Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
Constanze Hacke

Das Ende des Kirchturmdenkens

Der Wettbewerb der Gemeinden untereinander ist oft schädlich für alle
Manchmal geht es nur um wenige Minuten. Ein kleiner Vorsprung, der entscheidet, wo Arbeitsplätze entstehen. In diesem Fall waren es knapp zehn Kilometer, die der oberbergischen Gemeinde zur Autobahnauffahrt fehlten. Kilometer, die für ein Speditionsunternehmen entscheidend waren: Je länger der Weg zur Autobahn, desto länger die Gesamtstrecke der Lastwagen. Der Spediteur rechnete dem Rat der Stadt Hückeswagen seine potenziellen Verluste in Minuten vor - und entschied, sein Unternehmen im neuen Gewerbegebiet der benachbarten Stadt anzusiedeln. Denn dort war man mit der neuen Umgehungsstraße direkt an die A 1 angebunden und konnte sich auch über gut 50 hinzugewonnene Arbeitsplätze freuen.

Infrastruktur ist eine der wesentlichen Trumpfkarten vieler Kommunen im Standortwettbewerb. Gleich ob es um die Anbindung an einen Zubringer oder um die Erschließung eines neuen Industriegebiets geht: Städte und Gemeinden versuchen seit jeher, mit der optimalen Kombination von Standortfaktoren Unternehmen anzulocken - und damit sowohl Arbeitsplätze als auch Steuereinnahmen zu sichern. In Zeiten leerer Kassen, hoher Arbeitslosigkeit und strukturellen Wandels ist die Ansiedlung von Unternehmen für viele Kommunen zur Überlebensfrage geworden. Finanzknappheit gehört dabei zu den schwerwiegendsten Problemen: Stärker denn je hängen Städte und Gemeinden am Tropf von Landeszuweisungen, die die Unterschiede zwischen armen und reichen Gemeinden ausgleichen sollen, und an den durch schwindende Steuereinnahmen ebenfalls sinkenden Zuteilungen von Einkommen- und Umsatzsteuer.

Die Antwort der Kommunen fiel über Jahre vielfach ähnlich aus: Fast alle Städte und Gemeinden schlugen dieselben Wege der kommunalen Wirtschaftsförderung ein und traten miteinander in scharfe Konkurrenz. Dabei ist das Gewerbesteueraufkommen nicht nur die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen, sondern war in der Vergangenheit oft auch eine der Stellschrauben im Wettbewerb: Die Gemeinden können die Höhe der Gewerbesteuer beeinflussen und über einen prozentualen Hebesatz festlegen, wie viel Gewerbesteuer die Unternehmen am Ort zahlen müssen. So versuchten Gemeinden quer durch das ganze Bundesgebiet, mit niedrigen Hebesätzen Firmen anzulocken. Eine kurzsichtige Rechnung, denn die von den Kommunen so dringend benötigten Gewerbesteuereinnahmen - an sich schon stark konjunkturabhängig im Aufkommen - fielen so noch geringer aus.

Dem Wettlauf der kommunalen Lockangebote schob das Bundesfinanzministerium im vergangenen Jahr einen Riegel vor und legte einen Mindesthebesatz fest. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund lehnt einen bloßen Wettlauf um die niedrigsten Hebesätze ohnehin ab: "Wir sind der Auffassung, dass die Absenkung der Hebesätze dann ihre Grenzen findet, wenn daraus nur noch ein Einnahmeverzicht resultiert. Die Standorte in Deutschland haben hohe Qualität, und das hat seinen Preis. ?Geiz ist geil' ist kein Werbeslogan für Städte und Gemeinden und schädlich für die Wirtschaftsentwicklung", meint Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Verbandes.

Die Abhängigkeit von eigenen Steuereinnahmen sorgte in vielen Kommunen zudem für eine Abhängigkeit von großen Gewerbesteuerzahlern und führte so zu einer verschärften Rivalität zwischen den Gemeinden. Planlose Industrieansiedlung um jeden Preis, billige Grundstücke und großzügig ausgewiesene Gewerbeflächen waren die Folge. Das Ergebnis fiel oft zweifelhaft aus, sind Gertrude Penn-Bressel und Andreas Troge vom Bundesumweltamt überzeugt: In ihren Thesen zur Flächeninanspruchnahme kritisieren sie den interkommunalen Wettbewerb um Einnahmequellen. Bundesweit wachse der Bestand an Brachflächen jeden Tag um ungefähr zehn Hektar pro Tag, Investitionen in neue Gewerbeflächen führten in der Gesamtbilanz oft nur zu Betriebsverlagerungen zwischen den Gemeinden einer Region - ein Wettbewerb, der auf Dauer für alle Beteiligten kontraproduktiv sei. Ein fairer Wettbewerb zwischen den Kommunen ist jedoch unwahrscheinlich. Dafür müssten in allen Städten und Gemeinden gleiche Startvoraussetzungen und gleiche Interessenslagen vorherrschen. Das aber entspricht nur selten der Realität.

Auch in Nagold war das nicht so. Die Stadt im Nordschwarzwald hat seit jeher mit mehreren Problemen zu kämpfen: Nicht nur die benachbarte starke Wirtschaftsregion Stuttgart übt eine enorme Sogwirkung aus. Auch die Kommunen rund um Nagold betrieben mit geringen Grundstückskosten und niedrigen Gewerbesteuerhebesätzen eine aggressive Ansiedlungspolitik, um auswärtige Unternehmen anzulocken und aus Nagold abzuwerben. Ein Wettbewerb, der die Kreisstadt in den Ruin treiben könnte, würde sie sich darauf einlassen. Andere Antworten mussten gesucht werden, um in der Standortkonkurrenz eine ernstzunehmende Größe darzustellen. Also gingen die Nagolder in die Offensive und luden zu einer regionalen Wirtschaftskonferenz, um klarzumachen, dass viele Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. Kooperation statt Konkurrenz, um nicht die einzelne Stadt, sondern die Region insgesamt zu vermarkten - und den Unternehmen neue Dienstleistungen anzubieten. Das Ergebnis: die Entwicklung eines Dienstleistungszertifikats Nordschwarzwald "Kommunale Kompetenz". Das Gütesiegel wird Gemeinden und Behörden verliehen, die Qualitätsanforderungen wie Kunden- und Prozessorientierung in der Verwaltungspraxis erfüllen. Drei Landkreise und rund 20 Kommunen sind beteiligt; sie erarbeiteten ausgehend von einer Stärken-Schwächen-Analyse einen ganzheitlichen Qualitätsstandard, der die Anforderungen an die Dienstleistungen öffentlicher Verwaltungen definiert.

Die Verbesserung der Serviceangebote steht angesichts der von zahlreichen Unternehmen beklagten Bürokratie ganz oben auf der Agenda vieler Kommunen. Zumindest der gefühlten Bürokratie soll damit etwas entgegengesetzt werden. "Ein wirtschaftsfreundliches Klima kann beispielsweise darin zum Ausdruck kommen, dass Unternehmen möglichst nur einen Ansprechpartner in der Stadtverwaltung - so genannte one-stop agencies - haben, der sie durch den ?Behörden-Dschungel' lotst", urteilt Mechthild Scholl von der Abteilung Kommunalpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung. Neu seien diese Erkenntnisse aber keineswegs, an ihrer Umsetzung hapere es allerdings oft.

Gute Praxis-Beispiele gibt es aber auch jenseits des Nordschwarzwalds: zum Beispiel im westfälischen Arnsberg, das mit einem aktiven Ideen- und Beschwerdemanagement Unternehmen bei der Lösung von Problemen hilft. Durch eine speziell installierte Software haben alle Mitarbeiter Zugriff auf die Historie des Problems, kurze Wege und kompetente Erstkontakte sind das A und O des Beschwerdemanagements. Hintergrund dieser Initiative war eine schlichte Erkenntnis: Viele Beschwerden erreichen eine Verwaltung überhaupt nicht, je nach Branche tragen nur vier von 100 Kunden eine Beschwerde tatsächlich in der Behörde vor. Mit einem anderen drängenden Problem von Unternehmen befasst sich seit Jahren die Kreisverwaltung Soest: Zug um Zug wurde dort das Baugenehmigungsverfahren als interaktive Internetanwendung gestaltet. Das Ziel: die papierlose Baugenehmigung.

Die Bemühungen der Kommunen, eine intensive Betreuung und Information zu gewährleisten, Kommunikation, Marketing und interkommunale Kooperation auszubauen und bessere Serviceangebote für Unternehmen zu bieten, sind jedoch nur einige Steine im Mosaik der Standortentscheidung. Wichtig ist für Unternehmen auch das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften - und dass diese am Ort gehalten werden: "Die Gemeinden können die so genannten weichen Standortfaktoren beeinflussen, indem sie ein wirtschaftsfreundliches Umfeld schaffen. Dazu gehören kulturelle Angebote, die Förderung eines lebendigen Vereinslebens, Sport- und Freizeiteinrichtungen und vieles mehr, um den Arbeitnehmern ein attraktives Wohnumfeld zu bieten", argumentiert Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums gibt ihm recht: Demnach gewinnt Familienfreundlichkeit als Standortfaktor an Bedeutung; die Vereinbarkeit von Beruf und Familie könne entscheidenden Einfluss auf die erfolgreiche Suche und das Halten von Personal erlangen, heißt es dort.

Standortentscheidungen werden somit nicht nur zugunsten oder gegen einzelne Kommunen getroffen. Sie beziehen das gesamte regionale Umfeld mit all seinen harten und weichen Faktoren ein. Und damit nicht genug: "Die Maßstabsvergrößerung durch den erweiterten und intensivierten europäischen Binnenmarkt führt mehr denn je dazu, dass einzelne Kommunen für sich mit der Anwerbung von Unternehmen, Beschäftigten und Einwohnern überfordert sind und dass sie in europäischen oder gar globalen Dimensionen gar nicht mehr wahrgenommen werden", warnt die Kommunalforscherin Mechthild Scholl. Womöglich ist das Bündeln der Kräfte verschiedener Kommunen einer Region also die einzige Möglichkeit, um die eigene Position im europäischen Standortwettbewerb zu behaupten: nicht nur im Kampf um die Ansiedlung von Unternehmen, sondern auch im Wettbewerb um die durch die demografische Entwicklung zunehmend knapper werdende Ressource "Bevölkerung".

Auch die kleine oberbergische Gemeinde Hückeswagen hat sich nach den Erfahrungen mit der Speditionsfirma mittlerweile zu einer Kooperation entschlossen: Ausgerechnet in der Kreisstadt des Nachbarkreises Remscheid fand man einen Verbündeten und schmiedete so mit einer gemeinsamen Wirtschaftsförderungsgesellschaft eine regionale Allianz. Der Autobahnanschluss ist damit zumindest ein kleines Stückchen näher gerückt.

Constanze Hacke arbeitet als freie Wirtschaftsjournalistin in Köln.


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