Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
Hiltrud Naßmacher

Europa ist zugleich Chance und Belastung

Die Zukunft der Kommunen in einer immer einflussreicher werdenden EU
Die EU-Osterweiterung und Verfassungsdiskussionen haben vielen kommunalen Akteuren wieder ins Bewusstsein gerufen, dass Europa Belastung und Chance zugleich sein kann. Dennoch überwiegen aus städtischer Sicht zunächst die Befürchtungen, die aus der Erweiterung resultieren. Diese beziehen sich vor allem auf den Rückgang von Fördermitteln, in Niedriglohn- und Niedrigsteuerländer abwandernde Betriebe sowie - mit einiger Verzögerung - die Konkurrenz von billigen Arbeitskräften vor Ort.

Von der Osterweiterung sind allerdings nicht alle Kommunen im gleichen Maße betroffen, denn die räumliche Entfernung zu den Erweiterungsländern dürfte selbst bei wachsender Mobilität noch immer eine Rolle spielen. Mögliche finanzielle Ausfälle treffen aber auch weiter entfernt liegende Kommunen, die im Vergleich zu den Neuzugängen wirtschaftlich besser dastehen. Sie werden sich in Zukunft auf reduzierte Fördermittel einrichten müssen, selbst wenn dies nur einen Teil der möglichen Finanzzuweisungen betrifft. So bleibt festzuhalten, dass angesichts hoher Haushaltsdefizite und zum Teil schmerzhafter Sanierungsvorgaben der kommunalen Aufsicht für die Haushalte hier Kürzungen möglich sind und Phantasie für die Ausschöpfung neuer Finanzquellen nötig ist.

Im Zuge der Integration Europas bis hin zur heutigen EU sind viele Entscheidungen auf europäischer Ebene gefallen, die als empfindliche Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten der Kommunen empfunden wurden. So müssen Verordnungen der EU unmittelbar umgesetzt werden, die Richtlinien (künftig Rahmengesetzgebung, laut EU Verfassungsentwurf) nach entsprechender Gesetzgebung des Bundes oder Landes. Erwähnt seien vor allen Dingen die Deregulierung des Strommarktes und des öffentlichen Personennahverkehrs, das Erfordernis europaweiter Ausschreibungen bei der Auftragsvergabe ab einer bestimmten Höhe und Auflagen im Umweltschutz.

Die Versorgung mit Strom, Wasser und öffentlichem Nahverkehr war bis zu den Eingriffen der EU Aufgabe der Stadtwerke, geschützt durch Konzessions- und Demarkationsverträge. Mit einer Mischkalkulation konnten die Kommunalpolitiker den notorisch defizitären öffentlichen Personennahverkehr im Rahmen des Versorgungsverbundes zugunsten des Umweltschutzes fördern, indem sie durch Gewinne beim Wasser- und Energieverkauf die Fahrpreise niedrig hielten. Diese Quersubventionierung ist nun nicht mehr möglich. Die Versorgungsunternehmen als Monopolanbieter müssen sich dem europaweiten Wettbewerb stellen, um dem Verbraucher den Zugang zur günstigsten Versorgung zu ermöglichen. Die Folge sind schon jetzt Zusammenschlüsse ehemaliger selbstständiger städtischer Anbieter.

Bei europaweiten Ausschreibungen von Auftragsvergaben wurde vor allem der aufgezwungene Mehraufwand (unter anderem Ausschreibung in englischer Sprache, mehr Bewerber und damit die Verlängerung der Auswahlverfahren) gesehen. Inzwischen wissen Kommunalverwaltungen mit diesem Erfordernis umzugehen und bleiben bei Vergaben möglichst unter den festgesetzten Schwellenwerten, so dass sich das Problem nur für Großprojekte ergibt. Ebenso verursachten Richtlinien zum Umweltschutz mehr Verwaltungsaufwand. Sie führten zur Einführung von Abfallbeseitigungsplänen und zur Umweltverträglichkeitsprüfung für Investitionsvorhaben. Auch Normen für Emissionen bei der Müllverbrennung wurden erlassen. Diese hätten allerdings nach Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Umweltschutz ohnehin auf die Agenda der kommunalen Politik gesetzt werden müssen oder wurden bereits eingehalten.

Im Lichte dieser veränderten Rahmenbedingungen lässt sich kein Stillstand der Stadtpolitik erkennen. Die Städte überbieten sich mit Investitionen im Freizeitbereich und sie weisen neue Flächen für Wohnen und Gewerbeansiedlung aus. Jede Stadt sieht als ihre besondere Herausforderung die Gefahr, dass ihre Attraktivität für die eigenen Bürger sowie für diejenigen des Umlandes verloren geht und will mit Aktivitäten in diesen Bereichen den möglichen Abstieg vermeiden. Das Gebot einer Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen wird dabei häufig überinterpretiert und ordnet sich ganz den scheinbar gerade modischen Bedürfnissen unter: Waren es in den 70er-Jahren die Mehrzweckhallen und Schwimmbäder für die Sportvereine, so sind heute Spaßbäder mit Wellnesseinrichtungen sowie Mehrzweckarenen für den Zuschauersport und andere Großevents das A und O. Fand in den 70er-Jahren das Einkaufserlebnis in den Fußgängerzonen statt, so sind derzeit gigantische, wetterunabhängige Malls angesagt. All diese Maßnahmen sollen dazu dienen, die Zentralität in der Konkurrenz zu anderen Städten zu erhalten und die Anziehungskraft zu verbessern.

Möglich werden diese Großinvestitionen meist durch Public-Private-Partnership, wobei die Städte und Gemeinden neben den Ländern und der EU nur mitfinanzieren. Sie bleiben aber - wie sich inzwischen bei vielen ganz oder teilweise gescheiterten Großprojekten zeigt - auf einem ziemlich unkalkulierbaren

Restrisiko sitzen. Die sich aus diesem Wettkampf ergebenden Probleme, unter anderem Investitionsruinen, sind größtenteils hausgemacht. Der Verweis auf überörtliche Schuldige erweist sich als bloße Externalisierung der Verantwortung.

Europaweit gültige Entscheidungen können auch als Chancen gesehen werden, längst überfällige Handlungsoptionen zu nutzen und Handlungszwänge abzustreifen. Handlungsoptionen sind beim öffentlichen Nahverkehr zu erkennen. So sind die Verkehrsverbünde durch abgestimmte Fahrpläne und einheitliche Preissysteme unterschiedlicher Anbieter für die Benutzer von Vorteil. Handlungszwänge entfallen beispielsweise durch das Verbot, finanzielle und geldgleiche Leistungen im Rahmen der Wirtschaftsförderung an private Unternehmen zu transferieren. Dadurch könnte der Konkurrenzdruck der Städte untereinander, der Attraktivität für Ansiedlungsinteressenten durch Subventionen bearbeitete, zumindest gemildert werden. Allerdings bleibt die Frage, ob außer in eklatanten Fällen eine Einhaltung dieser Regeln durch die EU überprüft werden kann.

Stadtentwicklungspolitik wird heute immer noch als Baupolitik gesehen. Wenn sich in der Stadt die Baukräne drehen, gilt das als Sprung nach vorn. Stadtqualität misst sich allerdings nicht nur an einem modernen Stadtbild, sondern auch am friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Herkunft. Die Bedeutung der "sozialen Stadt" ist stärker ins Bewusstsein gerückt, nachdem Ghettos von Bewohnern ausländischer Herkunft und sozial schwächeren Bevölkerungskreisen insbesondere in großen Städten zunahmen. Eine wesentliche Hilfe zur Integration bedeutet es, dass nunmehr alle EU-Bürger in dem Mitgliedstaat, in dem sie längerfristig ihren Wohnsitz haben, auf der kommunalen Ebene wählen und gewählt werden dürfen. Allerdings sind die örtlichen Organisationen am Zuge, diese Chance mit Leben zu erfüllen. Dies gilt besonders für die Parteien, die unterschiedliche Interessen bündeln sollen. Sie sind gefordert, diese Bevölkerungskreise zu ermuntern, ihre Probleme in den Willensbildungsprozess einzubringen und sie für die Wahrnehmung ihrer Rechte zu gewinnen.

Insgesamt sind die Kommunen durch die EU in einen immer komplizierteren Handlungsrahmen eingebunden. Städte und Gemeinden müssen darin als Unternehmer tätig werden. Dabei sind verwaltungsstarke Großstädte in einer besseren Ausgangsposition, weil sie bei Projekten auch selbst als Einzellobbyisten in Brüssel auftreten können. Den mittleren und kleinen Städte bleibt nur, sich auf ihre Verbände zu verlassen, die auch im beratenden Ausschuss der Regionen vertreten sind. Selbst mittlere Städte leisten sich zuweilen bereits einen EU-Beauftragten, der einerseits vielfältige Lobbyfunktionen bei den politischen Akteuren auf der europäischen Ebene wahrnimmt, andererseits die finanziellen Fördermöglichkeiten im Hinblick auf die Finanzierung von ergänzenden Leistungen prüft.

Der Verfassungsentwurf benennt als zwischen EU und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeiten beziehungsweise als Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen unter anderem Verkehr und transeuropäische Netze, Energie, Sozialpolitik, Wirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz, Gesundheit, Bildung, Sport, Kultur und Zivilschutz. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die EU nur tätig, soweit "die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können" (Artikel 9). Eine stärkere Vertretung der Kommunen ist auch im Verfassungsentwurf (Artikel 31) nicht vorgesehen. Sie würde das Entscheidungs-system der EU noch komplizierter und damit handungsunfähiger machen.

Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung ist auch nach Einbindung in den Politik- und Finanzverbund der EU nicht in Gefahr. Nicht umsonst betont die seit den 90er-Jahren forcierte Verwaltungsreform neben der Effizienz der Aufgabenerledigung die Bürgernähe der Kommunen. Das Übergewicht der Verwaltung wurde durch neue Beteiligungsformen abgemildert. Die Frage ist allerdings, ob die gegebene Kleinteiligkeit der Entscheidungen durch mehr Kooperation bei Großprojekten abgelöst werden müsste. Ei-nerseits ist Konkurrenz wichtig für die Aktionsbereitschaft der Akteure. Andererseits hat die Konkurrenz der Städte vielfach zu Überinvestitionen und damit zu deren mangelhafter Auslastung geführt, was wiederum als Verschwendung öffentlicher und privater Mittel für Konsumzwecke abqualifiziert werden muss.

Beispiele finden sich nicht nur im Freizeitbereich, sondern auch bei der Ausweisung und Erschließung von Flächen für die Ansiedlung von Gewerbe. Trotz zunehmender Leerstände bei Läden in den Stadtzentren werden diese durch großräumige Einkaufszentren ergänzt. Um in Zukunft Fehlinvestitionen zu vermeiden wäre es angesagt, dass sich die Städte und Gemeinden bei Investitionsvorhaben in der Region stärker abstimmen. Die EU trägt zwar durch ihre Vergabeprinzipien für finanzielle Zuschüsse zur Regionalisierung bei. Allerdings sind die Kriterien doch sehr allgemein.

Seit Jahrzehnten wird auch durch Raumordnung und Landesplanung versucht, die Probleme in den Griff zu bekommen. Landesregierungen setzen sich inzwischen für eine aktive Implementation der Rahmenplanungen ein, zum Beispiel mit Programmen zur Stärkung der Stadtmitte und zum Stopp ausufernder Entwicklung von Einkaufsgelegenheiten auf der grünen Wiese. Selbstverpflichtungen im Rahmen von Kernstadt-Umland-Vereinbarungen, die die weitere Zersiedlung der Landschaft durch eine Abstimmung bei Flächenausweisungen für Wohnen und Gewerbe vermeiden sollten, hatten nur geringen Erfolg.

Dies ist auf die eher schwache Institutionalisierung der Zusammenarbeit in Regionen zurückzuführen, während die Einbindung der Kommunen in das Entscheidungssystem des Gesamtstaates historisch gewachsen und im Grundgesetz fest verankert ist. Daher sind die regionalen, kooperativen Diskussions- und Entscheidungsgremien, die zum Teil auch nicht-staatliche Akteure aus Wirtschaft und Umweltschutz einbeziehen, weniger durchsetzungsstark. Dies gilt, obwohl gemeinsamer Problemdruck aller Beteiligten (beispielsweise Wieder- und Umnutzung alter Industriegebiete, Abwanderung von Bevölkerung und Wirtschaft aus den Kernstädten) den Anstoß zur Zusammenarbeit gab. Ein gutes Beispiel dafür ist das Ruhrgebiet mit seiner seit Jahren etablierten Kooperation und verbleibender, intensiver Städtekonkurrenz. Hier fallen die von der Wissenschaft vielfach formulierten Erwartungen an zukunftsträchtige Kooperationen und die tatsächlich erreichten Wirkungen immer noch weit auseinander.

An die Regionen müssten Genehmigungskompetenzen von den Städten übertragen werden, die sich auf Investitionsvorhaben von stadtübergreifender Bedeutung beziehen. Die kommunale Selbstverwaltung wird dadurch nicht überflüssig, im Gegenteil. Eine zielgenaue Förderung der quartierspezifischen Entwicklung verlangt Entscheidungsträger, die kleinräumig Probleme erkennen und die Wirkungen von Lösungswegen einschätzen können.

Hiltrud Naßmacher ist Professorin für Politikwissenschaft an der Uni Oldenburg.


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