Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
Ulrich O. Weidner

"Rot-grüne Koalition vor 2006 ablösen"

55. Ordentlicher Parteitag der FDP vom 5. bis 6. Juni in Dresden
Die Liberalen möchten die derzeitige Koalition in Berlin baldmöglich ablösen: "Wir sind für vorgezogene Neuwahlen jederzeit bereit und dafür hervorragend aufgestellt", sagte FDP-Chef Westerwelle vor dem Parteitag in Dresden in einem Gespräch mit einer Nachrichtenagentur. Allerdings lehnte der Vorsitzende der Liberalen eine Koalitionsaussage zugunsten der Union ab, es gebe keinen Blankoscheck, weil es in vielen Sachfragen - etwa in der Steuer- und Gesundheitspolitik - sehr große Unterschiede gebe. Die FDP werde sich vielmehr als unabhängige Kraft und mit klaren Konzepten präsentieren.

Im Vorfeld des Parteitages hatte es zum Teil herbe Kritik vor allem an dem Vorsitzenden und der Generalsekretärin Cornelia Pieper gegeben. Aus dem Norden und dem Süden der Republik bemängelten Kritiker, die FDP zeige als Partei der Bürgerrechte zu wenig Profil. Und selbst die Spitzenkandidatin zur anstehenden Europawahl, Silvana Koch-Mehrin, kritisierte, man setze sich zu wenig für Konkurrenz in der Wirtschaft ein.

Mit einiger Spannung warteten viele der über 660 Delegierten in Dresden, wie die Partei mit dem Andenken an den früheren Stellvertreter Westerwelles, Jürgen Möllemann, umgeht. Die Eröffnung des Parteitages fiel genau auf den ersten Todestag des langjährigen FDP-Vorsitzenden von Nordrhein-Westfalen, Bundesministers und Vizekanzlers. Der Rheinland-Pfälzer Rainer Brüderle, stellvertretender Parteivorsitzender, würdigte in der traditionellen Totenehrung ausführlich das Wirken Möllemanns: "Bei allen Auseinandersetzungen der Vergangenheit hat sich Jürgen Möllemann unbestritten bleibende Verdienste für die Liberalen und für die Bundesrepublik Deutschland erworben", sagte Brüderle. Er sei mehr als drei Jahrzehnte Mitglied der FDP gewesen, habe Spitzenposten in der Partei bekleidet und dem Bundeskabinett angehört. Im Zuge der Auseinandersetzung um seine Wahlkampfführung 2002/2003 sei dann ein "schmerzhafter Trennungsprozess" erfolgt. Noch heute sind allerdings die genauen Umstände, die zum Tode des Politikers bei einem Fallschirmabsprung führten, nicht geklärt.

In seiner programmatischen Rede "Für die freie und faire Gesellschaft" ging Westerwelle sowohl auf innen- wie außenpolitische Themen ein. Vehement kritisierte der Parteichef die Folterungen der Amerikaner im Irak und die Vorgänge im Gefangenenlager Guantanamo. Die Bundesregierung forderte er auf, gegenüber China entschiedener in der Tibet-Frage aufzutreten. "Es gibt eine Pflicht zur Einmischung in innere Angelegenheiten der Menschenrechte." Der Erfolg des Kampfes gegen den Terrorismus müsse mehr Menschlichkeit sein. "Wer foltert, kann im Kampf gegen den Terrorismus nicht seine Rechtfertigung suchen. Wer foltert oder wer Folter veranlasst oder billigt oder duldet, ist kriminell." Allerdings gelte dies nicht exemplarisch für die USA.

Im innenpolitischen Teil seiner Rede betonte Westerwelle den Kurs der Unabhängigkeit gegenüber der Union. Die FDP wolle mit aller Kraft daran arbeiten, die rot-grüne Koalition durch Neuwahlen vor 2006 abzulösen: "Wir wollen regieren, weil Deutschland einen Neuanfang braucht." Zu seinen Kritikern gewandt, meinte Westerwelle: "Die FDP ist und bleibt die einzige liberale Rechtsstaatpartei Deutschlands." Gegenüber den rechtspolitischen Vorstellungen der CDU/CSU grenzte er sich scharf ab: Eine Sicherungshaft sei mit der FDP nicht zu machen. Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, wie sie in der Union erwogen werde, lehne man ab. "Wir brauchen keine neuen Steuererhöhungen. Wir brauchen Ausgabendisziplin."

Zum Thema Europa wiederholte Westerwelle die bekannten FDP-Positionen: Über die EU-Verfassung sollte eine Volksabstimmung erfolgen, die Kriterien des Euro-Stabilitätspaktes sollten im deutschen Grundgesetz und in der EU-Verfassung festgeschrieben werden. Zugleich sind die Liberalen gegen eine europaweite Mindeststeuer, wie sie von Bundeskanzler Schröder und dem CSU-Vorsitzenden Stoiber befürwortet wird. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erreiche man nicht, indem man andere Länder zu Steuererhöhungen veranlasse, meinte Westerwelle.

Radikal sind die Vorstellungen der Liberalen zum Umbau des Sozialstaates. Der Vorsitzende propagierte die Abschaffung der gesetzlichen Krankenkassen und eine völlige Wahlfreiheit bei der gesundheitlichen Vorsorge. Das bisherige umlagefinanzierte System soll durch frei wählbare und kalkulierte Tarife abgelöst werden. Damit würden Gesundheitskosten und Lohnzusatzkosten entkoppelt. Die Versicherungen sollen verpflichtet werden, eine Grundversorgung mit ausreichender Absicherung bei Krankeit anzubieten. Der Arbeitgeberzuschuss soll dann - wie bei Privatversicherten - mit dem Lohn oder Gehalt ausbezahlt werden.

Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Andreas Pinkwart erläuterte dies: Man setze mit diesem Versicherungsmodell auf Eigenverantwortung, Wahlfreiheit und Wettbewerb anstatt auf eine Zwangsversicherung. Nur dadurch könne man das Gesundheitssystem auf eine dauerhaft solide Grundlage stellen. Denn weder die rot-grüne Bürgerversicherung noch das Kopfpauschalen-Modell der Union würden den demographischen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft standhalten.

Auch zum Aufbau Ost will die FDP weitergehende Vorschläge machen. Ostdeutschland könne zum Vorbild für einen Umbau Gesamtdeutschlands werden; die neuen Bundesländer könnten wegen der hohen Flexibilität ihrer Bürger die Speerspitze des notwendigen Wandels werden. So fordert die FDP im Osten Sonderwirtschaftszonen, in denen Regelungen im Bau-, Tarif- und Arbeitsrecht befristet ausgesetzt werden. Zu weiteren Reformprojekten gehört für die Liberalen auch das Thema Studiengebühren - darüber und über den Aufbau Ost wird jetzt parteiintern in den Gremien gesprochen.

Traditionell zur Außenpolitik sprach der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Gerhardt. Zur transatlantischen Zusammenarbeit gebe es keine wirkliche Alternative, allerdings müsse auf beiden Seiten ein Umdenken einsetzen. Ein amerikanischer Präsident könne nicht allein über Krieg und Frieden entscheiden, dies sei Aufgabe der Vereinten Nationen. Gerhardt unterstützt die Bemühungen von Bundeskanzler Schröder um einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat. Ansonsten ist Gerhardt mit der deutschen Außenpolitik unzufrieden. Der Nahost-Friedensprozess komme nicht voran, von einer Afrika-Strategie könne keine Rede sein, Lateinamerika werde "stiefmütterlich behandelt" und die Asien-Politik werde der Bedeutung der Region nicht gerecht, sagte der Fraktionsvorsitzende. Deutschalnd habe sich außenpolitisch zwischen alle Stühle manövriert, eine außenpolitische Strategie sei nötig. Schließlich wünschte sich Gerhardt ein verstärktes deutsches Engagement im Irak, denn keine Seite könne ein Interesse daran haben, dass der Wiederaufbau scheitere, egal, wie man zum Krieg gestanden habe. Eine Entsendung deutscher Soldaten in den Irak lehnt die FDP aber strikt ab. Der Parteitag verabschiedete dann liberale Leitsätze zur Außenpolitik; darin wird auf eine stärkere, aber auch kritische transatlantische Kooperation gesetzt.

Eine geplante Debatte zur Innen- und Rechtspolitik fand aus Zeitgründen nicht statt, die Vorlagen wurden an den Bundesvorstand oder den nächsten Parteitag überwiesen. Gerade so strittige Themen wie Sterbehilfe, Haschischkonsum, großer Lauschangriff oder Einsatz verdeckter Ermittler stehen ebenso wie der Gesamtbereich Bildung noch auf der liberalen Agenda.

Für mehr Bürgernähe in Europa setzte sich die Spitzenkandidatin der FDP zur Europawahl, Silvana Koch-Mehrin, ein: "Wir fordern, dass die Menschen in Deutschland auch über die europäische Verfassung entscheiden dürfen." Denn die besten Politiker in Europa seien die Wähler selbst. "Wir wollen kein Europa der Staatsgipfel hinter verschlossenen Türen, sondern ein Europa der Bürger."

In einem folgten die Delegierten ihrer Parteiführung nicht. Die mit rund 13 Millionen Euro verschuldete Bundespartei sollte finanziell besser ausgestattet werden. Dazu sollte jeder Kreisverband die pro Mitglied abzuführende Grundumlage von 1,10 Euro im Monat auf 2,20 Euro verdoppeln. Die Satzungsänderung mußte mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen werden - am Ende fehlten nur wenige, aber entscheidende Stimmen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.