Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Florian Rötzer

Verschlossene Türen im virtuellen Raum der Globalität

Auch im Internet tobt der Kampf zwischen Kontrolle und Sicherheit

Das Internet hat schon zu der Zeit, als es noch wenig verbreitet war, die Hoffnung erweckt, ein grenzübergreifendes Medium zu sein, das einen virtuellen Raum der Globalität eröffnet. Den Siegeszug trat das Internet mit der Erfindung des Web zu Beginn der 90er-Jahre an, das den Zugang zur virtuellen Welt erheblich erleichterte und über die Hyperlinks eine auch auf der Oberfläche vernetzte Räumlichkeit schuf, bei der Entfernung keine Rolle mehr zu spielen schien. Die Ausbreitung des Web erfolgte symbolisch bedeutsam mit dem Ende des Kalten Kriegs und in der Erwartung, dass nationale, aber auch andere innergesellschaftliche Grenzen im Zuge der Globalisierung und der Ausbreitung von Demokratie und Offenheit allmählich verschwinden würden. Mit dem freien Fluss von Informationen, Menschen und Gütern schienen sich ein neues Zeitalter der Globalität, die Bildung einer globalen Metropole und das Ende der Nationalstaaten anzukündigen. Mit den Möglichkeiten wurden auch die Risiken deutlich.

Doch als dann ab Mitte der 90er-Jahre die Wirtschaft das Web wirklich entdeckte, schoss zwar die Internetökonomie mit explodierenden Aktienwerten und all den Fantasien vom schnellen Profit auf. Aber es wurde auch deutlich, dass der freie, grenzüberschreitende Fluss der Daten und die virtuelle Globalität nicht nur Vorteile, sondern auch neue Probleme für die einzelnen Nutzer, für Unternehmen und die rechtlichen Ordnungen sowie die staatliche Sicherheit mit sich bringen.

Mit der Vernetzung und der relativen Anonymität entstanden neue Formen der globalen Kriminalität und des Vandalismus, die im sich aufschaukelnden "Rüstungswettlauf" lokale Sicherungsmaßnahmen wie Intranets, Firewalls und Antivirenprogramme, aber auch nationale Strategien zum Schutz der Computerinfrastruktur notwendig werden ließen. Die Risiken im ungeschützten und unbegrenzten Cyberspace waren neuartig. Einzelne Jugendliche waren über das Internet plötzlich imstande, weltweit Schäden zu verursachen, selbst wenn sie nur einmal demonstrieren wollen, was sie können. Der Handlungsraum hat sich im Prinzip auf die gesamte vernetzte Welt erweitert.

Ist beispielsweise ein Wurm erst einmal freigelassen, kann er sich mit blitzartiger Geschwindigkeit von (ungeschütztem) Computer zu Computer über die ganze Welt verbreiten. Ein gecrackter Computer oder andere vernetzte Dinge lassen sich aus der Ferne steuern oder benutzen. Erst allmählich werden internationale oder bilaterale Abkommen mit der Definition der neuen Straftaten umgesetzt. Sie sollen eine Strafverfolgung von Tätern ermöglichen, die die unterschiedlichen Rechtsräume und die Möglichkeiten grenzübergreifenden Handelns ausnutzen.

Webseiten können gehackt, manipuliert oder lahm gelegt, Betreiber von Websites mit DoS-Angriffen erpresst, Daten manipuliert oder geklaut oder Viren beziehungsweise Würmer ausgesendet werden, die weltweiten Schaden anrichten. Auch grenzüberschreitender politischer Protest wird damit möglich, wenn beispielsweise von Hackern des einen Landes Webseiten des anderen Landes mit Parolen überschrieben (defaced) oder Server von Regierungsbehörden lahm gelegt werden. Die Sicherung des geistigen Eigentums wurde wegen der Möglichkeit, weltweit fast ohne Kosten Informationen zu verbreiten, zu einem weiteren beherrschenden Problem. Ende der 90er-Jahre tauchte schließlich als Schreckbild die Vision vom Infowar oder auch von Cyberterroristen auf, die von irgendeinem Ort der Welt aus Angriffe auf die mehr und mehr von Computern abhängige Infrastruktur eines Landes ausüben und so einer Nation aus der Ferne großen wirtschaftlichen Schaden zufügen könnten. Die Einrichtung von schützenden und das nationale Recht erhaltenden Cybergrenzen wurde so aus vielen Gründen zu einem wichtigen Thema, das mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 noch mehr Gewicht erhielt.

Grenzziehung durch nationale Filter

Eine übliche Art der nationalen Grenzziehung im Cyberspace geschieht mit Filtern, mit denen Staaten versuchen, ihre Bürger am Zugriff auf Webseiten zu hindern, deren Inhalte nach nationalen Gesetzen verboten oder einfach unerwünscht sind. Zwar können die Internetbenutzer, die in einem territorialen Rechtsraum Verbotenes veröffentlichen oder auch herunterladen, bestraft werden, auch wenn sie die Veröffentlichung auf einer Website, die im Ausland gehostet wird, vorgenommen haben, aber normalerweise lassen sich Ausländer nicht belangen, die in ihren Rechtsordnungen legitime Inhalte veröffentlichen und damit allen Internetbenutzern zugänglich machen.

Ein besonders markantes Beispiel für Internetzensur durch nationale Filter gibt Usbekistan. Dort werden nicht nur unerwünschte Seiten blockiert, sondern veränderte Kopien von Seiten politischer Dissidenten ins Netz gestellt. Wenn Usbeken die Seiten aufrufen wollen, sollen sie automatisch auf die gefälschten Seiten umgelenkt werden, wodurch der Anschein erweckt wird, dass keine Zensur stattfindet. In anderen Ländern wie in China werden bei blockierten Seiten Meldungen wie "host not found" oder "connection time-out" eingespielt, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass die gesuchte Website aufgrund eines Fehlers nicht aufgerufen werden kann. Die saudische "Internet Services Unit" hat eines der größten und effektivsten Filtersysteme der Welt entwickelt, das fortwährend aufwändig aktualisiert wird und den Zugang zu etwa 400.000 Internetseiten verhindert, die als unislamisch gelten oder gegen soziale oder politische Regelungen verstoßen. Damit wird nicht nur das wie immer geartete Rechtssystem eines Landes an den geografischen und virtuellen Grenzen geschützt, sondern auch die staatlich definierte Kultur.

Auch in demokratischen Rechtssystemen werden technische Sperren für Inhalte erwogen, die im Ausland liegen und dort nicht verboten sind. Ein Beispiel dafür sind die vom Düsseldorfer Regierungspräsidenten 2001 erlassenen und immer noch bestehenden Sperrungsverfügungen für "strafbare volksverhetzende Internet-Angebote", die Internetprovider zwingen, für ihre Benutzer Filter anzubringen. Solche Sperrungsverfügungen sind jedoch sehr umstritten, zumal sie eben auch autoritären Staaten in die Hände arbeiten.

In Deutschland gibt es bereits in einem Fall eine andere Regelung, die der Bundesgerichtshof im Dezember 2000 in einem Grundsatzurteil entschieden hat. Dabei ging es um den australischen Staatsangehörigen Fredrick Toben, der auch im Internet die Auschwitzlüge verbreitet. "Stellt ein Ausländer von ihm verfasste Äußerungen, die den Tatbestand der Volksverhetzung" erfüllen, so das Gericht, "auf einem ausländischen Server in das Internet, der Internetnutzern in Deutschland zugänglich ist, so tritt eine zum Tatbestand gehörende Eignung zur Friedensstörung im Inland ein." Tobens Texte seien weltweit abrufbar und geeignet, "öffentlichen Frieden" hierzulande zu stören. Weil die Texte hier gelesen werden und eine Wirkung entfalten können, könne man behaupten, dass die Tat in Deutschland begangen werde.

Eine andere Variante der Grenzziehung wurde in Frankreich versucht. So verurteilte ein Richter aufgrund nationaler Gesetze das US-Unternehmen Yahoo dazu, für französische Surfer den Zugang zu Auktionen auch auf Servern in den USA zu sperren, bei denen Nazi-Gedenkstücke versteigert werden. Yahoo brauche dazu nur "geography intelligence" einsetzen, also die Programme zur Erkennung der IP-Adressen, die Nationen und Regionen zugeordnet sind, die die Firma schon für andere Zwecke, beispielsweise für die Schaltung von länderspezifischer Werbung, verwendete. Yahoo nahm schließlich die entsprechenden Auktionen freiwillig heraus. Ähnlich verfährt etwa die Suchmaschine Google, die für bestimmte Suchbegriffe in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder China bestimmte, je nach Land unterschiedliche Ergebnisse nicht anzeigt.

Schutz der Cybergrenzen

Wenn es um den befürchteten Infowar oder um cyberterroristische Anschläge geht, dann soll die Computer-Infrastruktur im Land vor Angriffen von außen geschützt werden. In den USA wurde bereits daran gedacht, alle nationalen Netzwerke innerhalb eines Landes mit einer Firewall zu schützen, um so zentral Angriffe und auch schon Angriffsversuche frühzeitig feststellen zu können. Da dies aber gleichzeitig ein umfassendes Kontroll- und Überwachungssystem wäre, ist man davon erst einmal wieder abgekommen. Aber die mit dem Schutz der nationalen Computerinfrastruktur einhergehenden Probleme machen deutlich, dass mit den globalen Netzwerken sich die Frage nach den nationalen Grenzen verändert hat.

Mit dem Internet verschwimmt die Grenze zwischen der Innen- und Außenpolitik zunehmend, wenn etwa feindliche Aktionen nicht mehr militärisch im traditionellen Sinne geführt werden, sondern in der asymmetrischen Konfliktform eines Cyberkriegs oder -anschlags als Sabotage der Infrastruktur. Die Angriffe aus der Ferne setzen herkömmliche Sicherheitskonzepte außer Kraft, weil das Staatsgebiet nicht mehr nur an seinen geografischen Grenzen und mit militärischen Mitteln zu verteidigen ist. Schon vor dem 11. September wurde argumentiert, dass der Schutz des Staates letztlich auf der ganzen Welt stattfinden müsse, weil die Grenzen keine Sicherheit mehr bieten und die Systeme zu sehr vernetzt sind. Ebenso wie sich hinsichtlich der Gefährdung der Infrastruktur militärische und zivile Bereiche verwischen, entgrenzen sich auch die Bereiche Innere Sicherheit und militärische Sicherung vor äußeren Feinden, da auch einzelne Angreifer mit bescheidenen Mitteln im In- oder Ausland wichtige Infrastrukturen empfindlich stören könnten. Und natürlich wird auch daran gearbeitet, wie man nicht nur einen Infowar aktiv führen, sondern schnell bei einem Angriff mit Cyberwaffen jenseits der Grenze gezielt oder flächendeckend zurückschlagen kann.

Auf der anderen Seite wird es mit Computernetzwerken, Sensoren, biometrischen Erkennungssystemen oder auch unbemannten Fahrzeugen in Verbindung mit Datenbanken immer besser möglich, die nationalen geografischen Grenzen zu kontrollieren oder zu sichern. So sollen in den USA mit dem US-VISIT-System alle Reisenden, die in die USA fahren oder das Land verlassen, über biometrische Erkennung erfasst und identifiziert und ihr Aufenthalt in den USA verfolgt werden. Diese "virtuelle Grenze" ist ein Kernstück der geplanten "intelligenten Grenze" für den gesamten Luft-, Land- und Meerverkehr, um die USA vor Gefahren von außen zu schützen. Die neue Mauer oder das Abwehrschild für Verdächtiges soll vornehmlich internationale Terroristen abwehren, aber auch "Drogen, ausländische Krankheiten und andere gefährliche Dinge", wie Bush im Januar 2002 ankündigte. Florian Rötzer

Der Autor ist Chefredakteur des Online-Magazins "Telepolis".


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