Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004
Josef-Thomas Göller

Four more years: Alles ruhig am Potomac

Ein Wahl-Feature aus den USA am Tag danach
Four more years: Amerika wird weiterhin von George Walker Bush als US-Präsident regiert. Die Konsequenzen daraus lauten: Vermutlich vier weitere Jahre Krieg, nicht nur im Irak, sondern mit der nahöstlichen, respektive muslimischen Welt. Krieg im militärischen wie im ideologischen Sinne. Die Gräben zwischen der betont christlich geprägten Bush-Regierung und den Arabern werden sich vertiefen, Abneigung und Hass auf beiden Seiten werden wachsen.

Eine Stunde nach Bekanntgabe der Niederlage des demokratischen Herausforderers John Kerry, wurde in Regierungskreisen bereits davon gesprochen, Ziele im Iran, die mit dem Atomprogramm des Landes verknüpft sind, aus der Luft anzugreifen. Die US-Regierung will den Aufstieg des fundamentalistisch-islamischen Landes zur Atommacht im Nahen Osten nicht dulden. Von einer militärischen Invasion werde "derzeit" abgesehen, hieß es in Pentagonkreisen. Auch Syrien erhielt neuerlich eine gelbe Karte, wurde angemahnt, endlich seine Grenze zum Irak für Infiltranten dicht zu machen, oder...

Keine Frage - die Bush-Administration fühlt sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, verfügt über geradezu uneingeschränkten Spielraum. Nicht nur wurde bei dieser Wahl deutlich, dass die Mehrheit der Amerikaner Präsident Bush ihr Vertrauen aussprach, sie stattete ihn außerdem noch mit einer satten Übermacht im Repräsentantenhaus und im Senat aus, wo die Republikaner jeweils Sitze dazugewinnen konnten; Sieg auf der ganzen Linie. Das ist eine carte blanche, die der Präsident zweifelsohne als solche versteht und nutzen wird.

Zwar appellierte John Kerry bei Bekanntgabe seiner Niederlage an seine Wähler und an die Republikaner gleichermaßen, nunmehr aufeinander zuzugehen, und auch Bush sprach rasch von "nationaler Einheit" - aber das ist entweder Wunschdenken oder ein Lippenbekenntnis. Bush hat nach seiner ersten Wahl im Jahr 2000 schon die gleiche Rhethorik gebraucht, aber kaltschnäuzig gegenteilig gehandelt.

Seit er am 21. Januar 2001 ins Weiße Haus einzog, trieb er mit einer gezielten ideologischen Konfrontationspolitik die amerikanische Nation in eine tiefe Spaltung, die sich jetzt endgültig manifestieren könnte.

Der Geist der 60-er Jahre ist über Nacht nach Amerika zurückgekehrt - im positiven wie im negativen Sinne. Damals trieb Präsident Lyndon B. Johnson die USA in den Alptraum eines Vietnamkrieges, aus dem die Amerikaner am Ende keinen anderen Ausweg sahen, als ihre eigene Regierung mit jahrelang anhaltenden Demonstrationen in Millionenstärke zur Aufgabe zu bewegen. Politischer Aktivismus war damals angesagt, vor allem unter der jungen Generation.

Ein ähnlicher Geist machte sich bereits am Wahltag breit. Die Wahlbeteiligung erreichte nach Jahren politischer Trägheit wieder jene von 1964, also mehr als 60 Prozent, vor allem hervorgerufen durch Jungwähler. Sowohl Republikaner als auch Demokraten waren in der Lage, junge Erwachsene für ihre Argumente zu mobilisieren. Selbst Teenager erschienen am schulfreien Wahltag vor den Wahlbüros, halfen an den Aktionsständen der Parteien mit, sangen, lachten, provozierten neckisch politische Gegner. Eine neue, moderne Art von Happening-Feeling machte sich mancherorts breit. Neu ist auch, dass den konservativen Republikanern auffallend viele junge Amerikaner zuströmen. Mit ihrer Opposition zu gleichgeschlechtlichen Ehen, Abtreibung und vorehelichem Sex liegen ausgerechnet die Republikaner auf der Linie von vielen der jungen Generation. Hier zeichnet sich auch ein dramatischer Unterschied zu Europa ab, der in Zukunft eher noch zunehmen wird und möglicherweise eine weitere Kluft zwischen der Alten und der neuen Welt schafft: die der unterschiedlichen Werte-Vorstellungen.

Die "Jugend" der Demokraten hingegen zeigte sich bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses ungeduldig. Die Verbitterung und Enttäuschung unter der demokratischen Wählerschaft geht diesmal weit über das Normalmaß hinaus. Anzeichen dafür, dass Amerika diese Wahl als Schicksalswahl begriffen hat, gab es bereits am Wahltag selbst. Der Mehrheit der Wähler war klar, dass sie über Krieg oder Frieden entscheidet und dass ihre Wahl mehr als jede andere zuvor eine enorme Auswirkung auf die ganze Welt haben wird.

Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass die meisten Staaten rund um den Erdball gemeinsam mit den Amerikanern am 2. November sinnbildlich den Atem angehalten haben - in der Hoffnung, der unbeliebteste amerikanische Präsident aller Zeiten werde aus dem Amt gewählt. Mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung hätten sich einen anderen Ausgang der Wahl gewünscht. Das haben zum Beispiel Umfragen der Universität von Maryland und des German Marshal Funds ergeben. Deutsche und Norweger liegen mit ihrer Abneigung Bushs am weitesten vorn: jeweils 74 Prozent favorisierten den demokratischen Herausforderer John Kerry.

Aber immerhin auch nahezu die Hälfte der Amerikaner - um die 48 Prozent - hätten lieber den besonnenen Kerry als neuen Präsidenten gesehen, als weiterhin den bibelfesten, von sich und seiner "Mission" überzeugten Mann aus Texas. Dies sollte nicht außer Acht gelassen werden. Mit bewegter Stimme haben mir demokratische Freunde gesagt: "Es gibt auch ein anderes Amerika. Wir wollen, dass dies die Welt nicht vergisst."

Nie zuvor habe ich sie derart niedergeschmettert über diese politische Entwicklung gesehen: verstört, zu kaum einem anderen Thema fähig nachzudenken als zu dumpfer Angst vor der Zukunft. Andere rafften sich auf, ihre Verbitterung, Trauer und Wut bereits kurze Zeit später in Tatendrang umzusetzen. Junge und alte Demokraten, die nicht dem trägen Parteiestablishment angehören, kündigten sogar außerparlamentarische Opposition an, um die Anti-Kriegsdemos der 60-er wieder ins Leben zu rufen. Millionen von demokratischen Wählern sind sauer auf ihre Politiker. Für ihren Geschmack - und das Wahlergebnis bestätigt sie - war die Wahlkampfstrategie der Demokraten insgesamt zu lau, Kerry zu zahm; er stand selbst der Argumentation Bushs viel zu nahe und benutzte teilweise sogar die gleiche Wortwahl wie sein Konkurrent. Über Osama Bin Laden und sein Terroristen-Netzwerk Al Qaida sagte Kerry: "We gonna hunt them down! - Wir werden sie zur Strecke bringen." Das ist wortwörtlich dasselbe, was Bush kurz nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 verkündete.

Der einstige Deutschland-Korrespondent der Washington Post, Marc Fisher, brachte in einem Leitartikel auf den Punkt, welche Krisen, Versäumnisse und Probleme im amerikanischen Wahlkampf gar nicht thematisiert worden sind: "Wo blieb die Werte-Diskussion über die Bilder des irakischen Gefängnisses Abu Ghraib? Was lehren wir eigentlich unsere Kinder damit? Welche Konzepte haben wir gegen Arbeitslosigkeit und Armut in einem reichen Land? Wie anders als militärisch hindern wir Islamisten daran, uns in die Luft zu sprengen? Die Frage ‚Warum hassen sie uns' ist bis heute nicht beantwortet worden."

Marc Fisher konstatiert deshalb eine Entfremdung zwischen Politikern und der Öffentlichkeit, insbesondere unter Demokraten.

Sollte die Verärgerung der Opposition tatsächlich nicht nur anhalten, sondern sich insbesondere unter jungen Leuten steigern, steht der amerikanischen Nation eine schwere innenpolitische Krise ins Haus, unabhängig davon, wie stark sich Präsident Bush nun auch immer fühlen mag. Dass sich die Fronten zwischen beiden Lagern verhärtet haben, zeigte die Wahlnacht auch auf anderer Ebene. Wie immer bei Wahlen in den USA, stand nicht nur eine, sondern mehrere Entscheidungen an. Neben dem Präsidenten wurde auch über Landes- und Lokalpolitik abgestimmt, einige Gouverneure, Senatoren und Parlamentarier wurden neu gewählt. Es fällt auf, dass jene, die neu ins Amt kamen, jeweils zu den Hardlinern ihrer Partei gehören. Sprich: moderate Politiker in beiden Lagern wurden abgewählt. Wagnersche Morgendämmerung zeichnet sich am politischen Horizont der amerikanischen Hauptstadt ab. Noch fließt der Potomac träge durch Washington, D.C, erste Plakate werden gemalt, Plastikeimer zu Trommeln umfunktioniert, Gitarren werden gestimmt: "We shall overcome …". Die Bereitschaftspolizei rückt ihre Schlagstöcke zurecht. "Alles ruhig am Potomac", meldete Ende 1860 - am Vorabend des Bürgerkrieges - ein Wachposten dem Weissen Haus. Alles ruhig am Potomac.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.