Verhärtung und Phasen verblendeter Gewalt.

Und eine weitere Gemeinsamkeit ist zu nennen, eine Gemeinsamkeit, die zugleich auch das größte Trennende zwischen den großen Weltreligionen markiert: Das ist der Absolutheitsanspruch, mit dem sie ihre Lehren vertreten - gegenüber ihren Gläubigen, aber auch gegenüber den jeweils anderen Religionen.

Doch theologische Streitfragen stehen in der Hierarchie der Vorurteile, im wechselseitigen Mißtrauen nur selten ganz oben. Der Gegensatz wird auf beiden Seiten ja eben nicht zwischen Islam und Christentum aufgebaut, sondern zwischen "dem Islam" und "dem Westen". Es wird von zwei homogenen Kulturblöcken ausgegangen, die es in dieser Homogenität nie gegeben hat. Und ohne groß darüber nachzudenken, erachtet man die jeweils eigenen Wertvorstellungen als selbstverständlich und richtig. Alles, was von ihnen abweicht, ob wirklich oder gedacht, wird als nur negativ und falsch bewertet. Und dementsprechend häufig reden wir dann aneinander vorbei.

Wie können wir die beschriebene Situation ändern? Was können wir tun, um jenes Verständnis für einander zu entwickeln, ohne dass es keinen Respekt und kein Ver

trauen gibt? Wie kommen wir hin zum vielfach beschworenen Ideal des völkerverbindenden Dialogs?
Jede Veränderung, so meine ich, muss im Kopf beginnen. Der eigene Erfahrungshorizont muss sich öffnen für neues Denken und neues Verstehen, ohne sich zugleich von den eigenen Grundwerten zu verabschieden oder sich einem Werterelativismus zu verschreiben. Denn grundlegende Werte sind tatsächlich nicht verhandelbar, ich denke an die Menschenrechte. Nicht verhandelbar ist die Würde des Menschen, also das Verbot von Folter und körperlichen Strafen, die persönliche Freiheit, die Freiheit der Rede. Niemand darf dieser Überzeugungen wegen benachteiligt werden. Einen gleichberechtigten Dialog kann es nur geben, wenn niemand befürchten muss, wegen einer Äußerung bestraft zu werden.

Gleichwohl: Wir brauchen, wenn wir uns über Grenzen und Kontinente hinweg wirklich verstehen wollen, auch eine selbstkritische Bewertung unserer bisher gültigen Denkmodelle, unseres über Jahrzehnte und Jahrhunderte eingeübten interkulturellen Handelns. Und wir benötigen differenzierte Aufklärung über die fremden Kulturen, Religionen, Sitten und Ideale - in den Schulen, in den Hochschulen, in den Medien.

Dem Entstehen neuer Vorurteile und Feindbilder kann bei uns, in Europa, gerade auch die Erinnerung an die eigene Geschichte entgegenwirken. Diese Geschichte ist geprägt von religiösen Kämpfen innerhalb des Christentums, von der Verschränkung politischer Interessen und religiöser Macht - und deren schrittweise Überwindung. Huntigtons Kampf der Kulturen hat längst stattgefunden - in den Kreuzzügen des Mittelalters als europäisch-christliche Aggression. Der laizistische Staat musste in Europa erst über Jahrhunderte erkämpft werden. Die Idee der Demokratie ist bei uns gerade einmal gute 200 Jahre alt, die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau wird seit gut 100 Jahren erhoben und ist noch längst nicht so umfassend erfüllt wie die nach Demokratie in Staat und Gesellschaft.

Selbst unsere jüngere Geschichte weist im Verhältnis zu anderen Kulturen nicht nur positive Seiten auf. Viele arabische und afrikanische Staaten haben die Folgen des rücksichtslosen europäischen Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bitter zu spüren bekommen. Das beeindruckende Friedenswerk der europäischen Union ist erst nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege in Angriff genommen worden.

Im übrigen sind auch in Europa bis heute längst noch nicht alle religiösen und kulturellen Konflikte gelöst. Neben dem Beispiel Nordirland haben gerade die blutigen Kriege im früheren Jugoslawien die ganze Sprengkraft ethnischer und religiöser Intoleranz am Ende des 20. Jahrhunderts deutlich werden lassen.

Die aktuellen Diskussionen über die Bedeutung des interkulturellen Dialogs konzentrieren sich auf die Beziehungen zwischen den Kulturen der Welt. Dies erweckt mitunter den Eindruck, als gäbe es interkulturelle Probleme im wesentlichen nur zwischen Staaten und Völkern. Interkultureller Dialog hat jedoch keineswegs nur eine außenpolitische Dimension.

In Deutschland leben heute ca. 3 Millionen Muslime. Lange sind Chancen wie Schwierigkeiten dieses Zusammenlebens bei uns ignoriert worden. Konservative Aversionen gegen die sogenannte "multikulturelle Gesellschaft" schürten Emotionen und führten zu der Auffassung, unser Land müsse vor einer sog. "Überfremdung" durch Einwanderung geschützt werden. Diese "Festungsmentalität" hat überfällige Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts lange blockiert - gegen die Faktenlage, nicht selten auch gegen alle Vernunft.

Dabei existiert in Deutschland längst eine kulturell heterogene Gesellschaft. Althergebrachte Vorstellungen von der weitgehenden Homogenität einer Kultur, wie sie der deutsche Philosoph Herder im 18. Jahrhundert geprägt hat, sind - falls sie jemals zutrafen - zu Beginn des 21. Jahrhunderts völlig überholt.

Viele der Muslime in Deutschland leben hier bereits in zweiter und dritter Generation. Sie als "Ausländer" zu bezeichnen, wäre höchst problematisch. Sie sind in Deutschland geboren, Deutsch ist ihre erste oder zweite Sprache. Sie sind in Berlin, Köln, München oder Hamburg aufgewachsen und zur Schule gegangen und somit zweifellos Teil unserer Gesellschaft und nicht Teil einer anderen, einer ausländischen. Oft leben sie in zwei Kulturen zugleich und sind nicht selten in keiner von beiden wirklich zu Hause. Unser früheres Staatsbürgerschaftsrecht - geprägt vom Geist überkommener ethnischer Kategorien der Jahrtausendwende - konnte der komplexen Lebenssituation dieser Menschen längst nicht mehr gerecht werden.

Die jetzige Bundesregierung setzte deshalb eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts durch. Diese ermöglicht nunmehr - unter bestimmten Bedingungen - bis zum 18. Lebensjahr den Besitz zweier Staatsangehörigkeiten. Dann müssen sich die Jugendlichen für einen Pass entscheiden - für den deutschen oder den türkischen zum Beispiel. Diese Regelung ist seit dem 1. Januar 2000 Gesetz - und man hört seitdem wenig von den zuvor ausgemalten Untergangsszenarien. Von der Möglichkeit der Einbürgerung wird zunehmend Gebrauch gemacht. Von der Möglichkeit, sich frei für eine Religion zu entscheiden, sich zum Glauben der Eltern und Großeltern zu bekennen, ebenfalls.

Einen ähnlich produktiven Umgang mit kulturellen Problemlagen brauchen wir auch in anderen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens. Wann immer es um das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitskulturen geht, gilt es für unsere Gesellschaft zu lernen, mit Andersartigkeit im Inneren zu leben. Deshalb kommt es politisch wie gesellschaftlich darauf an, mit kultureller Differenz tolerant, kreativ und produktiv umzugehen. Dies erfordert, diffusen Ängsten vor dem sogenannten "Eindringen" von "fremden" kulturellen Einflüssen entgegenzuwirken - und ihnen im Fall fremdenfeindlicher Ideologie und rechtsradikaler Gewalt auch mit aller Schärfe entgegenzutreten.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zahlreiche Aufgaben für die Gesellschaft. Beispielsweise muss der gesamte Bildungsbereich den sich wandelnden kulturellen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz wird eine Schlüsselqualifikation der Zukunft und somit auch Aufgabe unserer Schulen und Universitäten. Sie erfordert nicht nur tagtägliche Einübung in Toleranz, sondern auch eine Öffnung des bislang auf die abendländische Historie konzentrierten Geschichtsunterrichts. Noch reduzieren unsere Lehrbücher die Berührung des christlichen Abendlandes mit der islamischen Welt auf die Darstellung militärischer Ereignisse. Und das ist unbefriedigend.

Besser wäre eine fächerübergreifende Beschäftigung mit der Gegenwartskultur anderer Regionen und Kontinente, mit ihrer Kunst, Musik, ihren religiösen Traditionen.

Ich wäre sehr dafür, dass unsere Oberstufenschülerinnen und Schüler neben deutscher, französischer und englischer Literatur sehr viel stärker auch Autoren aus der islamischen Welt im Unterricht lesen und besprechen - die Märchen und Fabeln aus alter Zeit, Gedichte von Hafis, aber auch Werke der Gegenwartsliteratur.

Nun weiß ich, dass ich hier - im Teheraner "Zentrum für den Dialog zwischen den Kulturen" - auf offene Ohren treffe, wenn ich für Toleranz und Verständigung werbe. Ich weiß auch, dass ich manche Probleme bei mir zu Hause in Deutschland selbst lösen muss. Worauf es mir ankommt, ist ein differenziertes, ein realistisches Bild des Islam zu zeichnen, das die Gemeinsamkeiten betont. Diese Gemeinsamkeiten jenseits aller Unterschiede bewusst zu machen, verstehe ich als eine zentrale Aufgabe der interkulturellen Verständigung im 21. Jahrhundert.

Natürlich ist dieses Vorhaben nur als gemeinsames Vorhaben zu denken. Beide Seiten müssen weiterhin aktiv die Kontaktaufnahme zwischen den Menschen unserer Länder fördern, und zwar nicht nur auf staatlicher oder wirtschaftlicher Ebene, sondern auch auf Ebene der NGO's, der Verbände und Vereine, der interessierten Menschen. Ich bin froh darüber, dass zwischen den Hochschulen unserer Länder wieder Beziehungen gepflegt werden, dass jedes Jahr deutsche Studentinnen und Studenten der Iranistik Gelegenheit haben, für einige Monate in Teheran zu studieren. Junge Iranerinnen und Iraner, die in Deutschland studieren wollen, erhalten Unterstützung seitens des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

Wir bauen auf den Enthusiasmus, auf die Aufgeschlossenheit, Neugier und Klugheit der jungen Menschen in beiden Ländern. Sie demonstrieren am eindrucksvollsten den guten Willen zur interkulturellen Verständigung, zur Annäherung unserer Kulturen und Zivilisationen, zum Abbau wirklicher oder gedachter Barrieren. Damit belegen sie sehr anschaulich die Richtigkeit eines Gedankens von Präsident Chatami, den er während seines Staatsbesuches in Weimar - bei der Einweihung des Denkmals für Goethe und Hafis - vortrug: "In der Welt des Menschen", so sagte uns Ihr Präsident, "gibt es kein absolutes Anderssein".

Dieser Gedanke von Präsident Chatami läßt sich problemlos auf unsere Kulturen und Religionen übertragen, auch sie sind nicht in absoluter Geschiedenheit voneinander zu denken. Auch hier sollte gelten: Die Zeit der Abgrenzungsrhetorik ist vorbei, ein für allemal. Sie ist ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts. An ihre Stelle tritt der Dialog der Kulturen. Denn wir wissen: Wir können voneinander lernen, ohne unsere religiös-kulturelle Identität aufzugeben."
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_010220
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