Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 13.09.2004
Volker Koop

Vertrauensverlust alarmiert Politik

Stell Dir vor, es ist Wahl und keiner geht hin
2004 ist in mancherlei Hinsicht ein Jahr der Rekorde: Selten ist das Wahlvolk derart häufig zur Stimmabgabe aufgefordert worden wie in diesem Jahr, und selten hat es derartige Abstinenz beim Urnengang - speziell bei der Europawahl - geübt, wie in den zurückliegenden Monaten. Eine Trendwende bei den noch anstehenden Wahlen ist nicht absehbar. Wahlforscher und Politiker machen sich Gedanken über die Ursachen und darüber, wie wieder mehr Menschen dazu bewegt werden könnten, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Häufig gehörte Stichwörter in der Debatte sind dabei "Politikverdrossenheit", "Parteienverdrossenheit" oder gar "Staatsverdrossenheit".

Die Stimmung im Lande sei schlecht, stellt der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg von Essen, fest. Immer wenn die Wahlbeteiligung merklich zurückgegangen sei oder die Großparteien an Stimmen verloren und kleine Parteien am Rande des politischen Spektrums Wähler gewonnen hätten, werde gern die Krise des Parteienstaates und der parlamentarischen Demokratie beschworen. Die Meinungen darüber, wie eine hohe Nichtbeteiligung zu bewerten sei, gingen auseinander, doch wolle er die Entwicklung nicht rundweg als bewussten politischen Akt der Wahlverweigerung interpretieren; dies werde der Sache sicherlich nicht gerecht. Die Entscheidung, so der FDP-Abgeordnete, nicht zur Wahlurne zu gehen, könne genau so gut daraus resultieren, dass die Bedeutung einer Wahl nicht gesehen werde oder vom Wahlergebnis keine nennenswerten Veränderungen erwartet würden. Speziell für die Europawahl habe dies beispielsweise bedeutet, dass für den Bürger das Europäische Parlament viel zu wenig greifbar sei. Aber unabhängig von der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen kann Jörg von Essen keinen Grund zur Resignation erkennen: "Ich sehe das Interesse des Bürgers an Politik, wie die lebhafte Diskussion um die Reformen in unserem Land zeigt. Hier von einer Abkehr des Bürgers von der Politik zu sprechen, ist sicherlich nicht angebracht. Aber Politik und Medien sind in der Verantwortung, den Wählern auch nachvollziehbare Entscheidungen zu präsentieren und diese auch differenziert darzustellen."

Eine allgemeine Politikverdrossenheit sieht auch Laurenz Meyer nicht, vielmehr werde das "allgemeine Chaos der gegenwärtigen Politik" allen Parteien zugerechnet. Der CDU-Abgeordnete und Generalsekretär seiner Partei ist vielmehr überzeugt, dass heute mehr Menschen an Politik interessiert sein als noch vor zehn Jahren. Wichtig sei es, ihnen das Gefühl zu nehmen, sie könnten ja doch nichts ändern. Die Menschen wollten, dass die Parteien mit eindeutigen Botschaften an sie heranträten und das Gesagte auch umsetzten. Gegen die Annahme von Politikverdrossenheit spricht nach Laurenz Meyer auch, dass sich die Menschen in Bürgerinitiativen und ehrenamtlichem Engagement sehr wohl für das Gemeinwesen einsetzten. Dazu gehöre, dass sie klar erkennen könnten, wer wofür Verantwortung trage. Reformen seien deshalb unerlässlich. Meyer: "Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern rührt schließlich auch von der gewaltigen Bürokratie in Deutschland her. Wir verfügen heute über fünfmal soviel öffentliche Verwaltung wie in den 50er-Jahren. Es ist aber auch möglich, die Bürokratie wieder zurückzudrängen, wie wir in einigen Bundesländern gezeigt haben." Eine Politik der Bürgernähe und langfristigen Perspektive in allen Bereichen und auf allen Ebenen sei erforderlich, dann werde auch das Vertrauen der Deutschen in die Fähigkeit der Politiker wieder zunehmen. Der Unionsabgeordnete gibt sich optimistisch, "dass die Wahlbeteiligung zum Beispiel bei den nächsten Bundestagswahlen, wenn über drängende Sach- und Personalfragen in Deutschland abgestimmt wird, wesentlich höher sein wird".

Als ein Alarmsignal bezeichnet demgegenüber der SPD-Abgeordnete und -Generalsekretär Klaus Uwe Benneter die sinkende Wahlbeteiligung. Wahlen seien in der Demokratie das zentrale Element der Willensbildung, und nach dem Grundgesetz übe das Volk mittels "Wahlen und Abstimmungen" die Staatsgewalt aus. Umfragen zeigten, dass sich bei den Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck festsetze, es sei egal, "wer da oben" regiere. Benneter: "Als SPD-Generalsekretär sehe ich hier einen Ansatzpunkt. Wir müssen das Profil unserer Partei schärfen, die Unterschiede und Alternativen zu den politischen Konkurrenten aufzeigen. Wir müssen beispielsweise zeigen, dass es eben nicht egal ist, ob in Zukunft die Gesundheitsvorsorge über eine Kopfgeldpauschale für jeden - wie bei der Union - oder die solidarische Bürgerversicherung der SPD nach dem Grundsatz ‚Starke Schultern tragen mehr als schwache' finanziert wird." Nur durch klare Gegenüberstellungen würden die Menschen das Gefühl haben, dass es nicht einerlei sei, ob sie wählen gingen und wen sie wählten. Natürlich sei es erforderlich, sich stets aufs Neue zu bemühen, politische Entwicklungen in den Abläufen so verständlich darzustellen, dass Planungen, Verhandlungen oder Beratungen und konkretes politisches Handeln durchsichtig und einsichtig würden. Im politischen Alltag falle das nicht immer leicht - genau hier aber liege die Verantwortung. Im Übrigen verweist Klaus Uwe Benneter auf die Mitverantwortung der Medien: "Denn auch die Art der Berichterstattung prägt das Bild, welches die Bevölkerung von Politik hat. Nicht nur Skandale und Sensationen, auch seriöses Arbeiten muss wieder Erwähnung finden. Es sind also sowohl Politik als auch die vermittelnden Medien gefragt, wenn es um Wege aus der Vertrauenskrise geht."

Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele sieht in der Politik-Abstinenz und -Feindlichkeit sowie der damit gegebene Anfälligkeit für Populismus eine Folge der eingeschlagenen gesellschaftspolitischen Strategie. Es vollziehe sich ein grundsätzlicher Wandel im Wählerverhalten, der den grundsätzlichen Umbau im gesellschaftlichen Gefüge abbilde: "Es findet eine Spaltung statt in diejenigen, die noch in politische Diskurse eingebunden sind, und diejenigen, die langfristig herausfallen. Dies ist nicht nur - wie oft betont - eine Folge der alten korporatistischen Integration, der Zweiteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in Konservative hier, Sozialdemokraten dort. Es ist auch die Folge einer spezifischen Politik, die in den Vordergrund stellt: ‚There is no alternative'. Dieses Motto, von Frau Thatcher formuliert, wurde von der weltweiten Sozialdemokratie (des ‚Dritten Weges') aufgenommen. Clinton, Prodi, Vranitzky, Jospin und Schröder traten an mit der Vorstellung, dass nur die Sozialdemokratie mit ihrer Massenbasis die gigantischen Umbrüche, die die Überwindung der Industriegesellschaft mit sich bringt, politisch tragen kann. Sie hatten daher die Vorstellung, dass nun ein sozialdemokratisches Jahrhundert vor ihnen läge, in der sie die Konservativen als Dauerregierungsmacht ablösen. Dies hat sich als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Die Vorstellung, es ginge nur darum, überhaupt Reformen durchzusetzen, die grundsätzliche Trennung in Reformer und Reformgegner, die Politik, alles zu konzentrieren auf die Frage ‚Reformen - ja oder nein?' statt ‚Reformen - so oder so', dies hat verhindert, eine gesellschaftliche Debatte über das ‚wie' der Reformen zu führen und damit die Basis für einen neuen gesellschaftlichen Integrationsmodus oder ‚Kompromiss' zu legen." Selbstverständlich sei - so der Grünen-Abgeordnete weiter - die Notwendigkeit zu Reformen gegeben, also alternativlos. Aber alternativlos seien eben nicht die Reformen selber; mit der Behauptung der Alternativlosigkeit würden bestimmte Strukturen durchgesetzt, ohne gesellschaftliche Akzeptanz, "handwerklich unausgereift".

Ströbeles Fazit: "Die politische Klasse muss endlich lernen, nicht die ‚Verlierer' zu bearbeiten, dass sie gefälligst die absolute Notwendigkeit genau der gemachten Reformen einsehen solle sondern sie muss selber reflektieren, ob sie einen echten Wettbewerb der Konzepte anbietet."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.