Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 / 26.04.2004
Faruk Sen

Noch draußen vor der Tür - aber ist sie offen?

Der lange und schwierige Weg der Türkei nach Europa
Die Debatte um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei ist nicht vom Himmel gefallen. Sie hat auch viel tiefere Wurzeln als das Assoziierungsabkommen von 1961. Die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei sowie der gegenseitige kulturelle Austausch sind seit Jahrhunderten ausgeprägt. Während das europäische Geistesleben nach der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 unzählige Impulse aus der osmanischen Kultur empfing, bewegt sich seit dem 19. Jahrhundert die Türkei kontinuierlich auf Europa zu, indem sie westliche Gesellschaftsentwürfe zum Leitbild der Modernisierung von Staat und Wirtschaft machte.

Der Einfluss europäischen Denkens auf die Türkei wird von den Europäern vielfach unterschätzt. Tatsächlich befand sich die Türkei im ganzen 20. Jahrhundert auf dem Weg nach Europa. Die staatlichen Strukturen in der Türkei - parlamentarisch-repräsentative Demokratie, Rechtssystem, Verwaltung - sind im Gegensatz zu allen anderen muslimisch geprägten Staaten weitgehend von europäischen Vorbildern durchdrungen. Damit stellte und stellt sich für das Land zwangsläufig die Frage nach einem Beitritt zur Europäischen Union - und dies nicht erst seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten.

Dies bedeutet nicht, dass die Türkei schon in Europa angekommen wäre. Mit der Entscheidung des EU-Gipfels von Helsinki vom Dezember 1999, die Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union aufzunehmen, haben die europäischen Staaten aber dokumentiert, dass sie den Weg der Türkei nach Europa begrüßen. Damit ist die Frage der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa auch für die europäischen Staaten eigentlich beantwortet. Damit kann die politische Debatte um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union eine zielorientierte und pragmatische Richtung bekommen, die eines Tages hoffentlich zu einem größeren, wirtschaftlich und kulturell reicheren Europa führen könnte.

Die türkischen Regierungen unter Ecevit und später Erdogan haben in den letzten Jahren fundamentale Reformen im Bereich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht, die die Türkei tatsächlich nahe an die Schwelle zur EU-Reife geführt haben. Nach dem im Dezember gescheiterten EU-Verfassungsgipfel in Brüssel haben nun ganz andere Bedenken Nahrung erhalten, und diese betreffen eben nicht in erster Linie die Türkei, sondern die Union selbst: Vielleicht ist die EU der 25 bereits ein überdehntes, handlungsunfähiges Gebilde, das seine geographische Ausdehnung auf Kosten der Vertiefung der Integration betrieben hat?

Tatsächlich wären die Folgen eines türkischen Beitritts aber ziemlich überschaubar. Das am häufigsten vorgebrachte Argument ist das der Kosten. Alle finanziellen Probleme des Beitritts neuer Mitglieder zur Union sind primär Probleme der gemeinsamen Agrarpolitik - schlicht weil sie den mit weitem Abstand größten Posten im Unionshaushalt beansprucht. Alle Modellrechnungen zu dem Kosten des türkischen Beitritts stehen also unter der Prämisse, dass am bestehenden Preisstützungssystem, wie es ab Mitte 2004 gilt, nicht weiter gerüttelt wird. Sollte es jedoch - was zu erwarten ist - zu weiteren Reformen kommen, so würde auch die Mitgliedschaft der Türkei eher günstiger als heute prognostiziert. Das Zentrum für Türkeistudien (ZfT) hat in einer Modellrechnung ermittelt, wie hoch die Nettotransfers in die Türkei bei einem hypothetischen Beitritt im Jahr 2003 gewesen wären, also vor den ab 2004 wirksam werdenden, zaghaften Reformen. Die Türkei hätte 6,1 Milliarden Euro Netto-transfers von der EU erhalten - und damit hinter Spanien mit 7,4 Milliarden gelegen.

Auch wird die Freizügigkeit der Arbeitskräfte oft als Risiko eines türkischen Beitritts verstanden - zu Unrecht. Im Falle einer Vollmitgliedschaft der Türkei befürchten die EU-Staaten, die Freizügigkeit könnte ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosenzahlen in Europa nach sich ziehen. Tatsächlich - und die Türkei hat ihre Bereitschaft bereits signalisiert - würden aber lange Übergangsfristen vereinbart. Aber ob die überhaupt zwingend notwendig wären, ist fraglich. Bei einer Arbeitslosenquote von circa 24 Prozent unter den türkischen Erwerbsfähigen in der Bundesrepublik besteht kaum Spielraum für weitere Arbeitsmigration aus der Türkei. Wer sich im europäischen Binnenmarkt aber frei niederlassen will, muss innerhalb von drei Monaten einen Arbeitsplatz nachweisen.

Auch die Vertretung der Türkei in den europäischen Institutionen würde alles andere als einen politischen Erdrutsch bedeuten. Zur Zeit gibt es im Parlament acht Fraktionen mit 626 Europaabgeordneten. Im Falle einer Vollmitgliedschaft wäre die Türkei nach dem momentan geltenden Schlüssel, aufgrund ihrer 69 Millionen Einwohner, durch 74 Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten. Dies würde das politische Koordinatensystem so wenig verschieben wie die zusätzlichen 29 Stimmenanteile der Türkei zu den 345 Stimmen im Rat der EU der 25.

Der mittelfristige Beitritt der Türkei zur EU wird von zwei Dritteln der Deutschen unterstützt. Nach einer repräsentativen Befragung des ZfT vom Herbst 2003 unter 1.000 Deutschen machen 58 Prozent die Aufnahme der Türkei aber von der Erfüllung von Voraussetzungen abhängig. Für eine kurzfristige Aufnahme sprechen sich nur acht Prozent aus. Ein Drittel der Deutschen ist auch dann gegen die Aufnahme der Türkei, wenn sie die Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllt. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen von 85 Prozent möchte die Diskussion über den EU-Beitritt der Türkei nicht zum Wahlkampfthema gemacht sehen. Allerdings relativiert sich diese positive Haltung der Deutschen zum EU-Beitritt der Türkei, stellt man das Modell der Partnerschaft mit besonderen Privilegien, wie es seit Kurzem von der CDU vertreten wird, als Alternative daneben. Immerhin 57 Prozent bevorzugen auf Nachfrage zu beiden Optionen die Partnerschaft als den besseren Weg.

Argumente, die aus der Sicht der Deutschen für einen Beitritt sprechen, sind an erster Stelle mit 61 Prozent eine verbesserte Integration der Türken in Europa - eine bemerkenswerte Angabe; für 53 Prozent ist die geographische Zugehörigkeit der Türkei ein Argument für die Aufnahme, und 51 Prozent halten die Aufnahme der Türkei aus militärisch-strategischen Gründen für wichtig.

Das Argument, das nach Ansicht der Deutschen am stärksten gegen den Beitritt spricht, ist die von zwei Dritteln als mangelhaft eingestufte Menschenrechtslage und Demokratisierung. 60 Prozent sind der Meinung, die innenpolitische Lage der Türkei sei aufgrund der Gefahr von Extremismus und Fundamentalismus zu unsicher, fast ebenso viele sind der Ansicht, der Einfluss des Militärs sei zu hoch. Somit beziehen sich die Contra-Argumente in erster Linie auf die innenpolitische Situation der Türkei. Allerdings sehen auch 52 Prozent die Region als zu unsicher an. Darüber hinaus befürchten die Hälfte der Befragten wirtschaftliche Nachteile, 50 Prozent haben Angst vor einem Zustrom Arbeitssuchender nach Deutschland und 45 Prozent erwarten wirtschaftliche Nachteile durch zu hohe Kosten, die der Beitritt der Türkei verursachen würde.

Generell stößt die Erweiterung der EU auf eine breite Zustimmung unter den Deutschen, eine Beschränkung der EU auf die Kernstaaten befürwortet lediglich ein Drittel. Was ist aber nun das schlagende Argument für den Beitritt der Türkei aus europäischer Sicht? Es liegt in den aktuellen Verwerfungen im internationalen System. Es geht beim EU-Beitritt der Türkei um eine nicht weniger historische Entscheidung als die Überwindung der Ost-West-Teilung Europas. Die Konflikte des 21. Jahrhunderts, die viel beschworene Rivalität zwischen Kulturen und Religionen, finden ihr potenzielles Schlachtfeld auch auf dem europäischen Kontinent. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien könnten erste Vorboten gewesen sein. Die Einbeziehung der muslimisch geprägten Türkei in den europäischen Einigungsprozess würden weitere solcher Auseinandersetzungen im Keim ersticken, und dies bleibt das Hauptargument für den EU-Beitritt der Türkei.

Prof. Dr. Faruk Sen ist Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien in Essen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.