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20 Jahre nach Tschernobyl







Ein Essay von Lothar Hahn

Am 26. April jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 20. Mal. Dieses dramatische Ereignis ist in unseren Köpfen noch immer präsent. Es hat, wie kaum ein anderes, auch in unserem Land gesellschaftliche und technische Prozesse in Gang gesetzt, die heute noch nicht abgeschlossen sind.

Für viele zeigt Tschernobyl die nicht beherrschbaren Risiken der Atomenergie auf. Zur Katastrophe führten im Wesentlichen drei voneinander unabhängige Gründe: Entscheidende physikalische und sicherheitstechnische Eigenschaften des Reaktors (RBMK ) waren ungünstig, das Wissen der Betriebsmannschaft über das betriebliche Verhalten des Reaktors war ungenügend und warnende Stimmen aus den eigenen Reihen wurden nicht ernst genug genommen.

Über mehrere Tage konnten radioaktive Substanzen aus dem offenen Reaktorgebäude ungehindert in die Atmosphäre entweichen und über Tausende von Kilometern in Europa niedergehen. Der in relativ kurzer Zeit über den Krater gebaute „Sarkophag“ ist inzwischen brüchig geworden und droht einzustürzen, daher soll ein neuer drübergebaut werden. Die Planungen sollen in Kürze mit finanzieller Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft realisiert werden.

Heute leben viele Bürger, insbesondere in Weißrussland und in der Ukraine, in berechtigter Angst, von der Strahlenkrankheit doch noch eingeholt zu werden. In der Zwischenzeit sind bei den 13 noch betriebenen Anlagen vom Tschernobyl- Typ zwar entscheidende Punkte verbessert worden. Auf ein nach unseren Maßstäben adäquates Sicherheitsniveau lassen sie sich jedoch aus konzeptionellen Gründen nicht nachrüsten.

Was können wir tun? Wir haben bereits eine Menge getan. Vor allem haben wir in diesen Ländern unter anderem durch intensive Schulungen in Seminaren mit dazu beigetragen, eine unabhängige atomrechtliche Aufsicht zu etablieren. Hier haben sich Partnerschaften mit einem gemeinsamen Sicherheitsverständnis herausgebildet.

Aus Sicht der GRS hält Tschernobyl noch immer Lehren bereit: Die gravierenden sicherheitstechnischen Defizite des Tschernobyl-Typs waren den Entscheidungsinstanzen hinlänglich bekannt. Es gab sogar ähnliche Vorfälle, die jedoch glimpflich abliefen. Trotzdem kam es zur Katastrophe. Ungenügender Erfahrungsrückfluss, Überheblichkeit gegenüber frühzeitigen Warnungen und der Vorrang ökonomischer Interessen vor Sicherheitsfragen traten hier offen zu Tage, letztlich Todsünden, die einer hohen Sicherheitskultur entgegenstehen.

Es gibt allerdings keinen Grund für Selbstgefälligkeit. Denn ich frage mich ernsthaft, ziehen wir aus den betrieblichen Erfahrungen unserer Kernkraftwerke auch die notwendigen Lehren? Auch bei uns gab und gibt es Hinweise auf Defizite, die nur mühsam behoben werden. Ich erinnere an die spektakuläre Explosion von Wasserstoff in einem deutschen Kernkraftwerk, die hätte verhindert werden können und Gott sei Dank ohne gravierende Folgen blieb. Ich frage mich weiter, ist der Erfahrungsaustausch unter den Betreibern, Gutachtern und Atombehörden in unserem Land so gut organisiert, dass erkannte Schwachstellen in der Technik oder im Management ungeschönt kommuniziert und diskutiert werden, um die Sicherheit weiter zu optimieren? Auf dem Gebiet der Reaktorsicherheitsforschung geht es in Deutschland heute nicht mehr um neue Reaktorentwicklungen, sondern darum, die technischen und physikalischen Phänomene, mit denen wir aus der betrieblichen Erfahrung konfrontiert werden, besser zu verstehen, um Sicherheitsprobleme rechtzeitig lösen zu können.

Darüber hinaus ist es dringend geboten, Schlüsselbereiche der Reaktorsicherheit im Rahmen der Forschung zu fördern. Ich beobachte mit Sorge, dass die Mittel für manche Bereiche kaum ausreichen, den derzeitigen Wissensstand zu erhalten. Von der Öffentlichkeit wird allerdings erwartet, dass die GRS jederzeit über das notwendige Know-how verfügt, technische Sachverhalte richtig und schnell zu analysieren und zu bewerten. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das entsprechende Expertenwissen dafür vorgehalten wird.

Tschernobyl hat weltweit Entwicklungen angestoßen mit dem Ziel, Möglichkeiten auszuloten, wie eine Anlage, die in einen Zustand jenseits ihrer sicherheitstechnischen Auslegung gerät, noch sicher abgefangen werden kann. Darüber hinaus hat Tschernobyl gezeigt, dass dem organisatorischen und administrativen Bereich der Reaktorsicherheit der gleiche Rang gebührt wie dem technischen. Infolgedessen fand das Sicherheitsmanagement auch bei uns besondere Aufmerksamkeit. Dieses kann aber nur funktionieren, wenn die Menschen mit Verantwortung für Sicherheit eine ausgeprägte Sicherheitskultur leben.

Erschienen am 10. April 2006

Weitere Informationen:

Der Physiker Lothar Hahn, Jahrgang 1944, ist wissenschaftlichtechnischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH.


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