Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Frank R. Pfetsch

Konfliktlösung oder ewiger Unruheherd?

Der Abbau von Schlagbäumen zwischen den EU-Ländern gilt als friedenssichernd - auf dem Balkan waren dafür neue Mauern nötig / Von Frank R. Pfetsch
Territorien und ihre Umgrenzung gehören zu den ersten ursprünglichen Gütern, auf die sich Besitz-, Habgier- und Herrschaftsanspruch gerichtet und um die sich Stämme und Staaten gestritten haben. Politisch bedeutet das Streben nach Besitz von Land oder Meeresfläche beziehungsweise die Kontrolle über Territorien eine Vergrößerung von nationalstaatlicher Verfügung und damit von Macht. Mit der Ausbildung des territorialen Flächenstaates wurde das Territorium zur Basis zunächst dynastischer Herrschaft, dann ethnischer, kultureller oder völkischer Identität. Das völkerrechtliche Prinzip staatlicher Souveränität schützt diese territorial definierte Herrschaft und ist in beinahe allen Statuten internationaler Organisationen - vor allem der UN-Charta - festgeschrieben.

Der Drang, ein bestimmtes Land zu besitzen, hängt - neben dem nationalen Prestige - ab von Faktoren wie Fruchtbarkeit, Klima, Reichtum an Bodenschätzen, geostrategischer Lage, das heißt von der wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung für Dritte, etc. Insbesondere der Reichtum an Rohstoffen - oder allgemein an ökonomisch wichtigen Gütern - ist ein wichtiger Beweggrund für territoriale Eroberungen gewesen. Nationalismus und Imperialismus waren auf Territorien fixiert und haben Grenzen gezogen, um zwischen dem eigenen "wir" und dem fremden "anderen" ab- und auszugrenzen. Mit diesem Prozess nationalstaatlich-territorialer Abschottung ist ein internationaler, nichtstaatlicher Prozess der Weltmarktöffnung ("Globalisierung") parallel gelaufen. Das Handels- und Industriekapital hat Grenzen überschritten und nationale Schranken durchlässig gemacht. Damit sind zwei entgegengesetzte Kräfte am Werk: Sicherheitspolitische Abgrenzung staatlich-territorialer Souveränität einerseits, Durchlöcherung dieser Abgrenzung durch nichtstaatliche, wirtschaftliche Transfers bei Beibehaltung physischer Grenzen andererseits.

Bei Grenzkonflikten geht es im engeren Sinne um physische Land- oder Meeresgrenzen. Diese müssen bei gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht immer - und in neuerer Zeit immer weniger - Gegenstand erstrebter Veränderung sein. Während es im ersten (Iran - Irak) und im zweiten Golfkrieg (Irak - Kuwait) noch um solche territoriale Veränderungen benachbarter Staaten ging, war dies im zurückliegenden Irakkrieg (USA/Allianz - Irak) nicht Gegenstand der Auseinandersetzung. Vielmehr ging es um politische und ökonomische Kontrolle von Seiten der intervenierenden Staaten. Carl Schmitt schreibt im "Nomos der Erde" hierzu: "Der territoriale Boden-Status des gelenkten Staates wird nicht in der Weise verändert, dass sein Land in das Staatsgebiet des lenkenden Staates verwandelt wird. Wohl aber wird das Staatsgebiet in den spatialen Bereich des kontrollierenden Staates und dessen special interests, das heißt in seine Raumhoheit, einbezogen. … Die politische Kontrolle oder Herrschaft beruht hier auf Interventionen, während der territoriale Status quo garantiert bleibt."

Staatsgrenzen müssen also bei politischen Herrschaftsansprüchen nicht verändert werden. Die Sowjetunion hat die Grenzen ihrer Satellitenstaaten nicht verändert, und die USA haben ihre Einflusssphärenpolitik ohne territoriale Änderung ausgeübt. Wohl aber haben die Siegermächte des Ersten und des Zweiten Weltkriegs in den von ihnen beherrschten Gebieten willkürliche Veränderungen vorgenommen, die einen Großteil der kriegerischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären.

Daraus folgt in Bezug auf Grenzen, dass physische Grenzen weiterhin ein für den Erhalt und die Sicherheit nationaler Gesellschaften wichtiges Gut sind, dessen Wahrung nach wie vor als eine bedeutende Aufgabe staatlichen Regierungshandelns angesehen werden muss. Denn dort, wo von der Zentralregierung die Sicherheit nicht gewährleistet werden kann, zerfällt der Staat, und kleine Territorialfürsten (warlords) kontrollieren Teilgebiete wie in Somalia, Peru, im ehemaligen Afghanistan und in zahlreichen Ländern des afrikanischen Kontinents. Die staatlichen Grenzen zu sichern und die Integrität zu erhalten ist in solchen Fällen friedenserhaltend. Allerdings gilt dies nicht immer. Dort, wo der Wille zur Selbstbestimmung groß ist, kann die Aufgabe von Grenzen - die Separation - ein Heilmittel der Friedenssicherung sein. Die Teilung Pakistans, der Tschechoslowakei, Äthiopiens, ja selbst Jugoslawiens kann als friedenssichernd bewertet werden.

Die Geografie von Staaten entscheidet auch mit über die Bedrohung von außen: Mittellagen sind bedrohter als periphere Regionen, Staaten mit vielen angrenzenden Nachbarn zeigen ein höheres Konfliktpotential als Staaten ohne Grenzen, Insellagen sind sicherer als zentralkontinentale Lagen. Die Geografie entscheidet aber auch über die Reichweite von Beherrschbarkeit. Raum wird zum Konfliktfaktor; Luft, Meer und Land werden zur Interessensphäre erklärt und in außenpolitischen Doktrinen führender Mächte formuliert; sie bleiben keine geografisch neutralen Größen. So genannte "mental maps" grenzen Räume nach Interessensphären ab. Räume werden auch nach der Reichweite militärischer Mittel ausgemessen. Im Kalten Krieg haben die Supermächte stillschweigend ihre jeweilige Einflusssphäre anerkannt. Weder haben die USA in Ostdeutschland 1953, in Ungarn und Polen 1956, in Prag 1968 eingegriffen, noch die Sowjetunion in den zentralamerikanischen "Vorhof". Dort, wo dies dennoch versucht wurde (US-Aufklärungsversuche in Osteuropa, Raketenstationierung der Sowjetunion in Kuba), sind solche Versuche durch Drohung oder Gewalt zurückgeschlagen worden.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind immer wieder Konflikte um Grenzen und Territorien entstanden, ja es sind global gesehen die am meisten umstrittenen Güter der Nachkriegszeit gewesen. Im Vergleich zu anderen Streitgütern wie ethnische, religiöse oder regionale Autonomie, Ideologie, nationale und internationale Macht oder Ressourcen waren Territorium, Land- und See-Grenzen die am häufigsten umstrittenen Konfliktgegenstände in fast allen Kontinenten. Von den 661 Konflikten zwischen 1945 und 1995, die in der Heidelberger Datenbank Kosimo gespeichert und ausgewertet wurden, hatten exakt 223 unter anderem Grenzen zum Gegenstand. Allerdings besitzen solche Grenzkonflikte viel weniger Potenzial zur Gewaltsamkeit als zum Beispiel ideologische Auseinandersetzungen.

Plausibel scheint die Annahme, dass eine Vielzahl von Anrainerstaaten und damit einhergehend eine Vielzahl von Grenzen die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöht. Die empirische Überprüfung dieser These über alle beobachteten Fälle von Grenzkonflikten hinweg zeigt allerdings nur einen schwachen Zusammenhang. Die Folgerung: Grenzen sind somit nicht unbedingt Konflikt treibend; schon gar nicht müssen sie zu Gewaltkonflikten führen.

Nach der territorialen Eroberung und Besiedelung außerhalb Europas liegender Gebiete (Kolonialismus, Imperialismus) sind in neuerer Zeit die Meere wichtiger geworden, nicht nur als Schifffahrtswege oder wegen des Fischreichtums, sondern auch wegen der mineralischen Vorkommen. Die 1994 in Kraft getretene UN-Seerechtskonvention teilt das Meer in verschiedene Zonen auf: das Hoheitsgewässer von zwölf Seemeilen gehört zur Souveränität des Küstenstaates, eine Wirtschaftszone von 200 Seemeilen bleibt dem Küstenstaat zur Ausbeutung vorbehalten. Erst danach beginnt die "Freiheit" der Hohen See, das "gemeinsame Erbe der Menschheit" und der Bereich, der von der internationalen Meeresbodenbehörde für den Rohstoffabbau geregelt wird. Diese Konvention hat bei sich überlappenden Seegebieten in allen Kontinenten der Erde zu Konflikten zwischen Nachbarstaaten geführt. 15 solcher Meereskonflikte wurden gezählt, in Europa vor allem in der Nord- und Ostsee und in der Ägäis. Dort, wo sich die Grenzen benachbarter Länder überschneiden, drohen Konflikte um Fischereirechte, Bohrrechte oder am Seeboden befindliche Rohstoffe.

Konfliktlösung durch Bündnisse

Mit dem Funktionswandel des Staates in westlichen Gesellschaften haben Staatsgrenzen eine neue Qualität erhalten. Mit dem europäischen Integrationsmodell und durch moderne Kommunkationstechnologie sind Grenzen durchlässiger geworden. Der Wille zu europäischem Zusammenschluss hat auch dazu geführt, dass zahlreiche Territorial- beziehungsweise Grenzabkommen zwischen Deutschland und den Niederlanden (Grenzgebiete mit Elten, Tuddern und Dinxperlo), zwischen Deutschland und Frankreich (Saarland), zwischen Deutschland und Polen (Oder/Neiße), zwischen Belgien und den Niederlanden (um Baerle-Duc) abgeschlossen werden konnten, die entweder die Anerkennung jeweiliger Territorien oder einen Gebietsausgleich vorsahen. Die freiwillige Einbindung von Staaten in Regionalbündnisse ermöglichte die Einigung über Grenzen und Grenzverläufe. Auch das Ende des Ost-West-Konflikts hat die willkürlich durch Machtpolitik festgelegten Grenzen aufgehoben. Die deutsche Vereinigung, die friedliche Teilung der Tschechoslowakei, die Bildung unabhängiger Nationalstaaten aus der Verteilungsmasse des sowjetischen Imperiums und des Vielvölkerstaats Jugoslawiens wären ohne die Wende 1989 nicht möglich gewesen.

Grenzen können also beides sein: konfliktfördernd und friedensstiftend. Konflikte werden dort gefördert, wo nationale Souveränitätsrechte in Frage gestellt werden, wo Grenzen willkürlich von außen oktroyiert wurden oder wo Grenzen nicht eindeutig festgelegt sind. Friedensstiftend sind Grenzen häufig dann, wenn über sie im Einvernehmen beschlossen wurden, wie dies bei freiwilligen Zusammenschlüssen der Fall ist, und/oder wenn sie als Demarkation zwischen außen und innen, zwischen dem "wir" und dem "anderen" dienen, also identitäts- und friedensstiftend sind. Die Teilung zwischen der Slowakei und Tschechien kann als Beispiel für eine solche Demarkation dienen. Andere Fälle von Teilung sind allerdings kriegerisch verlaufen wie die zwischen Ost- und West-Pakistan oder zwischen Eritrea und Äthiopien. Die Einbindung von Staaten in einen größeren regionalen und organisatorischen Zusammenhang - dies lehrt die europäische Geschichte - kann Konflikte mildern oder gar lösen. Die Erweiterung der EU nach Osteuropa kann die zahlreichen Minoritätenkonflikte in diesem Raum überwinden helfen.

Professor Frank R. Pfetsch, emeritiert, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.