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Datum: 27.01.2004
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Pressemeldung des Deutschen Bundestages - 27.01.2004

Rede von Frau Simone Veil vor dem Bundestag, Berlin, 27. Januar 2004

FONDATION POUR LA MEMOIRE DE LA SHOAH
(Stiftung zur Erinnerung an die Shoah)
Rede von Frau Simone Veil vor dem Bundestag,
Berlin, 27. Januar 2004
Herr Bundespräsident,
Herr Bundeskanzler,
Herr Bundestagspräsident,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
meine Damen und Herren Botschafter,
meine Damen und Herren,
Es ist für mich eine große Ehre, an diesem Tag und an diesem geschichtsträchtigen Ort zu Ihnen zu sprechen, der heute das Parlament des vereinigten Deutschland beherbergt und den ich zum ersten Mal besuche.
Aber diese Ehre geht auch mit einer großen inneren Bewegung einher. Wir sind in Berlin, im Herzen Europas: diese Stadt, die einst die Hauptstadt des Nazireiches war und danach das Symbol des geteilten Europa, ist nunmehr das Symbol der wiedererlangten Demokratie.
Die Ereignisse, derer wir heute gemeinsam gedenken, hat die Person des öffentlichen Lebens, die Politikerin, die ehemalige Präsidentin des Europäischen Parlaments, die Sie in mir vor sich sehen, jedoch zunächst am eigenen Leib erfahren; ich war eine namenlose abgezehrte Gestalt, als das Lager von Bergen-Belsen befreit wurde, wohin mich die Willkürherrschaft der Nazis nach Auschwitz verbannt hatte.
Die Sprache, die hier an diesem Ort gesprochen wird, diese deutsche Sprache, die ich im Laufe der Jahre von meinen Freunden und Partnern zu hören gelernt habe, war die Sprache, die wir damals hastig und in der ständigen Angst, die Befehle, die unser Überleben bedrohten, nicht schnell genug verstehen zu können, zu entschlüsseln versuchten. Es ist die gleiche Sprache, die nun ihren Geist und ihre Menschlichkeit wiedergefunden hat und die heute in diesem schönen Plenarsaal erklingt, in dem das Herz einer der lebendigsten Demokratien der Europäischen Union schlägt.
Deutschland hat als erstes Land beschlossen, den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zu machen. Im letzten Jahr hat Europa, oder genauer gesagt der Europarat, beschlossen, Deutschland auf diesem Wege zu folgen.
In einer Zeit, in der sich die Europäische Union auf die Aufnahme von Ländern vorbereitet, die durch die Sowjetherrschaft so lange vom übrigen Europa getrennt waren, kommt diesem Gedenken eine entscheidende politische Bedeutung zu: von dem Platz, den dieses Ereignis im historischen Bewusstsein Europas einnehmen wird, hängt es wesentlich ab, wie das Europa der Zukunft aussehen wird.
Es ist beeindruckend, welcher Weg zurückgelegt wurde. Das Datum des 27. Januar ist allein schon ein Sieg, der durch die Erinnerungsarbeit errungen wurde: Als die ersten sowjetischen Soldaten am 27. Januar 1945 das Lager von Auschwitz betraten, fanden sie dort, voller Ungläubigkeit und Entsetzen, nur einige Tausende Kranke und Sterbende, die durch ein Wunder den Nazis entkommen waren. Einige Tage zuvor waren wir, Zehntausende von noch lebenden Gefangenen von Auschwitz, darunter meine Mutter und meine Schwester, unter Drohungen und Gewaltanwendung gezwungen worden, uns zu versammeln und auf den "Todesmarsch" zu begeben.
Anders als bei der Befreiung vieler Städte, wie beispielsweise Paris, das dieses Jahr den sechzigsten Jahrestag seiner Befreiung feiert, hatte die Befreiung der Konzentrationslager nichts Festliches. Für die im Krieg befindlichen Armeen und Völker war dies in diesem Augenblick nicht einmal ein Ereignis.
Die Befreiung des Lagers, das hieß, dass die Gaskammern nicht mehr arbeiteten, dass keine Züge mehr ankamen, dass die unerbittlichen Befehle endlich verstummt waren. Die teuflische Maschinerie, die in den letzten Monaten mit voller Kraft in einem erbarmungslosen Tempo gelaufen war, kam zum Stillstand. Sie war um so erbarmungsloser gelaufen, als die Nazis, die die Wende des Krieges ahnten, ihr großes Werk der Vernichtung des jüdischen Volkes vollenden wollten, bevor die Niederlage ihrer Streitkräfte sie daran hindern konnte. Das Lager hörte also auf zu funktionieren. Für die Tausenden von Deportierten, die noch am Leben waren, schien die Bedrohung ihres Lebens zunächst einmal gebannt.
Angesichts des schnellen Vorrückens der Roten Armee hatten wir in Auschwitz damals gehofft, sehr rasch befreit zu werden, sofern die SS uns nicht noch vorher ermorden würde.
Doch nach tagelangen Fußmärschen in Kälte und Schnee bei minus 30 Grad, dann in offene Waggons gepfercht, die uns in Richtung der Lager im Westen – Dora, Mauthausen, Buchenwald, Bergen-Belsen – brachten, starben viele unterwegs an Erschöpfung oder unter den letzten Kugeln der SS. Unser Alptraum war noch lange nicht vorbei. Wir mussten noch mehrere Monate auf unsere Befreiung warten. Viele von denen, die bis dahin überlebt hatten, starben in dieser Zeit an Erschöpfung, Hunger, Typhus und durch Exekutionen. Meine Mutter war darunter, wie viele andere.
Ich erinnere mich an die Ankunft der englischen Soldaten in Bergen-Belsen. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, wir wussten nichts mehr. Wir konnten uns kaum darüber freuen. Die Befreiung kam für uns zu spät. Wir hatten das Gefühl, jede Menschlichkeit und jeden Lebensmut verloren zu haben.
Wir, die wir zu den sehr wenigen Überlebenden gehörten, hatten keine Familie mehr, keine Eltern, kein Zuhause. Wir waren allein, und dies um so mehr, als keiner wissen wollte, was wir erlebt hatten, keiner hören wollte, was wir gesehen hatten. Die Last unserer Erzählungen wollte keiner mittragen. Wir hätten eigentlich gar nicht leben dürfen: die Übermacht der Nationalsozialisten war so erdrückend, dass wir sogar die Unabänderlichkeit unseres Todesurteils verinnerlicht hatten. Wir hatten überlebt, nur um dann schweigen zu müssen. "Gut, leben können sie, aber schweigen sollen sie", schien uns die Welt außerhalb der Lager zu sagen.
Eine Fülle anderer Probleme nahm die Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Geschichte nahm unerbittlich ihren Lauf. Der Krieg war noch nicht aus: er forderte noch viele Leben und ging bald zu Ende, doch an seine Stelle sollten neue Spannungen treten. Die Gesellschaften verbanden ihre Wunden. Die Gefangenen kehrten zurück, doch ein Großteil Europas war zerstört. Der Lärm der Waffen verstummte, aber durch Europa ging ein Riss. Bald schon sollte auf der anderen Seite der Mauer ein anderer Totalitarismus die Hälfte des Kontinents der Freiheit berauben und jeden Dialog und jede Kommunikation unmöglich machen.
Im ersten Augenblick war die Befreiung der Lager kein besonderes Ereignis für die Welt, ebenso wenig wie für uns die Rückkehr ins normale Leben, in das wir ohnehin bis heute nicht zurückgekehrt sind. Wer kümmerte sich in dem vom Nationalsozialismus befreiten Europa um die Überlebenden von Auschwitz? Für die Geschichte, die man bereits zu schreiben begann, für das traumatisierte Gedächtnis, das seine ersten heilenden Mythen schuf, waren wir unerwünschte Zeugen.
Das Gedenken an den 27. Januar 1945 war also nicht selbstverständlich.
Die seither geleistete langsame und schwierige Erinnerungsarbeit hat diesen Tag der Gleichgültigkeit entrissen, sowie sie uns, den Zeugen des Unsagbaren, unseren Platz wiedergegeben hat. Nachdem uns die Historiker zunächst ignorierten, trugen sie dann unsere Berichte zusammen und berücksichtigten sie. Besonders in Frankreich und in Deutschland ist die Erinnerung an die Shoah in die Schulen vorgedrungen und hat in der Literatur und im Film ihre Spuren hinterlassen.
Auschwitz ist zum Symbol des absoluten Bösen geworden, die Shoah zum Kriterium der Unmenschlichkeit, auf das sich das moderne Bewusstsein bezieht, wann immer es vom rechten Weg abzukommen fürchtet, wann immer es ein gutes Gewissen haben möchte. Die universelle Tragweite des Völkermords an den Juden steht fest. Dieser Reifeprozess war notwendig: er hat das Nachdenken über die Moderne erschüttert, das politische Denken bis in seine Grundfesten revolutioniert und Fortschritte im Völkerrecht bewirkt.
Aber ein Zuviel gefährdet hier die ursprüngliche Absicht. Das aus seinem historischen Zusammenhang herausgelöste Paradigma des Lagers ist zuweilen nur noch ein beliebig verwendbares moralisches Symbol. Das ist nicht ungefährlich. So kommt man sehr schnell zur Leugnung des Geschehenen. Heute, wo die letzten Deportierten nach und nach versterben und damit die Zeit der Zeugen zu Ende geht, sind die Lehren aus der Shoah so gründlich gezogen worden, dass infolge – gut- oder bösgläubig vorgebrachter – undifferenzierter Äußerungen eine Banalisierung der Shoah droht.
Nicht alle Genozide gleichen einander, nicht alle Verbrechen wiegen gleich schwer, nicht jedes Massaker ist ein Völkermord. Europa ginge in die Irre, wenn es sich an die Verbrechen der Nazis lediglich als an ein aus der gesamten historischen Entwicklung herausgelöstes einzigartiges Geschehen erinnerte. Es gilt diesen Geschehnissen mehr denn je ihren angemessenen Platz im europäischen Geschichtsbewusstsein zuzuweisen. Dies erfordert ein umfassendes Nachdenken über den Zweiten Weltkrieg als Teil der europäischen Geschichte.
Der Nationalsozialismus war in der Geschichte der Menschheit eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Nicht nur, weil die historische Machtergreifung Hitlers in nur wenigen Jahren unmittelbar zur Vernichtung von vielen Millionen Menschenleben und zur fast völligen Auslöschung des jüdischen Volks und der Sinti und Roma führte, sondern weil für dieses Grauen im Rahmen eines weltanschaulichen, historischen Gesamtentwurfs ein beispielloses Vorgehen gewählt wurde. Ich sage beispiellos, weil es meines Erachtens einen in dieser Weise wissenschaftlich geplanten und durchgeführten Mord noch nie gegeben hat. So gesehen wurden auch eine gesamte Zivilisation, die Menschlichkeit selbst Opfer des Nationalsozialismus.
Diese Katastrophe ist zudem Teil einer langen Reihe geschichtlicher Ereignisse, deren Höhepunkt sie in ihrer radikalen und erschreckenden Neuheit darstellt. Jahrhunderte lange Bruderkriege hatten Europa mit blutigen Kämpfen überzogen, wobei jeder von ihnen sich von dem Hass nährte, den der vorhergehende gesät hatte. Von Konflikt zu Konflikt haben Frankreich und Deutschland ihr Nationalbewusstsein auf dem Nährboden dieser Feindschaft entwickelt.
Europa hatte gerade eine erste Katastrophe hinter sich, die zur Auflösung mehrerer Kaiserreiche geführt, Millionen von Menschen entwurzelt und Millionen von Toten gefordert hatte. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie traumatisch das entsetzliche Blutbad des Ersten Weltkrieges von 1914 – 1918 auf die Zeitgenossen wirkte, denn das unvorstellbare Grauen des Zweiten Weltkriegs hat für uns die Schrecken des Ersten Weltkriegs überdeckt. Die Historiker haben allerdings einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Trauma der blutigen Schlachten des Ersten Weltkriegs und der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs hergestellt: die Raserei des Nationalismus, die Erfahrung des Massensterbens haben das Entstehen der späteren Formen des Totalitarismus in der Tat unmittelbar beeinflusst. Denn sobald der Frieden zurückgekehrt war, wurde die Erinnerung durch die Formen des Gedenkens überdeckt, indem man das Martyrium der Soldaten verherrlichte, ihren Kampf glorifizierte, den Krieg als heilig hinstellte und zudem Rachegelüste nährte. Die damalige Kultur, die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in ihrer Gesamtheit haben die Generation der zwanziger Jahre hervorgebracht und den Boden für den Nationalsozialismus bereitet. Der außerordentlich hellsichtige Bericht Sebastian Haffners, den er 1938 von seinem Londoner Exil als Zeitzeuge unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen" über diese Epoche verfasste, ist höchst wertvoll, weil er uns diese Zeit verstehen lässt, in der der Nationalsozialismus Wurzeln schlagen konnte, und weil er das Rätsel der begeisterten Zustimmung eines der kultiviertesten Völker der Welt zu der schlimmsten Schreckensherrschaft zu entschlüsseln hilft, die Europa je erlebt hat.
Hass und Misstrauen vererben sich natürlich von Generation zu Generation. Das vergossene Blut reißt die Schützengräben künftiger Kriege zwischen den Völkern auf. In den zwanziger Jahren hatte man zum Teil bereits geglaubt, diese schicksalshafte Verkettung überwinden zu können. Man muss die "Erinnerungen eines Europäers" von Stefan Zweig nachlesen, um zu ermessen, welche Verzweiflung die Nachricht vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auslöste. Ich zitiere "Es war wieder Krieg, ein schrecklicherer und größerer Krieg, als die Erde ihn je gekannt hatte. […] Denn meine innerste Aufgabe, an die ich alle Kraft meiner Überzeugung durch vierzig Jahre gesetzt, die friedliche Vereinigung Europas, sie war zuschanden geworden. […] Und Stefan Zweig fügt hinzu: "Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt hatten, war für eine Zeit zerstört, die weit über unser Leben hinausgehen würde." Diese Verzweiflung darüber, dass dieses "Niemals wieder" nun doch, und noch schlimmer als in der Vergangenheit, wiederzukehren drohte, war die furchtbare Enttäuschung, die alle Europäer der ersten Stunde erlebten. All dies muss man sich vor Augen führen, um sich nicht einer unvertretbaren Naivität schuldig zu machen. Das "Niemals wieder" hat künftige Generationen noch nie zu schützen vermocht. Es braucht mehr als Worte, mehr als gute Vorsätze, mehr als gute Absichten.
Ebenso entscheidend ist es, sich auf verantwortungsvolle Weise zu erinnern. Je nach der dahinter stehenden Intention nährt das Erinnern den Hass und künftige Kriege oder bildet das solide Fundament eines gemeinsamen konstruktiven Unterfangens. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht leicht, sich auf Leid und Tod, auf Trauer und Tränen zu berufen, um an der Versöhnung zu arbeiten und neue Bande zwischen verfeindeten Völkern zu knüpfen, die sich so oft bekämpft haben. Aber mit dem Zweiten Weltkrieg, mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, mit der Shoah und ihren Millionen Toten ohne Gräber, mit dem Versuch, das jüdische Volk auszulöschen, einem Plan, dessen Vollendung nur durch das Ende des Krieges knapp verhindert werden konnte, haben wir eine Schwelle überschritten. Die lange Geschichte des Hasses und der mörderischen Bruderkriege hatte einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab. Ohne die gezielte Bemühung um Aussöhnung, so hart sie für uns Überlebende, die wir zudem vielfach unsere Familien großenteils verloren hatten, auch sein mochte, würden sich die Völker Europas nicht von dieser Katastrophe erholen. Dessen war ich mir bewusst: auch wenn es den Anschein haben mochte, als vergäßen wir so unsere Toten. Aus dieser leidvollen Erfahrung rührt mein Engagement für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und die europäische Einigung, die beiden Ziele, die für mich in einem offenkundigen, inneren Zusammenhang stehen.
Mit dem Nationalsozialismus hatte ganz Europa am Boden gelegen. Nur gemeinsam, indem man sich gegenseitig stützte, würde man wiedererstehen können. Dabei gab man sich weder einer beschwichtigenden Naivität hin, noch sollte Deutschland von seiner Verantwortung freigesprochen werden. Es ging hier nicht um Verzeihen, sondern um eine hellsichtige und mutige Versöhnung, die ebenso utopisch wie realistisch und um so notwendiger war, als sie aus der tiefsten Verzweiflung erwachsen musste. Der Teufelskreis musste durchbrochen werden: die deutsch-französische Aussöhnung würde der Eckstein beim Aufbau eines befriedeten Europa sein. Man musste ein Wagnis eingehen und den eingeschlagenen Weg trotz der Hindernisse weiter verfolgen. Brücken waren zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und ein Rahmen zu schaffen, in dem die Raserei des leidenschaftlichen Hasses neutralisiert würde. Es galt, gerade das uns Trennende zu nehmen, das, was uns heimgesucht hatte, es galt, dieses traumatisierte Gedächtnis zur Grundlage unseres gemeinsamen Vorhabens zu machen. Die Freundschaft würde später kommen. Dies war das hellsichtige und hartnäckig verfolgte Wagnis des europäischen Aufbauwerks, wie ich – und andere – es vor Augen hatten.
Heute, kurz vor einer erneuten Erweiterung Europas, scheint dieses Wagnis tatsächlich glücken zu können. Zum ersten Mal in der langen Geschichte von Kriegen und Eroberungen hat sich die Einigung Europas nicht mit Gewalt oder hegemonialen Bestrebungen vollzogen, sondern auf friedliche und demokratische Weise. Kann man ermessen, welchen moralischen Sieg es darstellt, dass der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten aus dem ehemaligen Ostblock heute in Freiheit, und friedlich und demokratisch vonstatten geht?
Geglückt ist dieses Wagnis auch insofern, als bald nach den ersten konkreten Initiativen die Freundschaft kam, schneller noch, als wir es für möglich hielten. Ich möchte an dieser Stelle den politischen Mut und die visionäre Beharrlichkeit einiger großer, vor allem deutscher und französischer Persönlichkeiten würdigen. Die Gründerväter, ich nenne hier nur Konrad Adenauer und Robert Schuman, machten den Anfang mit Kohle und Stahl. Auf den Spuren seiner großen Vorväter und über die parteipolitischen Grenzen hinweg hat das deutsch-französische Paar allerdings immer den Mut zu großen Gesten gehabt, um Europa voranzutreiben und Zweifel zu überwinden. Nach dem 1963 zwischen Konrad Adenauer und General de Gaulle geschlossenen Élysée-Vertrag gaben Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt der europäischen Integration neuen Schwung; danach folgten François Mitterrand und Helmut Kohl, die die institutionellen Fortschritte mit dem so bewegenden Symbol des Händedrucks von Verdun begleiteten, und heute sind es Präsident Jacques Chirac und Sie, Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ich habe mich sowohl in meinen politischen Ämtern in Frankreich als auch bei meinen Aufgaben als erste Präsidentin des aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Europäischen Parlaments unablässig darum bemüht, diese Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland in der Überzeugung zu fördern, dass sie der Stützpfeiler des Europas sein müsse, das wir bauen wollten.
Als Voraussetzung für eine freie Zukunft braucht dieses versöhnte Europa ein dauerhaftes Fundament, das auf zwei Pfeilern beruht: Weitergabe der Erinnerung und Demokratie.
Europa war es sich schuldig, ein Vorbild für Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu sein. Es mussten die Lehren aus den totalitären Erfahrungen seiner bleischweren Vergangenheit ziehen und allen seinen Bürgern größtmögliche Freiheit im Rahmen eines solidarischen und friedlichen Miteinanders bieten. Europa brauchte also gerechte Institutionen, die – ebenso solide wie flexibel – sowohl den Stürmen der Geschichte zu trotzen imstande sein würden, als auch den schleichenden Versuchungen, die jeder Demokratie als Gefahr innewohnen, zu widerstehen. Die im Zusammenhang mit dem Beitritt der neuen Mitgliedsländer zur EU gestellten Bedingungen haben uns in neuerer Zeit daran erinnert: es geht um den Schutz der Rechte nationaler Minderheiten, um die Gewährleistung der Religionsfreiheit, damit jegliche Gefahr eines Bürger- oder Bruderkrieges endgültig gebannt ist.
Weil aber Demokratie auf dem Vertrauen in das Volk beruht, auf dem Vertrauen in die einzelnen Bürger, zusammen über ihre gemeinsame Zukunft entscheiden, muss dieses Vertrauen durch Werte geschützt werden, die bei der Entscheidungsfindung als Orientierung dienen können. Zivilcourage, Toleranz und die Achtung des Anderen: das sind die Werte Europas, die – wie die Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt hat – in den dunkelsten Stunden am bittersten Not tun. Fest verwurzelt in den Herzen und Köpfen, in den Gesten und Handlungen einiger Weniger, sind sie es auch, die die Ehre gerettet haben, als ganze Nationen am Boden lagen. Ist überhaupt bekannt, dass selbst Berlin, die Hochburg der SS, nie vollständig ?judenrein“ war, dass selbst hier eine Hand voll Juden den ganzen Krieg hindurch unter höchst gefährlichen Umständen überlebte, die vom Mut und Heldentum derer künden, die sie versteckten? Auch dies ist eine Lehre aus der Erfahrung des Nationalsozialismus: Institutionen müssen so verlässlich wie möglich sein, die Demokratie muss durch vielfältige Schutzmechanismen und Gegengewichte vor Leidenschaften bewahrt werden; wenn diese Mechanismen jedoch versagen, und das ist immer möglich, dann können nur Zivilcourage, Moral und die Würde des Einzelnen die Gemeinschaft retten.
Der zweite geistige Pfeiler Europas sollte die Weitergabe der Erinnerung sein. Europa sollte seine gemeinsame Vergangenheit als Ganzes kennen und zu ihr stehen, mit allen Licht- und Schattenseiten; jeder Mitgliedstaat sollte um seine Fehler und sein Versagen wissen und sich dazu bekennen, mit seiner eigenen Vergangenheit im Reinen sein, um auch mit seinen Nachbarn im Reinen sein zu können. Erinnerungsarbeit ist für jedes Volk ein anspruchsvolles, oft schwieriges, bisweilen schmerzhaftes Unterfangen. Aber sie bewahrt die Zukunft vor den Verirrungen der Vergangenheit, denn sie ermöglicht die Wiederherstellung der durch vorangegangenen Verrat beschädigten nationalen Einheit auf einer gesunden Grundlage. Nur sie ermöglicht eine dauerhafte Aussöhnung zwischen zuvor verfeindeten Nationen.
Die europäischen Staaten sind in diesem Bereich nicht gleich schnell vorangekommen. Frankreich und Deutschland waren beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Pioniere dieser Erinnerungsarbeit. Auch wenn nicht alle Opfer des Nationalsozialismus sofort berücksichtigt wurden, so hat Deutschland doch durch Entschädigung und Wiedergutmachung dazu beigetragen, das Leid der Überlebenden und ihrer Nachkommen im Rahmen des Möglichen zu lindern. Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich eines Teils der ?deutschen Schuld“ bewusst war, zögerte nicht, auch gegen den Widerstand einiger seiner politischen Partner, den legitimen Forderungen des noch ganz jungen, gerade erst aus den Ruinen des vernichteten europäischen Judentums erstandenen israelischen Staates nachzukommen. Begleitet wurden diese konkreten Maßnahmen von ausdrucksstarken symbolischen Gesten: wie könnte man an dieser Stelle den Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos unerwähnt lassen?
In Frankreich brachten erst die neunziger Jahre die offizielle Anerkennung der direkten Verantwortung des französischen Staates für die unter der Vichy-Regierung begangenen Verbrechen. Es war Jacques Chirac, der 1995 die lange erwarteten Worte fand: ?Die Schuld der Vergangenheit und die vom Staat begangenen Fehler anzuerkennen, die dunklen Stunden unserer Geschichte nicht zu verschleiern, bedeutet einfach, für ein bestimmtes Menschenbild, für eine ganz bestimmte Vorstellung von Freiheit und Menschenwürde einzutreten.“ Inzwischen wurde die Beraubung der französischen Juden vollständig aufgeklärt, und das endlich bezifferte und wiedererlangte gestohlene Vermögen ermöglichte die Gründung der ?Stiftung zur Erinnerung an die Shoah“, deren Vorsitz ich seit ihrer Gründung vor drei Jahren innehabe.
Zwar sind noch nicht alle Probleme gelöst, aber unsere beiden Länder können heute diesen dunklen Seiten ihrer Geschichte ins Auge sehen, denn diese Bemühungen haben ihnen ihre verlorene Ehre wiedergegeben.
Nun geht es darum, auf europäischer Ebene den Weg aufzuzeigen, damit jede Nation, jedes Volk mit Mut und Würde diese notwendige Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte als Voraussetzung für ein friedliches und dauerhaftes Miteinander angeht. Es geht nicht überall gleich schnell voran, dies muss gesagt werden. Insbesondere ist die Shoah in einigen osteuropäischen Ländern noch nicht ausreichend anerkannt: auf Grund der Manipulation durch die kommunistischen Regime, die lange an der Macht waren, hat die Erinnerung an das den Völkern von den Nazi-Besatzern zugefügte Leid den Blick auf die Erinnerung an das den Juden manchmal sogar mit dem geheimen Einverständnis dieser Völker zugefügte Leid verstellt. Diese Realität muss man sehen. In den jetzt vom kommunistischen Joch befreiten osteuropäischen Staaten gibt es andere, als Schutzschild fungierende Erinnerungen, die die notwendige Erinnerungsarbeit zur Shoah überdecken: für diese fast ein halbes Jahrhundert lang der sowjetischen Herrschaft unterworfenen Völker haben die Opfer des Kommunismus die Opfer des Nationalsozialismus verdrängt. Schlimmer noch: Erinnerung und Geschichte werden bisweilen so manipuliert, dass sie unter Verweis auf das durch die Sowjets zugefügte Leid als Rechtfertigung für den Antisemitismus dienen. Zu einer Zeit, wo Europa sich nach Osten öffnet, sind diese Entgleisungen in höchstem Maße alarmierend, denn diese angeblichen geschichtlichen Kontroversen berühren die Identität des zukünftigen Europa im Kern. Deutschland, das beide Formen des Totalitarismus erlebt hat und nun wiedervereinigt ist, kann den neuen Mitgliedstaaten sicherlich eine große Hilfe dabei sein, sich des Problems dieser Ungleichgewichtigkeit der Erinnerung gelassen anzunehmen.

Demokratie und Weitergabe der Erinnerung sind die beiden komplementären Voraussetzungen, die das befriedete Europa mit seiner zerrissenen Vergangenheit verbinden. Sie bilden einen doppelten Schutzschild gegen todbringende Leidenschaften, die hier oder da immer wieder aufflammen können. Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah können die Europäer mit Stolz auf den zurückgelegten Weg der Versöhnung zurückschauen. Aber wir haben noch eine gute Wegstrecke vor uns. Das bisher Erreichte verpflichtet uns heute, uns weiteren Herausforderungen zu stellen: mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten des früheren Ostblocks zur Europäischen Union muss Europa lernen, mit 25 Mitgliedern zu funktionieren. Neue institutionelle Lösungen als Grundlage einer neuen politischen Architektur müssen gefunden werden. Dazu wird sich Europa als unverzichtbaren Rahmen für eine funktionierende Demokratie in einer erweiterten Union eine Verfassung geben müssen, eine Verfassung, die die grundlegenden Werte, auf denen Europa aufgebaut ist, definiert, gewährleistet und an künftige Generationen weitergeben kann, angefangen mit der immer wieder erhobenen Forderung nach mehr Demokratie und Achtung der Menschenrechte.
Heute stehen wir neuen Problemen gegenüber, die für unsere Fähigkeit, unsere Werte zu verteidigen, eine Herausforderung darstellen. Wie sollte man auf die Anzeichen eines wieder erstarkenden Antisemitismus in Europa nicht besorgt reagieren? In Frankreich hat sich seit Beginn der zweiten Intifada die Zahl anti-jüdischer Übergriffe vervielfacht, von Synagogenbränden bis zu Schikanen jüdischer Kinder in unseren staatlichen Schulen. Ähnliches lässt sich auch andernorts in Europa beobachten. Es ist unerträglich, wenn westeuropäische Nationen, die zu Recht den Beitritt der Kandidatenländer an den Respekt der Minderheitenrechte als wesentliches Kriterium der Demokratie geknüpft haben, es zulassen, dass ein solches Krebsgeschwür auf ihrem Boden wächst.
Es muss immer wieder gesagt werden: Die Situation im Nahen Osten, soziales Elend oder auch Unwissenheit dürfen niemals als Entschuldigung oder mildernde Umstände für solche Umtriebe gelten. Wenn man die Erinnerung an die Shoah gegen die Juden kehrt, indem man unangemessene Vergleiche zwischen den Vernichtungslagern und Flüchtlingslagern zu ziehen wagt, wenn man den Völkermord an den Juden durch vielfältige undifferenzierte Äußerungen banalisiert, wenn man sich der Klischees antisemitischer Propaganda für den antizionistischen Kampf bedient, dann hat Europa die Pflicht, diesen Entgleisungen Einhalt zu gebieten, – nicht nur aus Achtung vor den Überlebenden der vor sechzig Jahren dezimierten jüdischen Gemeinden, sondern auch um der eigenen Würde willen. Erinnert man sich heute noch daran, dass in den dreißiger Jahren französische und deutsche Juden auf beiden Seiten des Rheins die Bedrohung unterschätzten, weil sie zu patriotisch gesinnt waren, um an ihren jeweiligen Ländern zu zweifeln? Sie konnten einfach nicht an eine reale Gefahr glauben.
Heute leben in Frankreich und Deutschland die beiden größten jüdischen Gemeinden Europas: Europa hat die Pflicht, dieses wiedergefundene Vertrauen nicht zu erschüttern. Niemand darf dulden, dass die Zugehörigkeit der Juden zum europäischen Konsens erneut in Frage gestellt wird. Europa muss mit beispielhafter Entschlossenheit jegliches Wiedererstarken des Antisemitismus, in welcher Form und unter welchem Vorwand auch immer er sich zeigt, anprangern und bekämpfen. Es geht hier auch um seine Kraft und Zukunft, denn wir wissen aus der Geschichte, dass das Aufflammen des Antisemitismus oft auf tieferliegende gesellschaftliche Missstände hinweist, auf eine Krise der demokratischen Vitalität. Daran wird deutlich, dass wir in Europa nicht aufhören dürfen, an uns zu arbeiten und wachsam zu sein.
Aus der bewussten und kontinuierlich wahrgenommenen Verantwortung für seine Vergangenheit mit all ihren Licht- und Schattenseiten schöpft Europa seit sechzig Jahren die Kraft für die Gestaltung seiner Zukunft. Dies ist die stillschweigende Verpflichtung, die die erste Generation von Europäern gegenüber künftigen Generationen eingegangen ist, die dann ihrerseits das Versprechen weitertragen sollen, wenn der Tag gekommen ist.
Zum Abschluss möchte ich mich vor allem an die jungen deutschen und französischen Schüler wenden, die heute hier anwesend sind. Sie sind das konkrete und lebendige Symbol dieser Versöhnung, aber Sie übernehmen auch den Stab, den wir vertrauensvoll an Sie weitergeben. Wie Tausende europäischer Schüler übernehmen Sie die Verpflichtung zur Erinnerung. Ich wünsche mir, dass Sie zusammen mit Ihren Lehrern erfahren und begreifen, was Auschwitz bedeutet, und dass Sie über das, was Auschwitz uns lehrt, nachdenken. Morgen werden Sie die Bürger sein, die Verantwortung dafür tragen, alles, was erneut zu einer solchen Verkettung von Hass und Gewalt führen könnte, die unweigerlich zur Barbarei führt, zu verhindern.
Aber die Jugend von heute, offener gegenüber der ganzen Welt, solidarischer mit denen, deren Rechte missachtet werden, und um die Gräueltaten der Vergangenheit wissend, wird die Lehren aus Auschwitz ziehen, dessen bin ich mir sicher. Ich vertraue ihr.
Heute wende ich mich mit folgenden Worten an Sie als junge Deutsche, als junge Europäer: Vergessen Sie nicht die Vergangenheit! Es ist nun an Ihnen, Europa zu gestalten, ein Europa der Bürgerfreiheiten, das für Frieden und die Achtung der Menschenwürde eintritt.
Ich danke Ihnen.


Übersetzung: Sprachendienst Deutscher Bundestag

30.225 Zeichen

Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2004/pz_0401272
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