Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
Kurt Bangert

Fast die Hälfte aller Afrikaner lebt in Armut

Kritiker halten das "Aktionsprogramm 2015" der Bundesregierung für zu gering

Rund 1,2 Milliarden Menschen haben weniger als einen Dollar am Tag zum Leben. Damit lebt jeder fünfte Mensch auf Erden in extremer Armut. Die meisten von ihnen finden wir in Afrika, wo nahezu die Hälfte - fast 300 Millionen Menschen - in absoluter Armut lebt. Weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung zu haben, bedeutet jedoch nicht nur, einen ständigen Überlebenskampf zu führen. Ein solcher Zustand stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar, eine Missachtung der Menschenwürde. Und ein Armutszeugnis für die Entwicklungspolitik.

Die Völkergemeinschaft hat sich zwar vorgenommen, dies nicht länger hinzunehmen. Beim Jahrtausendgipfel der Vereinten Nationen im September 2000 verpflichteten sich 189 Staats- und Regierungschefs, bis 2015 die extreme Armut in der Welt zu halbieren. In der Millenniums-Erklärung wurden dazu acht Ziele formuliert, nämlich: die Halbierung von extremer Armut und Hunger; Primärschulbildung für alle; Förderung der Gleichstellung der Geschlechter; Reduzierung der Kindersterblichkeit; Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter; Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria; Tuberkulose und anderen armutsbedingten Krankheiten; ökologische Nachhaltigkeit sowie der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft zwischen Nord und Süd.

In seinem Zwischenbericht vom 2. September 2003 klang UN-Generalsekretär Kofi Annan noch zuversichtlich, als er schrieb: "Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir die Mittel, das Wis-sen und die Expertise, um menschliche Armut auszumerzen - und es sogar innerhalb der Lebensspanne eines zum Zeitpunkt der Millenniums-Erklärung geborenen Kindes zu tun." In seinem Bericht machte er aber auch deutlich, dass die ersten sieben Jahrtausend-Ziele vor allem von der Umsetzung des achten (globale Partnerschaft) abhängen.

Die Bundesregierung hat die Millenniumsziele nicht nur ausdrücklich befürwortet, sondern auch ein "Aktionsprogramm 2015" unter Federführung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorgelegt, das am 4. April 2001 vom Kabinett verabschiedet wurde. Das rund 50-seitige Papier liest sich gut. Oppositionspolitiker sehen es jedoch eher kritisch. Laut Professor Winfried Pinger aus Köln, dem langjährigen entwicklungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben die Autoren im Entwicklungsministerium nur alles aufgeschrieben, was sie ohnehin machen, um dies unter der Überschrift "Aktionsprogramm 2015" zusammenzufassen. Weil es unpräzise blieb, fügten sie noch ein Kapitel zur "Umsetzung" an, in dem zwar keine Einzelheiten erläutert, dafür aber drei sinnvolle Maßnahmen angekündigt wurden: Als erstes die Einrichtung eines Dialogforums 2015, zweitens ein Umsetzungsplan und zum Schluss eine Kampagne der Bundesregierung, um "die Öffentlichkeit anzusprechen und zu Verhaltensänderungen und Engagement zu bewegen".

Was ist daraus geworden? Ein Dialogforum wurde zwar ins Leben gerufen, traf sich aber nur zweimal. Der Umsetzungsplan lässt auf sich warten. Auch von der Kampagne der Regierung ist bislang nichts zu sehen. Die kirchlichen Hilfswerke bescheinigen der Bundesregierung zwar "eine gewisse Entschlossenheit und Tatkraft", beanstanden aber die fehlende Wirkungsorientierung und mangelnde Prioritätensetzung (GKKE-Bericht).

Seit dem Millennium-Gipfel sind mittlerweile mehr als drei Jahre vergangen - drei von 15 bis zum Jahr 2015, wenn die Weltgemeinschaft die Halbierung der Armut erreicht haben will. Doch damit dieses Ziel kei-ne Utopie bleibt, gönnten sich die Vereinten Nationen bei der Verabschiedung auf dem Millennium-Gipfel auch noch den Luxus, nicht die (damals noch unvoll-ständigen) Zahlen von 2000 zugrunde zu legen, sondern die von 1990 - eigentlich ein fauler Trick. Es war nämlich bereits 2000 erkennbar, dass - basierend auf den Zahlen für 1990 - die Halbierung in einigen Regionen bald erreicht sein würde. Für andere Regionen indes bleibt dieses Ziel noch weit entfernt.

Allein 37 von 67 Ländern, von denen Daten vorliegen, haben in den 90er-Jahren Rückschritte erfahren, das heißt einen Zuwachs an extremer Armut gesehen. Gerade in Schwarzafrika konnten im letzten Jahrzehnt nur 15 Staaten ihr Pro-Kopf-Einkommen steigern; 24 afrikanische Länder dagegen erlebten einen Rückgang oder eine Stagnation im durchschnittlichen Einkommen.

Schauen wir uns die absoluten Zahlen an: Nach einem Bericht der Weltbank von 2002 lag die Zahl derer, die mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen mussten, 1990 bei 1,276 Milliarden. 1999 war diese Zahl trotz erheblicher Anstrengungen bei der Entwicklungszusammenarbeit und trotz wirtschaftlichen Wachstums nur unwesentlich niedriger, nämlich rund 1,15 Milliarden. Spart man China aus, stellen wir sogar einen Zuwachs der extrem Armen fest: 1990 lebten 916 Millionen Menschen außerhalb Chinas unter der 1-Dollar-Grenze. 1999 waren es 936 Millionen. Bei der Beurteilung der Zahlen muss zudem berücksichtigt werden, dass wir inzwischen einen Zuwachs der Weltbevölkerung zu verzeichnen hatten: Von etwa fünf Milliarden 1990 auf rund sechs Milliarden 1999/2000. Bis zum Jahr 2015 wird sie sich wahrscheinlich auf über sieben Milliarden erhöht haben. Somit ist ein weiteres Anwachsen der extrem Armen zu befürchten.

Wie könnte die Armutshalbierung erreicht werden? Gehen wir davon aus, dass wir als Weltgemeinschaft die Zahl derer in extremer Armut bis 2015 um die Hälfte auf 600 Millionen reduzieren wollen. Wie soll man 600 Millionen Menschen helfen, über die Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag zu kommen? Ein Weg wäre, die allgemeinen Rahmenbedingungen der armen Länder zu verbessern, was auch erklärtes Ziel der Bundesregierung ist: mehr Demokratie, mehr good governance, Entschuldung der hochverschuldeten Länder, Stabilisierung der Wirtschaft und mehr ausländische Direktinvestitionen, weniger Staatsausgaben für Militär und mehr für Gesundheit und Bildung. Der "Sicker-Effekt" aber zugunsten der Armen würde zu lange auf sich warten lassen, um das Ziel bis 2015 zu erreichen. Eine zweite sinnvolle Methode wäre, die Landstriche mit einem hohen Anteil an extrem Armen zu identifizieren, dort gezielt Brunnen und Bewässerungsanlagen, Schulen und Krankenstationen zu bauen und den Menschen zu helfen, die Land- und Viehwirtschaft zu verbessern. Eine dritte, sehr effektive Art der direkten Armutsbekämpfung wäre die Vergabe von Kleinkrediten, in Form von Sachgütern wie Saatgut oder Haustieren. Gerade in Afrika, wo die Armut eine "visage feminine" hat, ein weibliches Gesicht, wird sie fortgeschrieben, weil die Frauen keinen Zugang zu Kapital haben, um sich in anderen Berufen als der traditionellen Landwirtschaft zu versuchen.

Um also die Zahl der 1,2 Milliarden in absoluter Armut zu halbieren, müssten mindestens 600 Millionen Menschen ein Darlehen in Höhe von 200 Dollar erhalten, hat doch die Erfahrung mit Kleinkrediten gezeigt, dass man damit das Einkommen der extrem Armen über einen Dollar heben kann. Das wären insgesamt 120 Milliarden Dollar. Professor Winfried Pinger hat vorgerechnet, dass die derzeitigen finanziellen Leistungen Deutschlands im Rahmen der internationalen Gebergemeinschaft, die Quote der offiziellen weltweiten Entwicklungshilfe, bei acht Prozent liegen. Ausgehend davon müsste Deutschland für acht Prozent von 600 Millionen verantwortlich zeichnen - für 48 Millionen Menschen also, die "die Chance erhalten, durch deutsche Hilfe zur Selbsthilfe aus dem Elend herauszukommen". Wenn diese 48 Millionen über die nächsten zwölf Jahre einen Kredit über 200 Dollar erhalten sollen, wären dies rund 49,6 Milliarden - im Vergleich erheblich weniger, als der Westteil Deutschlands seinerzeit an Marshallplan-Geldern erhielt.

Über die zwölf verbliebenen Jahre bis 2015 verteilt, wäre dies keineswegs unmöglich zu finanzieren. Allerdings müssten gleichzeitig für die betroffenen Regionen Mittel für Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung, Umweltschutz und Infrastruktur bereit gestellt werden, ohne die die mit Kleinkrediten versorgten Armen langfristig auch nicht erfolgreich wirtschaften könnten. Zwar darf der rot-grünen Regierung bescheinigt werden, dass sie - anders als ihre CDU-geführte Vorgängerin, - immerhin den Entschuldungsprozess der ärmsten (HIPC)-Länder vorangetrieben hat, aber eine klare Schwerpunktsetzung in Richtung Halbierung der absoluten Armut ist bisher nicht erkennbar, auch wenn die Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Juni 2003 deren Dringlichkeit sehr wohl erkannt hat: "Sollten wir dieses Ziel nicht erreichen, setzen wir unsere eigene Sicherheit und unseren eigenen Wohlstand aufs Spiel."

Die Vereinten Nationen haben den Wert von Kleinkrediten für die Millenniumsziele erkannt und 2005 als "Internationales Jahr des Kleinkredits" ausgerufen.

Kurt Bangert ist Leiter des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit und Anwaltschaft bei World Vision Deutschland e. V.


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