Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
Georg Nienaber

Die Kommunen als Vorreiter für den Bund

Direkte Bürgerbeteiligung ist vertraute Praxis in vielen Gemeinden
Es war eine Art politischer Vertrauensbeweis an ein zusehends erwachsen gewordenes Volk: Willy Brandt formulierte vor drei Jahrzehnten mit seinem Aufruf, Deutschland dürfe, könne und müsse "mehr Demokratie wagen" ein Richtung weisendes Polit-Postulat. Er traute den Bürgern mehr Verantwortung und das Vermögen zu, über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Gerade die partizipativen Initiativen und mutigen Aktionen der Menschen in der DDR haben diese Aufforderung später aufgenommen und die Demokratisierungswünsche in Deutschland nach 1990 verstärkt - vermehrt in Richtung direkter Demokratie. Nirgendwo haben die Menschen diese Forderung stärker umgesetzt als auf der kommunalen Ebene.

Nirgends leben und erleben Bürger politische Beteiligung intensiver als in ihren Gemeinden. Als Vorreiterin gerade im Bereich der direkten Demokratie erweist sich die lokale Ebene dabei einmal mehr als "Schule der Demokratie". Auch wenn die repräsentative Demokratie - ebenfalls wie auf Landes-, Bundes- und Europaebene - nach wie vor das vorherschende System ist, hat die direkte Bürgerbeteiligung in vielen Bereichen in der kommunalen Politik ihren etablierten Platz gefunden. Für die Kommunen sind dabei in jüngster Vergangenheit besonders zwei hervorstechende Neuerungen hin zu mehr Demokratie zu unterstreichen: die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie die Direktwahl des Bürgermeisters in nahezu allen Gemeindeordnungen. Die Landesgesetzgeber haben damit verfassungsrechtlich eine starke Beteiligungschance der Bürger an ihren Ortsangelegenheiten festgeschrieben.

Mit den Bürgerbegehren haben die Souveräne der Kommune die Gelegenheit, den gewählten Räten eine konkrete Sachentscheidung aus der Hand zu nehmen und verbindlich direktdemokratisch zu entscheiden. Dazu können die Bürger beantragen - hier setzt das Begehren ein -, dass sie an Stelle des Rates eine örtliche Angelegenheit entscheiden können, also einen Bürgerentscheid durchführen. Für das Begehren im ersten wie für den Entscheid im zweiten Schritt sind bestimmte Quoren per Unterschriftenlisten zu erreichen, um als erfolgreich gelten zu können. Die konkreten Regelungen dazu sind in den Bundesländern unterschiedlich gefasst. Gemein ist ihnen jedoch allen, dass nur eine beachtliche organisatorische Initiatorenbewegung zu entsprechenden Schritten führen kann.

Die Gemeindebevölkerung muss die Entscheidungen ihrer einmal gewählten Ratsvertreter nicht mehr widerstandslos hinnehmen. Die Möglichkeit zur entscheidenden Mitsprache bleibt während der gesamten Wahlperiode bestehen, so dass die Gemeindebürger nicht nur alle paar Jahre in der Wahlkabine ihre Souveränität entscheidend ausdrücken können.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die gewählten Gemeindevertreter: Allein das "Drohpotential" eines Bürgerbegehrens veranlasst viele Ratsmitglieder, sich in ihren Entscheidungen näher am Bürgerwillen zu orientieren. Damit ist neben der tatsächlichen Anwendung der Beteiligungsinstrumente ein nicht unbedeutender Nebeneffekt angesprochen, den die Statistiken über Nutzungshäufigkeiten von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden nicht erfassen können. Dennoch können auch Zahlen den Demokratisierungsschub der Kommunen dokumentieren: Rund 2.500 Bürgerbegehren und -entscheide vor allem zu den Themengebieten der Verkehresfragen, Bauvorhaben und öffentlicher Einrichtungen und Infrastruktur wurden bis 2002 durchgeführt. Dabei ist die Nutzungshäufigkeit in den Bundesländern durchaus unterschiedlich. Beispiel Bayern: Über 1.100 direktdemokratische Verfahren haben die Bürger in den Freistaat-Gemeinden seit 1995 initiiert. In den übrigen Bundesländern liegen die Zahlen weit darunter, zwischen 232 in NRW über 165 in Sachsen bis hin zu 57 in Sachsen-Anhalt oder 78 in Rheinland-Pfalz. Als Vergleichsindikator kann daher vor allem das Verhältnis von Begehren zu Einwohnerzahlen dienen. So kommt in Bayern auf 64.000 Einwohner jährlich ein Bürgerbegehren, während der Wert in Baden-Württemberg bei knapp 800.000 Gemeindebürgern liegt.

Bei der genaueren Analyse ist jedoch auch festzustellen, dass es besonders partizipationsfreudige Gemeinden gibt: Bislang 15 Bürgerbegehren allein in München, zwölf in Nürnberg wie auch in Regensburg und immerhin acht Verfahren in kleineren Städten wie Passau oder Neu-Ulm sprechen für einen enormen Beteiligungswillen der heimischen Bevölkerung. Allerdings hat die große Mehrheit der Kommunen bislang noch gar keine Bürgerbegehren gesehen. Die Anwendungshäufigkeiten weisen demnach regionale Unterschiede auf, beweisen aber auch, dass die plebiszitären Elemente durchaus politischen Einsatz finden. Grund für diese Divergenzen ist unter anderem die unterschiedliche Ausgestaltung der Bürgerbegehren. So sind zum Beispiel in der Gemeindeordnung Niedersachsens mehr Themenbereiche für ein Begehren ausgeschlossen als in Bayern. Und natürlich ist die Frage der Quorumshöhe immer auch eine Frage der Attraktivität des direktdemokratischen Instrumentes.

Nach bisherigen Erfahrungen kann festgehalten werden: Das Bürgerbegehren als partizipatives Instrument hat sich bewährt. Ein befürchtetes Entscheidungschaos kann bislang nicht festgestellt werden. Die Bürger nutzen in vielen Fällen ihr direktdemokratisches Recht, auch wenn die Beteiligung an den Abstimmungen häufig nur niedrig ist und gerade die Gültigkeitshürden überwinden. Klar muss dabei aber auch sein, dass der verstärkte Beteiligungswunsch einhergeht mit strukturellen Veränderungen im Bewusstsein der lokalen Parteien und damit auch des Gedankens der repräsentativen Demokratie: In Teilen findet eine Machtverschiebung statt. Ein Stück weit müssen die Räte und damit die Parteien Einfluss abgeben. Damit wird Lokalpolitik bürgernäher, aber - das ist der Preis - in vielen Fällen auch unberechenbarer. Und: In manchen Fällen erscheinen die Ankündigungen von Bürgerbegehren auch als bloße Wahltaktiererei bestimmter Fraktionen oder Bürgergruppen. Zudem beklagen sich einige Kommunen auch über die Vertretung von reinen Partikularinteressen im Rahmen eines Bürgerbegehrens - eine Gefahr, die bei niedrigen Gültigkeitsquoren auch nicht ganz auszuschließen ist.

Lokalpolitik wird auch durch die Direktwahl der Bürgermeister bürgernäher und demokratischer. Durch die besonders in den 90er-Jahren in fast allen Bundesländern eingeführte Urwahl des Rathauschefs büßt auch hier die repräsentative Demokratie an Mitsprache ein. Sehr zentrale Personalentscheidungskompetenzen gingen auf die Bürgerschaft direkt über. Die Gemeindebevölkerung selbst wählt aus, wer die Geschicke der Kommune leiten soll. Auch wenn die Vorentscheidungen über die Kandidaten der Parteien in der Regel parteiintern getroffen werden, fällt die letztendliche Entscheidung allein der Bürger.

Letztlich kann - das sehen die meisten Gemeindeordnungen vor - sich jeder um das Bürgermeisteramt bewerben, auch als parteiunabhängiger Einzelbewerber. Da die Amtsinhaber meist auch auf ihre Wiederwahl hoffen, verhalten sie sich oft besonders bürgernah und beteiligungsfreundlich, wie eine aktuelle Studie zur Direktwahl der Bürgermeister in NRW gezeigt hat. Allein in diesen Rahmenbedingungen deutet sich schon unmissverständlich ein Plus an lokaler Direktdemokratie an. Ein Demokratisierungsgewinn, den die direkt gewählten Bürgermeister selbst überdeutlich als Vorteil sehen: Über 90 Prozent der 1999 in NRW erstmals urgewählten Bürgermeister werteten die Direktwahl als positives Partizipationsinstrument.

Allerdings birgt das Direktwahlsystem auch Fallstricke, die das kommunale Regierungssystem behindern, wenn nicht sogar lähmen können: Durch die getrennte Wahl der Ratsmitglieder und des Bürgermeisters ist es gar nicht selten zu regelrechten Cohabitations-Systemen gekommen: Ein Bürgermeister der A-Partei steht einem von der B-Partei dominierten Rat gegenüber. In manchen Gemeinden hat dieses Blockadeverhältnis zu massiven Behinderungen der Gemeindeorgane geführt. Demokratie ja - aber in diesen Fällen kann das auch die Gefahr des tendenziellen Abschieds von der lokalen Effizienz bedeuten.

Die Einführung der Direktwahl war beseelt vom Wunsch, die Menschen näher an die Kommunalpolitik zu führen. Allerdings sagt die Statistik, dass die Urwahl keine besondere Wahlmotivation zu sein scheint: In NRW etwa lag die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 1999 mit der ersten Bürgermeister-Direktwahl unter der vorherigen. Dieser Abwärtstrend muss seit längerem beobachtet werden und hat sich bei den jüngsten Kommunalwahlen weiter verstärkt.

Neben den beiden hier beleuchteten, zentralen Beteiligungsinstrumenten haben auf der kommunalen Ebene auch viele weitere Einbindungsmöglichkeiten der Bürgerschaft ihr Zuhause: Vom Bürgerhaushalt über Bürgerinitiativen bis hin zu Planungszellen oder Runden Tischen reicht die Partizipationspalette. Die Bürgermeister der genannten Befragung maßen diesen Instrumenten auch hohe Bedeutung bei - und wollen sie teils sogar weiter ausbauen.

Bürgerbegehren, Bürgerentscheide und die Direktwahl der Bürgermeister als aktuelle und zentrale Beteiligungsinstrumente ermöglichen ohne Frage ein Mehr an lokaler Mitsprache der Bürger, auch wenn die Beteiligungen an den partizipativen Abstimmungen bisher manchmal noch zu wünschen übrig lassen. Die Partizipationsorientierung in der Kommune hat sich bewährt und kann Vorbildfunktion für die übrigen politischen Ebenen haben. Insgesamt darf festgehalten werden, dass Willy Brandt den Bürgern nicht zu viel zugetraut hat: Man kann, man sollte und man wird den Menschen mehr Mitsprache in ihren eigenen Angelegenheiten einräumen und darf also getrost "mehr Demokratie wagen".

Dr. Georg Nienaber ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Uni Münster und Persönlicher Referent des Oberbürgermeisters von Eisenach.


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