Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 / 05.07.2004
Oliver Heilwagen

Beim Formulieren einer Kleinen Fraktionsanfrage wird Politik konkret

Der soziale Tag: "Schüler helfen Leben" und spenden ihren Arbeitslohn für Altersgenossen auf dem Balkan

Guten Tag, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Mit Milch und Zucker?", fragt Felix Wille die Vorbeieilenden. Der 16-Jährige steht zwar erst wenige Minuten vor dem SPD-Bürgerbüro in Berlin-Charlottenburg, doch er spricht die Passanten schon so souverän an wie ein Routinier. Kaum haben sie ihre Tasse in Empfang genommen, legt Felix los: "Sie trinken Kaffee, der fair gehandelt wurde. Wir wollen damit das Prinzip Fair Trade vorstellen. Dabei werden Bauern in Entwicklungsländern anständige Erzeugerpreise gezahlt, die ihnen erlauben, ihre Familien zu ernähren und ihre Kinder zur Schule zu schicken. Bei uns finden sie einige fair gehandelte Produkte: Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade und Honig. Möchten Sie etwas probieren?" Viele Kaffeetrinker sind von seinem Vortrag beeindruckt und werfen einen prüfenden Blick auf die feilgebotenen Waren.

Das wortgewandte Auftreten des Zehntklässlers ist kein Zufall: Er ist Mitglied der AG Internationale Politik an der Berliner Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule. Die AG beteiligt sich am "Model United Nations", einer Simulation der Vereinten Nationen für Schüler. Sie spielen Sitzungen nach, etwa des UN-

Sicherheitsrats oder der Generalversammlung. Alle Debatten werden auf Englisch geführt, berichtet Felix: "Ich vertrete meist Kenia, beim Thema Gentechnologie war es Kanada." Auf diese Weise bereitet er sich auf seinen Wunschberuf vor: Später würde er gerne für eine internationale Organisation arbeiten - am liebsten bei der UNO.

Doch Felix ist weder Parteimitglied noch Dritte-Welt-Aktivist. Sein vierstündiges Gastspiel vor dem Wahlkreisbüro der SPD-Bundestagsabgeordneten Petra Merkel hat einen anderen Grund: Er nimmt am "Sozialen Tag" teil, der in diesem Jahr auf den 22. Juni fiel. Bei dieser Aktion, die alle zwei Jahre von der Initiative "Schüler Helfen Leben" organisiert wird, jobben Schüler einen Tag lang und spenden den Erlös für einen guten Zweck. Wie Lisa Konrad, die neben Felix Kaffee ausschenkt und Kekse reicht. Die 16-Jährige vom Erich-Fried-Gymnasium hat diesen Halbtagsjob über die Website der Initiative gefunden und ist begeistert: "Ich habe mir zwar etwas anderes vorgestellt, aber das hier ist interessanter, als Handzettel zu verteilen oder Büroarbeit zu machen."

Das Abräumen und Spülen leerer Tassen übernimmt Nico Nothnagel. Da er erst 13 Jahre alt ist, darf der Siebtklässler nur zwei Stunden lang arbeiten, doch er ist mit großem Elan bei der Sache: "Das macht mir Spaß, obwohl ich sonst nicht so fürs Abwaschen bin. Ich wollte einmal praktisch arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen, und finde es gut, dass mein Lohn gespendet wird." Ihre Arbeitgeberin für einen Tag, Petra Merkel, ist voller Lob für so viel Engagement: "Wie die Schüler das machen, ist einfach super!" Sieben Halbtagsjobs hat die Kultur- und Medienexpertin ihrer Fraktion im Haushaltsausschuss angeboten: "Ich wollte mehreren Jugendlichen ermöglichen, in die Politik hineinzuschnuppern. Dafür reichen vier Stunden aus."

Den Sprung in die Arbeitswelt macht sie ihren Schützlingen so angenehm wie möglich: Zum Auftakt gibt es ein zweites Frühstück mit belegten Brötchen. Mittags dürfen sie sich an Kaffee und Kuchen gütlich tun. Zum Abschied erhalten alle ein kleines Dankeschön samt Teilnehmerurkunde und der Einladung, Merkel in ihrem Bundestagsbüro zu besuchen. Für das Erinnerungsfoto zeigt sie einen Scheck vor: 260 Euro Arbeitslohn wird sie an "Schüler Helfen Leben" überweisen. "Ich glaube, dass es Jugendlichen in diesem Alter schwer fällt, zu einem Unbekannten zu gehen und für ihn zu arbeiten", erläutert sie ihre liebevolle Betreuung: "Dieses Wagnis muss man ihnen leicht machen."

Ein Wagnis, dem sich in diesem Jahr 220.000 Schüler aus 1.300 Schulen in fünf norddeutschen Bundesländern unterzogen haben. Sie alle wechseln am "Sozialen Tag" von den Schulbänken auf einen normalen Arbeitsplatz, um ihren Altersgenossen auf dem Balkan Gutes zu tun. Viele erledigen einfache Bürotätigkeiten; manche helfen aber auch in einem Laden aus oder schuften in einer Gärtnerei.

In jedem Fall legt der Arbeitgeber das Entgelt fest und lässt es "Schüler Helfen Leben" zukommen. Mit dem geschätzten Erlös von 3,5 Millionen Euro will der Verein Sommerschulen für benachteiligte Roma-Kinder in Bosnien aufbauen. Außerdem soll ein Bauernhof im rumänischen Boiu entstehen, auf dem arbeitslose Jugendliche in ökologischer Landwirtschaft ausgebildet werden. Eine eigens gegründete Stiftung, der die Hälfte des Kapitals zufließt, soll den kontinuierlichen Betrieb dieser Einrichtungen sichern.

Anders als in etablierten Wohlfahrtsverbänden gibt es bei "Schüler Helfen Leben" keine hauptamtlichen Funktionäre. Alle 200 Vereinsmitglieder sind selbst Schüler oder haben ihre Schullaufbahn vor kurzem abgeschlossen. Wie Bundeskoordinator Malte Marwedel, der im vergangenen Jahr sein Abitur ablegte und nun ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Entstanden sei die Initiative 1992 während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, erzählt Marwedel. Damals organisierten rheinland-pfälzische Schüler Hilfskonvois für Kroatien und die belagerte bosnische Hauptstadt Sarajewo. Die Region blieb ein Schwerpunkt der Vereinstätigkeit: Bislang hat er dort und im Kosovo mehr als 70 Schulen und Kindergärten errichtet.

Da die Mitgliederfluktuation des Vereins naturgemäß recht hoch ist, weil jeder irgendwann die Schule verlässt, wurde sein Sitz Ende der 90er-Jahre nach Neumünster in Schleswig-Holstein verlegt. In diesem Bundesland fand 1998 der erste "Soziale Tag" statt: 35.000 Schüler erarbeiteten 700.000 Euro, mit denen ein Jugendbegegnungshaus in Sarajewo finanziert wurde. In den Jahren 2000 und 2002 haben sich die Teilnehmerzahlen und Spendenerlöse vervielfacht.

Dennoch will "Schüler Helfen Leben" den "Sozialen Tag" nicht alljährlich ausrichten. "Wir legen großen Wert darauf, den Schülern zu zeigen, was aus ihrem Geld geworden ist", begründet Marwedel den bestehenden Zwei-Jahres-Rhythmus: Im jeweiligen Folgejahr besuche ein Informationsbus alle teilnehmenden Schulen. Zudem verteilt der Verein Broschüren an weitere Schulen, um sie zum Mitmachen zu ermuntern. Und das alles ehrenamtlich: Auch die fünf Bundeskoordinatoren erhalten nur 280 Euro Taschengeld pro Monat.

Mit fünf Euro pro Stunde muss sich Markus Howe begnügen. Dafür ist der 17-jährige Schüler des von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums bei der großen Politik zu Gast. Er begleitet am "Sozialen Tag" den entwicklungspolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Markus Löning. Arbeitgeber und -nehmer kennen sich bereits: Markus wohnt nicht nur im Bezirk Zehlendorf, dessen Abgeordneter Löning ist, sondern hat bei ihm auch schon ein Praktikum absolviert. Nichtsdestoweniger erfährt der Schüler bei seinem zweiten Besuch viel Neues: Nach der Begrüßung schaut er dem Parlamentarier über die Schulter, während der eine Kleine Fraktionsanfrage formuliert. "Das ist eine gute Methode, die Bundesregierung zu definitiven Aussagen zu zwingen, wenn man geschickt fragt", erklärt Lönings Mitarbeiter René Brosius den taktischen Sinn dieses politischen Manövers.

Dann steht ein Ausflug auf das diplomatische Parkett auf dem Programm. Markus begleitet Löning zu einem Hintergrundgespräch mit dem rumänischen Botschafter Adrian Vierita. Dort geht es um die Verhandlungen zum EU-Beitritt, um Städtepartnerschaften und Schüleraustausch. "Was macht eigentlich ein Botschafter an seinem Arbeitstag?", will Markus wissen. Vierita spricht von Presseauswertung und diplomatischer Korrespondenz, räumt dann aber lächelnd ein: "Die Hauptaufgabe eines Botschafters ist, zu repräsentieren."

Danach besichtigt Markus noch den Reichstag und nimmt an einer Sitzung der FDP-Arbeitsgruppe Familie teil: Für ihn hat sein "Sozialer Tag" Fortbildungscharakter. Das ist ganz im Sinne von "Schüler Helfen Leben". Von "Unterricht in anderer Form" spricht Koordinator Marwedel: "Unser Ziel ist, dass Schüler einmal hinter die Kulissen gucken können." So fassen es auch die meisten Arbeitgeber auf, die Schüler für einen Tag aufnehmen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.