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06/2001
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Menschen im Bundestag

Der Mann der frühen Stunde

Manfred Alscher arbeitet als Pförtner beim Deutschen Bundestag, mit sprichwörtlicher Freundlichkeit und angemessener Würde.

Pförtnerloge.
Pförtnerloge.

Manfred Alscher ist ein Mann der ersten Stunde. So könnte man sagen. Wenn er Frühschicht hat, beginnt sein Dienst um sechs Uhr. Da trifft er kaum auf ausgeschlafene Leute. Sechs Uhr heißt, er muss sich um halb fünf den Schlaf aus den Augen waschen, mit Kaffee und möglichst guten Gedanken ein bisschen wachexperimentieren, den kleinen Neid auf die beiden Kinder, die dann noch schlafen, vernachlässigen, ins Auto steigen, zur U-Bahn fahren, umsteigen und pünktlich in der Dorotheenstraße 93 ankommen. Im Sommer geht es – da scheint im besten Fall die Sonne schon ein wenig. Im Winter ist es schwerer, wenn man weiß, erst zwei Stunden nach Dienstbeginn wird es langsam hell.

Pförtnerloge.
Pförtnerloge.

Manfred Alscher ist Pförtner. Ein archaisches Wort, mehr als 800 Jahre alt. Ein Türhüter ist er also, der dafür Sorge zu tragen hat, dass derjenige, der kommt, freundlich empfangen wird und seinem Ziel ein Stück näher ist. Große Häuser, in denen viele Menschen arbeiten, bedürfen einer solchen Dienstleistung. Vor allem dann, wenn ein außen angebrachtes Wegeleitsystem so groß wäre wie eine ganze Hauswand. Man stünde ewig davor und begänne wahrscheinlich, an seinem Orientierungssinn zu zweifeln. Zudem ist es irgendwie unpersönlich, nicht empfangen zu werden. Ein guter Pförtner aber lächelt einem zu und fragt nach dem Begehr. Das ist ein guter Anfang. Und ein guter Anfang ist es auch für jene, die in den großen Häusern arbeiten und täglich an dem Mann oder der Frau in der Pförtnerloge vorbeigehen.

Aber wie das so mit Menschen ist, die man jeden Tag oder zumindest an vielen Tagen am gleichen Ort sieht, denen man an all diesen Tagen einen kurzen Gruß zunickt, die einem vielleicht an jedem dieser Tage eine bestellte Zeitung reichen, die immer einen kurzen Blick auf den Hausausweis werfen, "Guten Morgen" oder "Guten Tag" sagen, den Türöffner betätigen und dann aus dem Blickfeld verschwinden – sie gehören so sehr zum gewohnten Bild, dass man sich nur selten oder nie die Frage stellt, wie sie eigentlich an diesen Ort gekommen sind. Dabei ist das doch eine interessante Frage. Noch interessanter vielleicht, wenn alle Klischees im Kopf nicht mehr stimmig scheinen. Ist nicht in Filmen und Büchern der Pförtner fast immer ein Mann weit über die Fünfzig, mit einer großen, abgegriffenen Aktentasche, die eine Thermoskanne birgt und ein Stullenpaket immensen Ausmaßes? Hat er nicht eine riesige Taschenlampe zu tragen und eine an den Ellenbogen etwas abgeschabte Uniform mit passender Mütze dazu? Steht nicht ein Foto von seinen Enkelkindern auf dem Tisch und liegt nicht daneben die Sportzeitung mit den Fußballergebnissen aller, aber auch wirklich aller Spiele der vergangenen Tage?

Pförtnerloge, Mikrofon.
Pförtnerloge, Mikrofon.

Und was macht dann Manfred Alscher an solch einem Ort – in einer Pförtnerloge des Deutschen Bundestages, in der Dorotheenstraße 93, einem Haus, wo F.D.P.- und SPD-Abgeordnete ihre Büros haben, Ausschüsse tagen und Beratungen stattfinden? Ein Mann, gerade mal 35 Jahre alt, schlank, dunkelhaarig mit einem Grauanteil, für den Richard Gere wahrscheinlich einen Friseur beschäftigen muss, mit einem sehr offenen und freundlichen Gesicht, braun gebrannt an diesem Tag im Mai, dem ein sonniges Wochenende vorausging. "Sie haben die Sonne geküsst", sagt eine Frau, die vorbeikommt zu Manfred Alscher. Der lächelt und ist ein bisschen verlegen. Aber es hat schon seine Richtigkeit. Am Wochenende war er angeln, auf hoher See übrigens, und hat wohl nicht nur ins Wasser gestarrt, sondern auch in den Himmel geguckt.

Eigentlich ist Manfred Alscher schon seit siebzehn Jahren im Beruf. Mit 18 begann er beim Sicherheitsdienst der US-Armee in Berlin, dem Wachbataillon im Gardeschützenweg, zu arbeiten. Da trug er auch eine Uniform, und die Arbeit machte ihm Spaß. 1983 fing er an und blieb bis 1989. Zum Schluss lebten in der Kaserne und für eine Übergangszeit Flüchtlinge aus der DDR. Für Manfred Alscher, in Berlin aufgewachsen, genauer in Siemensstadt, wurde die Stadt größer. Mit einem Mal. Er war mit der Grenze aufgewachsen, viele seiner Verwandten lebten in der DDR, manchmal ist er nach Potsdam gefahren und hat sich die Parks und Schlösser angeschaut. Nun gab es das Ganze ohne Grenze.

Manfred Alscher.
Manfred Alscher.

1989 fing er bei der Siemens AG im Werkschutz an zu arbeiten. Zu dieser Zeit war auch sein Vater noch ein Simensianer. Zehn Jahre blieb Manfred Alscher im Unternehmen, war also schon ein "alter Hase", kannte alle Wege, Räume, Orte. In gewisser Weise ist das Haus in der Dorotheenstraße dagegen eine Puppenstube – natürlich nur im Größenvergleich.

Manfred Alscher las in der Zeitung, dass nicht alle, die im Deutschen Bundestag in Bonn arbeiten, nach Berlin umziehen werden. "Bewirb dich", hat er gedacht, "das ist eine Chance, und vielleicht hast du dann wieder ein Zuhause." Das sind seine Worte – mit der Arbeit ein Zuhause haben.

Am 15. November 1999 fing er beim Bundestag an zu arbeiten. Sein erster Tag begann am Nordeingang des Reichstagsgebäudes. "Einlasskontrolle zu den Liegenschaften des Deutschen Bundestages" heißt die etwas sperrige Beschreibung der Arbeit, die er bis heute verrichtet, aber mit den Bezeichnungen ist das ja so eine Sache. Er kontrolliert nicht den Einlass, sondern die Menschen, die eingelassen werden wollen. Er gibt Gästen einen Besucherschein, den er wieder zurückverlangt, wenn sie das Haus verlassen. Für die Ausschusssitzungen hat er einen großen Kasten, in dem verschiedenfarbige Karteikarten stecken. Wer an der Sitzung teilnehmen will, bekommt eine solche Karte – manchmal passt die Farbe zum Thema: Grün für den Landwirtschaftsausschuss zum Beispiel.

Manfred Alscher
Manfred Alscher.

Er führt ein Schlüsselbuch, bringt das Telefonverzeichnis auf den aktuellen Stand, nimmt Zeitungen und Schriftstücke in Empfang, kontrolliert auf seinem Monitor, wie es draußen auf den Parkplätzen und drinnen im Hof aussieht, lässt Lieferwagen rein und raus, macht Rundgänge durch das Haus. In der Sommerpause, wenn alles ein wenig ruhiger läuft, nutzt er die Gelegenheit, das Gebäude noch besser kennen zu lernen. Ein Pförtner sollte jeden Winkel kennen und jedem, der kommt, eine genaue Wegbeschreibung geben können.

Das Bundestagshandbuch hat Manfred Alscher mit einem ABC-Register versehen. So lassen sich die hier abgebildeten Abgeordneten schneller finden. Aber nach und nach braucht er das Buch nicht mehr – die Leute, die im Haus arbeiten, kennt er bereits gut.

Freundlich, findet er, sind sie alle. Manche mehr. Die reden dann ab und zu ein paar Worte mit ihm oder fragen, wie es geht. Die nehmen wahr, wenn er im Urlaub gewesen ist oder eben die Sonne geküsst hat.

Karteikasten.
Karteikasten.

Manfred Alscher selbst, das ist ganz sicher, ist ein ausgesprochen freundlicher Mensch. Das müsse auch so sein, sagt er. Freundlichkeit und Gelassenheit in hektischen Situationen seien unabdingbar, wenn man in der Pförtnerloge sitzt.

So ganz einfach ist die Angelegenheit wohl aber nicht. Die Loge ist ein eher karger Raum, und man sitzt – mit Verlaub gesagt – immer auf dem Präsentierteller. Dabei nie die Contenance zu verlieren, ist eine Frage des Charakters. Was, wenn man Kopfschmerzen hat oder traurig ist? Und niemals kann man den Satz sagen: Ich will heute keinen mehr sehen. Ein Pförtner, der solche Wünsche äußert, ist kein guter Pförtner.

Nehmen das die Leute wahr, die vorbeigehen – schnell oder langsam, einen kurzen Blick werfen, manchmal nur nicken, im Moment des Erkennens schon aus dem Blickfeld verschwunden sind, beschäftigt mit dem, was vor ihnen liegt, im Büro auf sie wartet? Erinnern sich die Besucher, wenn sie im Fahrstuhl stehen, noch an den netten Mann, der ihnen einen Besucherschein gegeben und den Weg erklärt hat? Könnten sie eine Antwort geben auf die Frage, ob dieser Mann eine Krawattennadel trug und welche Farbe sein Jackett hat?

Gang im Reichstagsgebäude.
Gang im Reichstagsgebäude.

Er trägt eine Krawattennadel und das Jackett ist dunkelblau. Er spricht englisch und schwedisch, hat eine heimliche Leidenschaft für Archäologie und sammelt Briefmarken, er liebt skandinavische Märchen und liest gern Naturbücher, er ist politisch interessiert und spielt Handball. Wenn er es sich wünschen könnte, würde er für offene Pforten ohne Glasscheibe und Mikrofon plädieren. Aber gut, er weiß, dass das nicht überall möglich ist. Er hat sich Material über das Haus in der Dorotheenstraße besorgt, damit er Fragen beantworten kann, wenn sie ihm gestellt werden. Er möchte lernen, sich weiterbilden, und er hofft, dass ihm die Möglichkeiten dazu geboten werden. Von den drei Schichten mag er die Spätschicht am liebsten. Dann kann er ein wenig länger schlafen und sieht die Kinder morgens noch. Das ist ein guter Tagesbeginn, bevor er zur Arbeit fährt und seinen Platz in der Loge einnimmt.

Er ist der erste Mensch, den man beim Betreten des Hauses sieht. Ein Haus- und Türhüter. Solche Leute sollte man kennen.

Kathrin Gerlof

 

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0106/0106059a
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