Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 12.01.2004
Bernward Janzing

Auferstanden aus Ruinen - oder: Welche Rolle wird die Atomkraft in Zukunft spielen?

Die Nuklearenergie galt lange als Auslaufmodell: Inzwischen wird wieder mehr in die Forschung investiert. Für junge Wissenschaftler ist das Fachgebiet aber wenig attraktiv

Spötter haben an der Fusionsforschung seit Jahren ihre Freude. Denn auf wundersame Weise rückt der Fusionsreaktor immer weiter in die Ferne, je länger an diesem Vorhaben gearbeitet wird. Im Jahre 1951 noch glaubten diese wissenschaftlichen Pioniere, ihre Energiequelle innerhalb von fünf Jahren erschließen zu können. Wenige Jahre später sah man sich dann ein bis zwei Jahrzehnte vom Durchbruch entfernt. 1971 schließlich sprachen die Experten von einem Prototyp im Jahre 1995.

Und heute? Selbst Optimisten halten einen solchen Reaktor in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts kaum mehr für denkbar. Dennoch irrlichtert die Vision von der Kernfusion noch heute durch die Köpfe. Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching betreibt heute noch zwei Großexperimente mit Fusionsapparaturen. Die Grundidee der Fusion: Die Energie kommt nicht wie in Kernkraftwerken aus der Spaltung von schweren Atomkernen, sondern aus der Verschmelzung von leichten Atomkernen.

Auf europäischer Ebene ist es das Projekt des Iter, das die Phantasien beflügelt. Iter steht für "Internationaler thermonuklearer Versuchsreaktor". Einige Mitgliedsstaaten der EU, allen voran Frankreich, wollen sich bei der Gemeinschaft jener Länder, die Fusionsforschung betreiben, für dieses Vorhaben bewerben. Obwohl die Iter-Anlage viele Milliarden Euro kosten wird und als kapitalintensive Großtechnologie eigentlich nicht mehr in die neuen, dezentraler werdenden Versorgungsstrukturen der Stromwirtschaft passt, können sich einige Nationen vom Gedanken an die Fusion nicht trennen. Auch die EU-Energiekommissarin Loyola de Palacio hatte jüngst versucht, in ihren Entwurf des EU-Grünbuchs für Versorgungssicherheit die Kernfusion unterzubringen. Doch sie scheiterte: Aus dem Buch flog die Technologie erst einmal wieder heraus - weil ihr Einsatz auf absehbare Zeit nicht denkbar ist.

Freilich ist die Fusion nicht die einzige nukleare Energie, die momentan deren Befürworter umtreibt. Auch die klassische Atomkraft ist mancherorts wieder auf dem Vormarsch. In Europa ist es der neue Reaktor "European Pressurized Water Reactor" (EPR), der bei manchen Unternehmen Hoffnungen weckt, bei Umwelt-Bürgerinitiativen indes Ängste schürt. Der Siemens-Konzern und die französische Atomgruppe Areva wollen jetzt den weltweit ersten EPR in Finnland errichten. Dessen Bau in Olkiluoto soll rund drei Milliarden Euro kosten. Ans Netz gehen soll dieser EPR 2009. Areva-Chefin Anne Lauvergeon sagt, mit diesem Auftrag werde ihr Unternehmen zum großen Player bei der "Renaissance der Atomkraft". Die Gigantomanie geht mit diesem "Euroreaktor" in die nächste Runde: Mit 1.600 Megawatt Leistung soll der EPR leistungsstärker sein als die heutigen Meiler, die bis zu 1.300 Megawatt erreichen.

In den USA hat man den Beinahe-GAU von Harrisburg 1979 offensichtlich wieder vergessen. Energieminister Spencer Abraham will Ende des Jahrzehnts das erste neue Kernkraftwerk bauen. 15 Milliarden Dollar will Präsident George W. Bush für dieses Programm bereitstellen - eine Summe, mit der sechs bis sieben zusätzliche Atommeiler finanziert werden könnten. Die Reaktoren der neuen Generation sollen sicherer sein als alle bisherigen und unter anderem auch zur Wasserstofferzeugung genutzt werden - um somit Autos indirekt mit Nuklearenergie zu betreiben.

In Deutschland dürfte das Thema Neubau zumindest in dieser Legislaturperiode nicht akut werden. Doch von Seiten der CDU und der FDP sind bereits deutliche Töne zu vernehmen - besonders aus Baden-Württemberg, wo Unions-Regierungschef Erwin Teufel im Verein mit mehreren seiner Minister "die Option Atomkraft offenhalten" möchte.

Doch das sind einstweilen nur Versuchsballons, die über die Politik hinaus bisher kaum Wirkung entfalten. Schließlich hat zumindest in der Bundesrepublik ein ansehnlicher Teil der Forscher den Pfad der Nuklearenergie mittlerweile verlassen. Beim GKSS in Geesthacht, wo einst Atomreaktoren für Schiffsantriebe entwickelt wurden, habe man heute "die Reaktorforschung auf Null zurückgeschraubt", heißt es dort. Ein Forschungsreaktor, der nach wie vor in Betrieb ist, werde "lediglich als Neutronenquelle genutzt", um die Neutronen in der Material- und Medizinwissenschaft einzusetzen. Auch die Kernfusion und die Entsorgung von Strahlenmüll sind in Geesthacht kein Forschungsthema mehr.

Deutlich zurückgefahren hat auch das Forschungszentrum Jülich sein Atom-Engagement. Von allen Aktivitäten der Einrichtung mache die wissenschaftliche Arbeit im Nuklearbereich weniger als fünf Prozent aus, so die Auskunft in Jülich. Es bleibt vor allem noch Karlsruhe. 30 Prozent der 3.500 Bediensteten des Forschungszentrums Karlsruhe sind heute noch im Atomsektor aktiv. Die Hälfte von ihnen befasst sich mit der Fusion, die andere Hälfte mit der Kerntechnik, worunter einerseits die Sicherheitsforschung für bestehende Reaktoren, andererseits die Entsorgung des Strahlenmülls fällt. Auch Themen wie die Transmutation, also die Umwandlung langlebiger Strahlenquellen in kurzlebige, werden in der badischen Stadt verfolgt.

Während die deutschen Großforschungseinrichtungen gerne ihr Engagement auf dem nichtnuklearen Feld hervorheben, sehen Kritiker den Wandel noch nicht endgültig als vollzogen an. Der forschungspolitische Sprecher der Bundes-Grünen, Hans-Josef Fell, hat jedenfalls den Eindruck, dass in den Führungsetagen der Institute "der Geist der Atomenergie allgegenwärtig" sei. Es fällt dennoch schwer, sich ein Comeback der Kernenergie in Deutschland vorzustellen. Zumal seit Jahren ein drastisch sinkendes Interesse junger Leute an der Atomtechnik zu verzeichnen ist. Dieses Indiz eines gesellschaftlichen Umbruchs könnte noch zu einem Problem führen: In den kommenden Jahren dürfte es an kompetenten Nachwuchswissenschaftlern fehlen. In der Bundesrepublik, wo der Ausstieg beschlossen ist, könnte die Zahl der Experten schneller abnehmen als die Zahl der Reaktoren. Denn die Hochschulen für Kerntechnik registrieren kaum noch Nachfrage. "Besonders an guten Leuten fehlt es", heißt es etwa an der TU München.

Kein Wunder: Wer will heute noch ein Studium dieser Art beginnen, wenn er davon ausgehen muss, dass seine Kenntnisse und Fähigkeiten schon bald nach dem Examen nicht mehr gefragt sein werden. Diese Entwicklung betrifft nicht nur Deutschland, wo die Atommeiler auslaufen sollen. Auch in Europa sind der Nuklearenergie weithin die Mehrheiten verloren gegangen. Unter den derzeit 15 EU-Staaten hatten fünf Länder nie Kernkraftwerke gebaut, zwei weitere (Österreich und Italien) haben ihre atomare Ära längst beendet. Von den verbleibenden acht EU-Mitgliedern haben Schweden, Belgien, die Niederlande und die Bundesrepublik inzwischen einen Ausstiegsbeschluss gefasst. So sind nur noch vier EU-Staaten übrig, die an der Nuklearenergie einstweilen festhalten: Frankreich, Großbritannien, Finnland und Spanien. Verschärft wird der Mangel an Fachleuten durch eine Pensionierungswelle. Da die heutigen Atomwissenschaftler und -techniker zumeist in den 70er-Jahren in ihren Beruf eingestiegen sind, stehen viele von ihnen heute kurz vor der Rente. Engpässe sind folglich zu erwarten.

Doch die Anhänger der Nuklearenergie wollen gegensteuern. Um das von jungen Leuten so vernachlässigte Studium der Kerntechnik wieder interessanter zu machen, haben sich zahlreiche Hochschulen zur "World Nuclear University" (WNU) zusammengeschlossen. Die neue Hochschule wurde im September gegründet und wird ihren Sitz in London haben. Was die WNU künftig genau machen wird, ist noch unklar. Im Vordergrund der Aktivitäten soll eine bessere Vernetzung der einschlägigen Universitäten stehen. Unter den deutschen Forschungseinrichtungen ist die TU München mit ihrem Garchinger "Institute for Safety and Reliability" im Netzwerk der WNU vertreten.

Über mangelnde staatliche Mittel jedenfalls können sich die nuklearwissenschaftlichen Institute in Europa kaum beklagen. Denn auch im aktuellen sechsten Forschungsrahmenprogramm hat die EU der Atomwissenschaft mit 1,23 Milliarden Euro erneut den mit Abstand größten Etatposten eingeräumt. Für die erneuerbaren Energien stellt Brüssel hingegen zusammen mit den Effizienztechnologien nur 830 Millionen Euro bereit.

Diese Bevorzugung der Kernenergie hat international Tradition: 70 bis 80 Prozent der öffentlichen Energieforschungsmittel der vergangenen 50 Jahre seien in der OECD für den nuklearen Bereich ausgegeben worden, rechnet Forschungspolitiker Hans-Josef Fell vor. Dennoch trage die Atomkraft heute weltweit weniger als fünf Prozent zur Deckung des Energiebedarfes bei. Die erneuerbaren Energien hätten dagegen schon einen Anteil von mehr als zwölf Prozent am Weltenergieverbrauch - obwohl sie international nur wenige Prozent der Forschungsmittel im Energiesektor bekommen hätten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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