Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Karl-Heinz Baum

In Lettland hat der Käse Zukunft

Schweizer, die auszogen gen Osten

Der Deutschlandkorrespondent der "Basler Zeitung" beschreibt, wie es Schweizern ergeht, die sich nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Reichs auf den Weg nach Mittelosteuropa machten, dort etwas aufzubauen versuchen oder aufgebaut haben. Benedikt Vogel ist auf den Spuren seiner Landsleute, die persönliches Glück und Fortkommen "ostwärts" suchen, in Ländern, die einst abgeschlossen waren und heute Europas Mitte sind.

Wenige Tage vor dem Beitritt einer ganzen Reihe mittelosteuropäischer Staaten zur EU wäre allein das Stoff für ein ganzes Buch: Warum sind sie gegangen? Warum ausgerechnet dahin? Wie erleben sie den Alltag? Wie kommen sie mit Einheimischen zurecht? Welche Vorbehalte müssen sie überwinden? Wie schlagen sie sich mit einer notgedrungen aus kommunistischer Zeit übernommenen Bürokratie herum? Wie werden Sie in der größeren EU leben?

Vogel versucht nicht nur darauf zu antworten. Auf seine Idee muss man erst einmal kommen. Er setzt ihre Erfahrungen mit denen jener Schweizer Vorfahren in Beziehung, die sich vor 80, 150 oder 400 Jahren schon einmal ostwärts aufmachten oder die es dahin verschlug, zu einer Zeit, als die Grenzen zwar mühselig zu passieren, aber viel offener als zur kommunistischen Zeit waren: nach Polen, Lettland, Estland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Litauen oder Slowenien. Mehr oder weniger gut sind jene Schweizer im Gedächtnis dort lebender Menschen geblieben. Ihre Lebenswege finden sich auch in historischen Untersuchungen. Nur die jetzt ostwärts zogen, wissen kaum etwas von Aktivitäten ihrer Vorfahren.

Vogel zieht Vergleiche, findet überraschende Parallelen. So merkt man allmählich, dass sich Lebenswege gleichen mit dem Unterschied, dass die der heutigen offen sind. Da könnte man meinen, Vogel wolle die alte Weisheit der Wissenschaftler belegen, jede neue Idee sei nur ein Mangel an Literaturkenntis. Vor Ort stößt der Autor auf alte Geschichten und Dokumente, die die alten Bilder und Vorstellungen erst abrunden.

Die Brüder Semadeni aus Poschiavo machten sich um 1825 ins Zarenreich auf, zu dem auch Polen gehörte. Sie begründen in Warschau die Kaffeehaustradition, werden angesehene Zuckerbäcker: Dank ihrer wird Warschau Zuckerbäckermetropole des Zarenreichs, ein Nachfahre der Semedenis 1875 gar erster Schweizer Konsul im immer noch russischen Warschau.

Bei Vogels Visite im vergangenen Jahr ist Kurt Scheller aus Luzern gerade dabei, eines der feinsten Restaurants in Polens Hauptstadt einzurichten, eines, das seinen Namen trägt wie einst das Kaffeehaus den der Semadenis. Scheller hatte schon die Welt gesehen, war nach der Kochlehre in London, Jamaika, Equador, Ägypten, Kuwait, bis es ihn als Chefkoch ins neue mondäne Warschauer "Bristol" verschlug, dann hatte er eine Kochakademie (unterm Dach). Nun will er das "Scheller" aufmachen.

Da ist der Thurgauer Lukas Lutz im lettischen Kazdanga. Der Molkereifachmann kam 1994 auf Anfrage nach Lettland als Fachmann für Kazdangas Molkerei. Nach einem Jahr wollte er heim. Doch er blieb, nicht aus Liebe zu den Leuten sondern "aus Trotz", erfährt Vogel. Sie wollten ihn rauswerfen, da machte er seine eigene Molkerei auf. Sie beschäftigt inzwischen 55 Leute und verarbeitet 20 Tonnen Milch am Tag. Ein Schweizer Molkerist ist auch Käsefachmann, kreiert nicht nur eigenen lettischen Johanniskäse, sondern Tilsiter und Gryere à la Lutz. Sein Motto: "In Lettland hat der Käse Zukunft."

Vor 200 Jahren gingen Käser aus dem Berner Oberland schon einmal ein paar Kilometer weiter ins zu Russland gehörende Estland. Sie glaubten, Milch billig kaufen und Käse teuer verkaufen zu können. Sie hatten schnell Geld verdienen wollen, blieben aber nicht selten ein Leben lang, Kinder und Enkel setzten das Werk fort.

Ob Liebe, Abenteurerlust, Freiheitsdrang, Lust an fremden Kulturen oder Unternehmergeist einst und heute - Vogels Reportagen sind ein kleiner Beitrag zur Verständigung zwischen dem westlichen Europa und dem Teil des Kontinents, der geografisch wirklich in der Mitte liegt. "Vielleicht spielt am Ende der überholte Gegensatz zwischen West und Ost gar keine Rolle mehr" hofft Vogel. Der Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Karl-Heinz Baum

Benedikt Vogel

Ostwärts. Schweizer im neuen Europa.

Orell Füssli Verlag, Zürich 2004; 192 S., 26,- Euro


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