Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 / 05.07.2004
Jutta Witte

PCB-Problematik verschlafen?

Hessen I: Hiobsbotschaften aus der Gießener Uniklinik

Die Universitätsklinik in Gießen kommt aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Seit Frühjahr dieses Jahres häufen sich die Hiobsbotschaften aus dem Klinikum. Es geht um mutmaßlichen Abrechnungsbetrug, angebliche Patientenversuche ohne Einwilligung, Hygienemängel in den Operationssälen und eine durch polychloriertes Biphenylen (PCB) verseuchte Kinderklinik. "Wir sind ins Gerede gekommen", gibt der scheidende ärztliche Direktor, Klaus Knorpp, zu. Die Kritik an den nach Ansicht von SPD und Grünen "unhaltbaren Zuständen" zielt mittlerweile jedoch auch auf die hessische Landesregierung.

"Das Land Hessen hat seine eigene PCB-Richtlinie, aufgrund derer viele Einrichtungen anderer Träger saniert wurden, nicht ernst genommen", moniert der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Thomas Spies. Wie der hessische Wissenschaftsstaatssekretär Joachim-Felix Leonhard in einer Sondersitzung des Wissenschaftsausschusses einräumen musste, ist die PCB-Belastung der Kinderklinik zwar bereits seit Januar 1999 bekannt. Bis heute jedoch, erklärt der Staatssekretär, seien nur 1.600 von 4.000 Quadratmetern so saniert, dass eine langfristig akzeptable PCB-Konzentration von weniger als 300 Nanogramm erreicht wurde.

"Eine Grenzwertüberschreitung, die eine Sofortmaßnahme erforderlich machen würde", betont Leonhard dennoch, "liegt nicht vor". Die hessische PCB-Richtlinie sieht nach Auskunft der Experten aus dem Wissenschaftsministerium vor, dass die betroffenen Räume bei Überschreiten des kritischen Grenzwertes von 3.000 Nanogramm binnen drei Monaten saniert werden müssen, binnen zwei Jahren jedoch eine dauerhafte Senkung auf unter 300 Nanogramm erreicht werden muss. "Seit Januar 2001 befindet sich die Kinderklinik in Gießen in einem rechtswidrigen Zustand", folgert der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Frank Kaufmann. Die Verantwortung für das "Verschlafen der PCB-Problematik", trägt nach Ansicht von Spies die damalige Hausspitze unter FDP-Hochschulministerin Ruth Wagner. Aber auch die jetzige Landesregierung habe sich des Themas erst aufgrund des öffentlichen Drucks angenommen.

Die komplette PCB-Sanierung soll laut Leonhard erst 2006 vorgenommen werden, wenn die "wegen weiterer erheblicher Mängel" - unter anderem in der Entlüftung, im Brandschutz und in der Wärmedämmung - ohnehin marode Kinderklinik komplett renoviert werden soll. Auch die hygienisch-technischen Verhältnisse in anderen Klinikbereichen lassen offenbar zu wünschen übrig. Im vergangenen halben Jahr wurden sechs Operationssäle - vier in der Chirurgie und zwei im Hals-Nasen-Ohrenbereich - aus Hygienegründen geschlossen. Zwei OP in der Neurochirurgie sind nach Auskunft des hessischen Wissenschaftsministeriums ebenfalls sanierungsbedürftig. Der schon lange geplante Neubau der Hals-Nasen-Ohrenklinik wurde nach Auskunft Wissenschaftsstaatssekretärs wegen "des begrenzten Finanzrahmens" bis heute nicht realisiert.

"Das ist einfach ein Investitionsdefizit", fasst Klaus Knorpp das Problem zusammen. So wurde die Uniklinik in Gießen vom Land eher stiefmütterlich behandelt. Während nach Angaben Leonhards in den vergangenen 30 Jahren je rund 300 Millionen Euro in die Universitätsklinika Frankfurt und Marburg flossen, investierte das Land in Gießen nur rund 127 Millionen Euro. Immer wieder habe man im Aufsichtsrat auf den kritischen Zustand der Klinik hingewiesen und um finanzielle Mittel "für Mindestmaßnahmen" gebeten, sagt der Klinikdirektor. Neben der mageren Haushaltslage sieht Knorpp auch in der ab 2006 geplanten Fusion der Unikliniken Gießen und Marburg einen Verzögerungsfaktor. Noch immer lässt das Wissenschaftsministerium offen, wie die Aufgaben zwischen beiden Kliniken verteilt werden sollen, nach Einschätzung von Thomas Spies ein Grund mehr, der zur Verunsicherung unter den Mitarbeitern beiträgt. "Das dilettantische Vorgehen der Landesregierung beim Thema Fusion hat in Gießen ein Klima der Angst erzeugt", glaubt der gesundheitspolitische Sprecher der SPD.

Verschärft wird die angespannte Atmosphäre durch zwei Ermittlungsverfahren, die sich um den Leiter des Zentrums für Chirurgie, Anästhesiologie und Urologie drehen. Der 64-Jährige soll mit falschen Abrechnungen private Krankenkassen um mehrere Millionen Euro betrogen haben: "Wir prüfen, ob er abrechnen durfte, wie er es getan hat, obwohl er bei den Operationen nicht zugegen war", erklärt der Leitende Oberstaatsanwalt in Gießen, Volker Kramer. Doch nicht nur der mutmaßliche Betrug beschäftigt Kramer und seine mittlerweile siebenköpfige Ermittlungsgruppe. Ein weiteres Verfahren soll klären, ob der Chefanästhesist und einige seiner ehemaligen Mitarbeiter im Rahmen von wissenschaftlichen Versuchen Patienten ohne deren Wissen Medikamente - zum Beispiel eine größere Menge des Blutverdünnungsmittels Heparin als notwendig - verabreicht und körperliche Eingriffe wie das Legen eines Lungenkatheters ohne medizinische Indikation vorgenommen haben.

Wie beim mutmaßlichen Abrechnungsbetrug stammt die Anzeige, die zu bundesweiten Durchsuchungen in Kliniken, Arztpraxen und Wohnhäusern geführt hat, aus der Ärzteschaft. Doch die Ermittlungen, die sich laut Kramer in zwei Fällen sogar um den Verdacht auf Körperverletzung mit Todesfolge drehen, sind äußerst kompliziert. "Wir müßten an die Patienten selbst herankommen", sagt Kramer. Möglicherweise ende das Ganze als medizinischer Streit. Denn der Nachweis, ob es wirklich zu unnötigen Eingriffen gekommen ist oder der Vorwurf vielleicht nur Folge von Grabenkämpfen unter verfeindeten Medizinern ist, bleibt schwierig. Die Suspendierung des Mediziners wurde vom Verwaltungsgericht Gießen in der Zwischenzeit aufgehoben mit dem Hinweis, es gebe keinen "begründeten Verdacht".

Wie lange die Ermittlungen dauern werden, kann die Staatsanwaltschaft derzeit nicht prognostizieren. Die anderen Probleme hat das hessische Wissenschaftsministerium nun auf seiner Prioritätenliste nach oben geschoben. Über einen Kredit soll die Uniklinik zunächst die Renovierung der betroffenen Operationssäle zwischenfinanzieren. Das Geld soll nach Einstellung der Mittel in den Haushalt 2005 vom Land zurück gezahlt werden. Auf eine verbindliche Zusage für den Beginn und die Finanzierung der vor einem Jahr beantragten Sanierung der Kinderklinik jedoch wartet die Gießener Uniklinik noch immer. "Was an Argumenten erforderlich ist", sagt Knorpp, "liegt dem Land vor." Das Klinikum habe offenbar noch eine "lange Leidenszeit" vor sich.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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