Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
Sonja Hegasy

Die Generation Mohammed VI.

Modernes Marokko: Reformen ja - aber von oben
"Danke, Majestät", titelte im vergangenen Jahr die oppositionelle marokkanische Wochenzeitschrift "TelQuel". Auf dem Titelbild sieht man den König lässig mit Sonnenbrille, Jeans und schwarzer Lederjacke. Nein, ganz so royalistisch war die sonst so freche Redaktion doch nicht und fügte ein Fragezeichen hinzu. Worum ging es? Im März 2003 waren neun Mitglieder der Heavy-Metal Bands Nekros und Reborn sowie fünf ihrer Anhänger zu Haftstrafen bis zu einem Jahr verurteilt worden mit der Begründung, die öffentliche Ordnung zu stören und einem Satanskult anzuhängen.

Dabei hatten sie nichts anderes gemacht als das, was Jugendliche weltweit tun: schwarze T-Shirts anziehen und in dunklen Kellern Heavy Metal spielen. Ihre Fans gingen auf die Barrikaden. Sie stellten Petitionen ins Netz und organisierten Sit-ins vor dem Gericht in Casablanca, zu denen 4.000 bis 5.000 Menschen kamen. Nur vier Wochen später wurden elf der Angeklagten in zweiter Instanz freigesprochen; drei einjährige Haftstrafen wurden auf 45 Tage reduziert. "TelQuel" geht davon aus, dass Mohammed VI. die Annullierung der Urteile aus erster Instanz hinter den Kulissen veranlasste. Daher bedankte sich die Redaktion auf der Titelseite bei ihm.

In Ägypten hatte es Ende der 90er-Jahre einen ähnlichen Fall gegeben, denn der Kampf mit den Islamisten wird in erster Linie auf dem kulturellen Feld ausgefochten. 80 "westlich" gekleidete Jugendliche lan-deten damals in Untersuchungshaft. Man warf ihnen Satanskult vor, damit Apostasie - worauf die Todesstrafe steht - ein Tatbestand, den es in der marokkanischen Rechtsprechung nicht gibt. "Globalisierte Jugendkultur versus islamistische Monokultur" könnte man diese Auseinandersetzung nennen. Mohammed VI. will sich eindeutig auf Seiten der globalisierten Jugend sehen. Sein Eingreifen fördert zwar nicht die Unabhängigkeit der Justiz, bringt Marokko aber auf dem Weg der Bürgerfreiheiten und des Pluralismus voran. Das Gebaren des jungen Königs seit seiner Thronbesteigung: Reformen ja, aber von oben. Öffnung ja, aber durch ihn. Dezentralisierung ja, aber gesteuert vom "makhzen", dem Zentrum des Staatsapparates.

Die heute unter 40-jährigen Marokkaner kannten bis zu seinem Tod 1999 nur die Herrschaft Hassans II. Insbesondere junge Menschen, inzwischen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, sympathisieren mit seinem 1963 geborenen Nachfolger. Er ist nicht so unnahbar wie sein Vater. Offiziell sind Kniefall und Handkuss abgeschafft. 1994 veröffentlichte der ehemalige Praktikant von Jacques Delors seine Dissertation zum Thema "La Coopération entre l'Union Européenne et les pays du Maghreb." Seine Hochzeit mit einer berufstätigen Informatikerin aus dem Mittelstand sorgte für Aufsehen. Entgegen allen Traditionen stellte er seine Frau der Öffentlichkeit vor. Neuere Zeitungsfotos zeigen ihn betend im Anzug, statt im traditionellen Gewand. Und er fördert Sport und Popkultur. So gibt es seit zwei Jahren das renommierte, internationale Musikfestival Mawazine, das bei freiem Eintritt in den Parks von Rabat stattfindet. Höhepunkt des Festivals war im vergangenen Jahr der Auftritt der Band RAÏ-X, die maghrebinischen Raï mit Salsa mischt. Der Boulevard des Jeunes Musiciens in Casablanca präsentiert junge marokkanische Rap, Hip Hop, Rock und Heavy Metal Bands. Aus allen Teilen des Landes kommen Bands wie Tora Bora, Blad Bomb, Kif Kif oder die beiden Anfang 2003 Verurteilten zusammen. Sie singen in marokkanischem Dialekt gegen den gesellschaftlichen "Hyperkonformismus". Mit provozierenden Texten wie "Sag mir, wo die Reichtümer des Landes sind/Sag mir, wer seinen Besitz gestohlen hat/Deine Antwort findest Du bei einem Journalisten, dem man seinen Broterwerb weggenommen hat/Wegen seiner Ideen, seinem Blatt Papier und seinem Stift/Sie haben ihm eine rote Linie aufgezeichnet und ihm gesagt: Aufgepasst, nicht überschreiten", rast die Gruppe Kif Kif über einen Aufruf der Islamisten, Mohammed VI. solle die Auslandsgelder der Monarchie repatriieren und über den Hunger streikenden Journalisten Ali Lmrabet. 7.000 Jugendliche haben das Festival der Untergrundmusik mit 36 marokkanischen und vier europäischen Bands im Sommer 2003 besucht. Fusion Bands präsentierten einen Mix aus klassischen Rhythmen und globaler Musikkultur. Der Pluralismus wird aber nicht nur in der Kultur gefördert. Zum ersten Mal erkennt mit Mohammed VI. ein marokkanischer König die berberische Kultur und Sprache als zentrales Element der nationalen Identität des Landes an. In seiner Thronrede vom 30. Juli 2001 kündigte er die Gründung eines königlichen Instituts für Berberkultur an, "besorgt, die Säulen, auf denen unsere historische Identität beruht, zu konsolidieren, und um unserer Berberkultur, die einen nationalen Reichtum darstellt, sowohl einen neuen Impuls als auch die Mittel zu geben, ihre Kultur zu bewahren und zu entwickeln, haben wir die Gründung eines königlichen Instituts für Berberkultur beschlossen". Damit können Berberdialekte nun auch in Schulen unterrichtet werden; eine Forderung, die in Algerien lange ignoriert wurde.

Mohammed VI. nennt drei Bereiche, die Schwerpunkt seiner Herrschaft sein sollen: Armutsbekämpfung, Durchsetzung eines Rechtstaats und Gleichberechtigung der Frau. Als Reaktion auf die französische Kolonisation wurde nach der Unabhängigkeit (1956) als erstes ein einheitliches Ehe- und Familienrecht entworfen. Zum einen sollten dadurch die konservativ-patriarchalen Kräfte zufrieden gestellt werden; zum anderen sollte die unwandelbare Identität der Frau für Kontinuität in der muslimischen Gesellschaft sorgen.

Die marokkanische Familienstandsgesetzgebung be-zieht sich ausdrücklich auf die klassischen Quellen is-lamischer Rechtssprechung (Koran, Vorbild des Pro-pheten, Analogieschluss und Konsens der Gelehrten). Demnach ist der Ehemann wie im römischen Recht pater familias und die Ehefrau untertan. Seit der Unabhängigkeit Marokkos kritisiert die Frauenrechtsbewegung, dass der Abhängigenstatus von Frauen rechtlich festgeschrieben ist. Aufgrund ihrer Teilnahme am Unabhängigkeitskampf hatten sie eine rechtliche Gleichstellung erwartet. In einem Vergleich von vier verschiedenen Familiengesetzen im Maghreb bezeichnet der Jurist und Islamwissenschaftler Hans-Georg Ebert die Diskussion um die Familien-standsgesetzgebung in maghrebinischen Ländern als "sensiblen Gradmesser" für die Interaktion zwischen Staat und Bürgern.

Insbesondere mit Blick auf die staatliche Frauenförderpolitik kann Mohammed VI. Erfolge vorweisen. Über eine vor den letzten Wahlen eingeführte Quote sind seit September 2002 mehr als 30 Frauen im Parlament vertreten. Die Parlamentswahlen endeten jedoch auch mit einer weiteren Überraschung: Die gemäßigt islamistische Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) verdreifachte ihre Sitze auf 42, darunter vier Frauen, und ist stärkste Oppositionskraft.

Zur Eröffnung des Parlaments im Oktober 2003 hielt Mohammed VI. eine mutige Rede, in der er die Reform des Familienrechts gegen starke Proteste islamistischer Kreise wieder auf die Tagesordnung setzte. Aber diesmal mit konkreten Vorschlägen, die für die islamische Welt revolutionär sind: Frauen brauchen keinen Vormund mehr, um zu heiraten. Das Mindestheiratsalter wird von 15 auf 18 Jahre hinauf gesetzt. Auch Frauen dürfen künftig die Scheidung einreichen. Sogar die Polygamie wurde vom König eingeschränkt, obwohl Feministinnen diesen Punkt bisher ignorierten, da sie gar kein gesellschaftliches Phänomen mehr ist. Zu häufig hatte die Forderung nach Abschaffung der Polygamie die Islamisten auf den Plan gerufen und so wichtigere Reformideen blockiert. Sie stilisieren die Polygamie trotz der Tatsache, dass sie in vielen arabischen Staaten heute verpönt ist, zu einem Kernelement "klassisch"-patriarchaler islamischer Identität.

Man kann das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen in Marokko als schleppend beschreiben. Man kann es genauso gut als schrittweise bezeichnen. Unter Politikwissenschaftlern gibt es eine auffällige Inkonsistenz bei der Beurteilung von Demokratisierungs- beziehungsweise Modernisierungsfortschritten des Landes: So meinte 1999 Remy Leveau, einer der bekanntesten französischen Experten, dass der königliche Handkuss Marokkos Politik behindere. Die Tatsache, dass Mohammed VI. als eine der ersten Amtshandlungen diese Hofetikette abschaffte - auch wenn es weiterhin Personen gibt, die ihm so ihre Ehrerbietung erweisen wollen - hat dagegen wenig Beachtung gefunden. Die amerikanische Ethnologin Susan Slyomovics erklärte 2001, Mohammed VI. habe seinen Vater nie öffentlich kritisiert. Was aber war die Thematisierung von Rechtsstaat und Menschenrechten in seiner ersten Thronrede sieben Tage nach dem Tod von Hassan II. - während der sakrosankten 40 Tage Trauerzeit - anderes als massive Kritik am Vater?

"Refolution" taufte der englische Historiker Timothy G. Ash die Kombination von Revolution und Reformation Ende der 80er-Jahre in der DDR. Für einen Teil der marokkanischen Jugend repräsentiert Mohammed VI. ihre Hoffnungen auf einen gesellschaftlich-politischen Umbruch.

Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin.


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