Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
Katharina Hofer

Afrika im hektischen Missionsfieber

Die Nord-Süd-Wanderung des Christentums
Der Boom an neuen Kirchengründungen in Afrika südlich der Sahara kann keinem internationalen Beobachter mehr entgehen. Schilder, die auf Segnungs-, Heilungs- oder Erlösergottesdienste verweisen, prägen fast überall das Bild der Großstädte. An den Ausfallstraßen der afrikanischen Metropolen reihen sich Plakate von einheimischen und ausländischen Evangelisten, die zu Seminaren oder so genannten "crusades" einladen. Die Veranstaltungen sind gut besucht, und die oft spärlich eingerichteten Gotteshäuser und Kirchenzelte platzen nicht selten aus den Nähten.

Manche Beobachter werten diese Entwicklung als Wiedererweckung des unabhängigen afrikanischen Christentums, andere konstatieren dagegen einen Zuwachs vor allem an jenen, dem amerikanischen Evangelikalismus entsprungenen Kirchen, die eine Mischung aus endzeitlicher Erlösertheologie, charismatischer Wunderheilung und Bibelfundamentalismus predigen. Folgt man dem britischen Missionsforscher David Barrett, sind es die aus der US-evangelikalen Bewegung hervorgegangenen Kirchengemeinden, die das stärkste Wachstum verzeichnen. Die Gruppe der Great Commission Christians, jene, die das göttliche Mandat zur Evangelisierung der Menschheit vor der baldigen Wiederkunft Christi für sich beanspruchen, schätzt der anglikanische Pastor und Historiker auf 647,8 Millionen Menschen weltweit. Er prognostiziert für diese Gruppe auch das stärkste Wachstum: Über die nächsten zwei Dekaden soll sie um weitere 240 Millionen wachsen. Den größten Anteil an den Great Commission Christians haben laut Barrett die Pfingstler beziehungsweise Pentecostalen, die er auf 523,7 Millionen schätzt, wobei nicht alle Pfingstler als Evangelikale erfasst sind. Auch charismatische Erneuerungsbewegungen innerhalb der katholischen und protestantischen Amtskirchen sind teilweise dem evangelikalen Spektrum zuzuordnen.

Der Missionseifer der Great Commission Christians drückt sich neben einer großen Spendenbereitschaft in der Gründung zahlreicher in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Nicht-Regierungsorganisationen aus. Das Budget der großen evangelikalen NGOs ist beträchtlich: so übertrafen in den USA (2001) evangelikale Hilfsorganisationen wie World Vision mit ihrem Jahresbudget (525 Millionen Dollar) oder Feed the Children (461 Millionen Dollar) die großen Hilfsorganisationen der Amtskirchen Catholic Relief Service (334 Millionen), United Methodist Committee on Relief (71 Millionen) und Lutheran World Relief (32 Millionen). Der Trend ist für die evangelikalen Organisationen vor allem seit den 90ern positiv verlaufen, während das Wachstum anderer etablierter christlicher Organisationen oft stagniert oder rückläufig ist. Die Hilfsgelder stammen überwiegend aus westlichen Industrieländern, wobei allein die USA einen Anteil von mehr als 50 Prozent haben. Zum Großteil sind es private Spenden, doch auch die öffentliche Zuwendung ist seit den 80er-Jahren gestiegen.

Während der Westen die evangelikale Missionsbewegung in finanzieller Hinsicht dominiert, hat sich das Christentum zahlenmäßig in den vergangenen Dekaden von Nord nach Süd verschoben. Noch vor gut 100 Jahren lebten 77 Prozent der Christen in Europa und Nordamerika. Heute liegt der Anteil der Europäer und Nordamerikaner an den zwei Milliarden Christen noch bei 37 Prozent, und er wird in den nächsten 25 Jahren die 30-Prozent-Marke unterschreiten.

Bei den Evangelikalen ist die Divergenz am deutlichsten. Bereits heute leben über 70 Prozent von ihnen jenseits der industrialisierten Welt. Entsprechend hat sich der Begriff der "majority church" etabliert, der die Kirche außerhalb des politischen Westens als Mehrheitskirche ausweist. Dieses Zahlenverhältnis schlägt sich auch in der Mission nieder. Nach offiziellen Angaben sind afrikanische Missionare nicht zahlreicher geworden, da sie nur dann in Statistiken erscheinen, wenn sie bei einer westlichen Missionsagentur unter Vertrag stehen. Die Zahl der aus den Industrieländern in Entwicklungsländer entsandten Missionare ist aber seit vielen Jahren rückläufig.

Angesichts dieser Verschiebungen beobachtete Paul Gifford, Dozent an der School of Oriental and African Studies in London, Anfang der 90er ein Phänomen, eine "Amalgamation": die formale Unabhängigkeit vieler afrikanischer Kirchen von westlichen Missionsagenturen wird teilweise dadurch aufgehoben, dass praktisch alle Kirchengründer auf finanzielle Unterstützung aus dem Westen angewiesen sind. Häufig werden kleinere Gemeinden von größeren Kirchen adoptiert, die in etablierte evangelikale Netzwerke integriert sind. Die unabhängigen Pfingstkirchen, die vor allem im südlichen Afrika, aber auch in Ländern wie Kenia, Nigeria oder Ghana eine lange Tradition haben, sind vom US-Evangelikalismus zwar wenig tangiert, klagen aber über schwindende Mitgliederzahlen. Unabhängigkeit bedeutet schließlich Verzicht auf finanzielle Unterstützung. Dies gilt ebenso für den Wohlfahrtssektor, in dem lokale Organisationen um die Unterstützung größerer ausländischer NGOs und Entwicklungsagenturen konkurrieren.

Was verbirgt sich - abgesehen von der Missionstätigkeit - hinter dem Begriff des Evangelikalismus? Historisch gesehen handelt sich um eine konfessionsübergreifende Bewegung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts unter Protestanten in Großbritannien und den USA ausbreitete. Der Evangelikalismus ist ebenso wie das Pfingstkirchentum institutionell und theologisch vielschichtig. Dennoch kann man seit Ende der 70er-Jahre einen zunehmenden Einfluss konservativer Gruppen registrieren, von denen viele dem Christlichen Fundamentalismus zuzuordnen sind.

Der Bibelfundamentalismus ist in gewisser Hinsicht auch im frühen Pfingstkirchentum mit seiner wortgetreuen Adaption der biblischen Charismen angelegt. Typischerweise wird der Christliche Fundamentalismus jedoch mit dem Millenniarismus in Verbindung gebracht, der von einem biblisch prophezeiten christlichen Zeitalter ausgeht, in dem von Gott berufene Christen die Weltherrschaft übernehmen, um die Wiederkunft Christi vorzubereiten. Doch auch in weniger prägnanter Weise findet sich im afrikanischen Neo-Pentecostalismus die sozial-rekonstruktivistische Lehre des Fundamentalismus wieder: Entsprechend der patriarchal geprägten Welt der hebräischen Bibel wird die uneingeschränkte Unterwerfung unter weltliche und religiöse Autorität gepredigt und die Suche nach Individualität und Heilung im spirituellen Bereich verankert.

Hier klinkt sich auch der im sub-saharischen Afrika weit verbreitete Prosperity Gospel ein, der auf die Sicherung materiellen Zugewinns durch Loyalität zur Gottheit fokussiert, wobei die Loyalitätsbekundung nicht selten ihrerseits materielle Gestalt annehmen und an mittelalterlichen Ablasshandel erinnern. Die sozialen Sicherungsmechanismen des modernen Wohlfahrtsstaates werden als kontraproduktiv bewertet, unterminieren sie doch "von Gott gegebene" hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse. Der Fügsamkeit gegenüber politischen Autoritäten steht ein Misstrauen dem Staat in seinen gesellschaftsordnenden Funktionen gegenüber. Bemerkenswert ist hier der Umstand, dass sich viele afrikanische Staatsmänner und Spitzenpolitiker zum evangelikalen Christentum bekennen. In jenen Ländern, in denen politisch pluralistische Systeme nicht oder nur pro forma eingeführt wurden, haben sich evangelikale Kirchenführer selten unter den Reformern befunden. Die protektivistische Haltung der evangelikalen Bewegung wurde etwa in Kenia sehr deutlich, als der evangelikale Dachverband die Einparteienherrschaft des ehemaligen Präsidenten Moi gegen die von der anglikanischen und katholischen Kirche unterstützte Gruppe der Reformer verteidigte. Ähnliche Allianzen waren oder sind auch in Liberia, Zambia, Nigeria und Uganda zu beobachten.

Angesichts einer auf Rohstoffsicherung ausgerichteten Wirtschaftspolitik der USA gegenüber Afrika kann die finanzielle Vorherrschaft der Amerikaner in der internationalen evangelikalen Bewegung durchaus als Ergebnis einer geostrategischen Allianz religiöser und wirtschaftspolitischer Akteure gedeutet werden. Dennoch würde es zu kurz greifen, wenn man diese Partnerschaft als Teil einer kalkulierten Politik beschreiben würde, die darauf abzielt, finanzielle Abhängigkeiten auszunutzen, um das afrikanische Christentum im Sinne amerikanischer Interessen zu manipulieren. Vielmehr sind die Beziehungen innerhalb der evangelikalen Bewegung von Wechselseitigkeit geprägt. So treffen die Glaubenssätze des Christlichen Fundamentalismus in Teilen der afrikanischen Bevölkerung durchaus auf Widerhall.

In Kenia hat sich zum Beispiel auf Initiative profilierter Anwälte ein Verein gegründet, der das Rechtssystem an biblische Rechtsgrundsätze anpassen möchte. Nach ihrer Vorstellung würde eine biblisch inspirierte Gesetzgebung illegalen Geschäftspraktiken und Korruption nachhaltiger entgegenwirken als das von fehlbaren Menschen geschaffene kenianische Zivilrecht. Neben ihrer politischen Lobbyarbeit dient die Anwaltsvereinigung auch der Pflege lokaler Netzwerke sowohl innerhalb der Rechtsbranche als auch auf dem religiösen Markt. Klienten, die sich entsprechend der Vereinscharta zum "Großen Auftrag" berufen fühlen, können kostenlose Rechtsberatung erhalten - ein Service, der in Kenia keine Selbstverständlichkeit ist. Auch bei der Gesundheitsversorgung und Bildung kann sich die Mitgliedschaft in einer evangelikalen Kirche auszahlen. Vor allem im Bildungssektor sind solche Organisationen im Zuge der Privatisierung staatlicher Einrichtungen gut vertreten. Mittlerweile sind auch zahlreiche Universitäten in Partnerschaft mit evangelikalen Universitäten in USA errichtet worden, die gemeinsame Stipendien- und Austauschprogramme unterhalten.

Der Evangelikalismus mag in mehrfacher Hinsicht paradox wirken: Zum einen entwirft er das exklusive und hierarchische Konzept einer Kaste von Auserwählten, die die irdischen Dinge bis zum nahenden jüngsten Gericht regeln sollen. Zum anderen ist jeder in dieser Gruppe willkommen, der sich mit dem Konzept anfreunden kann und bereit ist, sich zu integrieren. Einerseits impliziert der fundamentalistische Sozial-Rekonstruktivismus eine völlige Unterordnung unter bestehende Machtstrukturen, andererseits versucht die Bewegung durch außerparlamentarische Lobbyarbeit auf eben diese Strukturen einzuwirken. Sie steht staatlichen Einrichtungen äußerst misstrauisch gegenüber, bemüht sich dennoch, diese als wichtige Ressource für sich zu nutzen.

Schließlich wird die Sicherung von Wohlstand und Wachstum von Anhängern der Bewegung im spirituellen Bereich verankert. Gleichzeitig entfalten sie ein stark expandierendes privates Unternehmertum. Widersprüchlich scheint dies vor allem aus dem Blickwinkel eines europäischen Säkularismus, der eine Trennung von Religion und Politik entlang privater und öffentlicher Räume auch über den rein institutionellen Bereich hinaus propagiert. Ein solches Säkularismuskonzept ist in Afrika in der Tat ein Import nicht des westlichen, sondern speziell des europäischen Imperialismus - und es hat sich deshalb nur oberflächlich etablieren können. In vielen Bereichen des Lebens mag das US-Christentum dem afrikanischen näher sein, als es das europäische je war.

Katharina Hofer ist Doktorandin im Fach Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg.


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