Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 - 10 / 28.02.2005
Andrea K. Riemer

National Interest - ein UN-Begriff?

Das Gewinnen des Friedens scheint komplizierter als der Gewinn eines Krieges
Kaum ein Begriff wurde im Zusammenhang mit der Diskussion um den Irakkrieg mehr strapaziert als jener der nationalen Interessen. Den USA warf man vor, Machtgier und hegemoniale Ambitionen unter dem Etikett der Absicherung nationaler Interessen zu verstecken. Manche Kritiker konnten eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen, als die USA zur Kenntnis nehmen mussten, dass das Gewinnen eines Krieges offenbar leichter ist als das Gewinnen eines Friedens.

Im Rahmen der Flutkatastrophe in Asien 2004/2005 war von nationalen Interessen kaum die Rede. Vielmehr ging es um Gemeinschaftsinteressen, um die Linderung von großer Not und um Trost in emotional kaum vorstellbaren menschlichen Dramen. Europa durfte endlich das tun, was es am Besten kann - spenden und mitfühlen.

Man darf aber davon ausgehen, dass die umfangreiche finanzielle Hilfe seitens europäischer Staaten auch als eine Möglichkeit gesehen wird, sich für künftige wirtschaftliche und politische Aktivitäten den Platz in der ersten Reihe zu sichern. Das Notwendige kann mit dem Nützlichen verbunden werden. Europa kann seinem Ruf als saturierter, im Wohlstand versinkender, kriegsverweigernder Kontinent entkommen, gleichzeitig Entschiedenheit beweisen und Flagge zeigen. Europa tut dies anders, als dies die USA bislang immer taten. Wesentlich ist, dass Europa konkrete Schritte setzt, Interessen definiert und gegebenenfalls auch machtpolitische Instrumente (wie zum Beispiel finanzielle Unterstützung) einsetzt.

In der Politik gibt es kein karitatives Engagement. Interessen und offizielle Verpflichtungen (als Deck-mantel für nationale Interessen) sind die Triebfedern für politisches Handeln. Bereits Max Weber meinte, dass materielle und immaterielle Interessen die Handlung von Menschen dominieren. Nationale Interessen sind der Kern geopolitischer und gesamtstrategischer Interessen.

Das Beispiel Irak zeigt, dass, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind und die US-Interessen substantiell gefährdet sind, man nationale Interessen auch mit Waffengewalt durchzusetzen bereit ist. Dies ist der amerikanische Weg, der sich vom europäischen Vorgehen erheblich unterscheidet, wie sich 2002/2003 zeigte. Die Verstimmung in den transatlantischen Beziehungen rührt auch aus unterschiedlichen Zugängen zur Definition von nationalen Interessen her.

Nationale Interessen finden sich in Grundzügen bereits bei Machiavelli. Ihm ging es in seinen Ausführungen um die Schaffung der Einheit Italiens und die Befreiung von den Besatzungsmächten. Im Zentrum stand der Fürst. Seine Ziele waren Machterreichung und Machterhalt. Dies bedurfte eines klar abgesteck-ten Rahmens und rechtfertigte den Einsatz von Gewalt, um die Interessen zu erreichen und abzusichern.

Selbst höchste moralisch gerechtfertigte Ziele können nur mit der entsprechenden Macht und dem Willen, diese zu nutzen, erreicht werden. Staaten sind künstliche Gebilde und somit amoralisch - im Gegensatz zu Menschen, die sowohl eine Seele als auch Moral haben. Staaten haben kein "Nachleben in einer himmlischen Welt"; Menschen hingegen haben - zumindest nach der Religion - diese Möglichkeit. Ein kleiner Rest mittelalterlicher Denker verblieb in der Nationalen-Interessen-Debatte: Machiavellis Zutritt führte zu einer Zurückdrängung idealistischer Ansätze, die auf der jüdisch-biblischen Moral beruhten und von Thomas von Aquin vertreten wurden.

Auch bei Thomas Hobbes finden sich weitere Ideen, die die Konzeption der nationalen Interessen maßgeblich beeinflussten. In einer Hobbes'schen Welt, in der Gewalt, Terror und Anarchie herrschen, müsste man sich den rauen Gepflogenheiten anpassen und nach den "Gesetzen des Dschungels" verfahren. Hobbes hat unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges im Kapitel 13 des Leviathan festgehalten: "Die Zeit aber, in der kein Krieg herrscht, heißt Frieden". Im Frieden werden allenfalls "faktische Feindseligkeiten" eingestellt, die vom "Vorsatz" getrieben sind, "Gewalt mit Gewalt zu vertreiben". Auch der Machtanalytiker Michel Foucault bezeichnete Frieden als nachrangiges Phänomen. Er sei nur eine andere "Form des Krieges".

Krieg, Frieden und nationale Interessen wurden zu einem untrennbaren Netz verwoben. Im Regelfall verbindet man heute die Durchsetzung nationaler Interessen mit einer hohen Gewaltbereitschaft - aufgrund der historischen Erfahrung nicht ganz zu Unrecht.

Clausewitz argumentierte hingegen, wohl unter dem Einfluss seiner Erfahrungen im 19. Jahrhundert, dass Staaten durch das Bedürfnis zu überleben und zu wachsen, vorangetrieben werden. Das Konzept der Staatsräson beeinflusste das europäische Denken maßgeblich und prägte so die Wahrnehmung der nationalen Interessen ebenso wie Bismarcks Realpolitik.

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Wende. Wohl unter dem Einfluss der Idealisten wurden nationale Interessen moralisch-legalistisch definiert (zum Beispiel durch B. Woodrow Wilson). Der Begriff erhielt eine positive Konnotation - offenbar unter dem Eindruck der Stimmung "Nie wieder Krieg".

Nach der Zwischenkriegszeit, die von einem starken Brain Drain aus Europa gekennzeichnet war, setzte sich der Realismus in den amerikanischen Denkschulen und an den Universitäten durch. Das Pendel konnte zur anderen Seite ausschwingen, da die Ideen der Idealisten historisch belegbar kläglich versagt hatten.

Das realistische Gedankenbild geht von der Annahme aus, dass Politik auf objektiven Gesetzen basiert, die in der menschlichen Natur verwurzelt sind und sich nicht verändern. Seine These lautet: "Der Kern der Politik ist der Kampf um Macht". Das Konzept des Interesses bleibt konsistent, während sich Form und Natur der Macht eines Staates verändern können. Das Verhalten des Staates wird vom Kampf ums eigene Überleben bestimmt. Moral und ethische Prinzipien finden nur auf der Individualebene Berücksichtigung.

Nationale Interessen bedeuten in diesem Verständnis die Gleichsetzung mit Macht im Sinne von power. Nimmt man das Hobbes'sche Weltbild, auf das sich die Vertreter des Realismus berufen, so geht man von einem Kampf der Staaten untereinander aus, wobei das Überleben ("survival") im Zentrum steht. Nationales Interesse ist damit nationales Überleben, das die rational kalkulierte Ausübung von Macht rechtfertigt.

Es ist bekannt, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Ausbrechen neuer Konflikte in Europa nur durch ein "Gleichgewicht des Schreckens" verhindert worden ist. Schon die glaubhafte Androhung, den Feind notfalls mit einem atomaren Gegenschlag zu vernichten, hat Krieg verhindernd und Frieden erhaltend auf die beiden Großmächte und ihre Satellitenstaaten in Europa gewirkt. Manche Autoren wie Paul Wolfowitz, James Woolsey und Eliot Cohen nennen diese Phase den Dritten Weltkrieg, den die USA durch Wettrüsten und Eindämmung des kommunistischen Antagonisten gewonnen hätten. Das nationale Interesse war nationales Überleben in einem feindlichen Umfeld unter teilweise extremen Bedingungen, die mit jenen des 30-jährigen Kriegs vergleichbar sind.

In den 90er-Jahren kam es in den USA zu einer Kehrtwende, die alles andere als eine "strategische Atempause" war. Es begann ein Umdenkprozess, der die nationalen Interessen neu beurteilte und definierte. Der "unipolare Moment" (Charles Krauthammer) und die Erklärung des universellen Nationalismus zur Staatsdoktrin gingen an den Europäern vorbei, da sie mit sich selbst befasst waren.

Aus der Sicht der USA hat die Welt seit 1990 nur noch einen Pol. Eine einzige Supermacht erhebt sich über den Rest der internationalen Gemeinschaft und gestaltet die Welt nach ihren Interessen und Idealen.

Mitte der 90er-Jahre präsentierte Paul Wolfowitz ein Papier, in dem künftige US-Außenpolitik in ihren Grundzügen umrissen wird: Festschreibung der US-Dominanz, Präemption als präventive Kriegsführung und Regimewechsel als legitimes Mittel der Politik.

Dieser Neuorientierung ist von den meisten anderen Staaten und Nationen lange Zeit keine große Bedeutung beigemessen worden. Vor allem Europa reagierte auch dann nicht, als die USA begannen, sukzessive aus internationalen Vereinbarungen, Protokollen und Verträgen mit anderen Staaten oder Organisationen auszusteigen. Die Bühne für "neue nationale Interessen" - amerikanische Interessen - war bereitet.

Der Schwerpunkt hatte sich nach Zentralasien, in den Mittleren Osten und nach Fernost verschoben. Europa hatte sich offenbar vom Lächeln Bill Clintons täuschen lassen. Signale aus der Administration, die auf einen "Multilateralismus à la carte" (Richard A. Haass) hindeuteten, wurden überhört.

Bereits unter Bill Clinton machte in Washington die Rede von der "indispensible nation" die Runde; schon damals gab es eine Reihe an Beschwerden über die Arroganz und Selbstüberschätzung des Hegemons und die harte Ausnutzung seiner Machtposition; bereits 1996 war die Militärplanung der USA auf der Grundannahme gebaut, dass man in der Lage sein müsste, gleichzeitig zwei Kriege in verschiedenen Regionen der Welt zu führen und zu gewinnen. Die Bush-Administration hat dieser Politik neuen Schwung verliehen. Der 11. September 2001 hatte einen dramatischen Beschleunigereffekt für den ausgeprägten Unilateralismus und die "neuen nationalen Interessen".

Begründet wird dies mit einem "Hobbes'schen Zustand": Die größte Bedrohung für die Sicherheit der USA sind failed states. Sie gefährden die Durchsetzung nationaler Interessen der USA. In jeder Ecke und in jedem Winkel dieser Erde könnte der Feind lauern und mit Massenvernichtungswaffen die Sicherheit des Landes bedrohen, an der Heimatfront ebenso wie im Ausland, vor allem im Greater Middle East.

Diese Kombination wird als sicherheitsgefährdend wahrgenommen - und es gibt dafür aus amerikanischer Sicht auch genügend Sachbeweise. Nationale Interessen dienen als Argument, um sicherheitsrelevanten Aspekten zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser Weg hat die USA und das Konzept des nationalen Interesses in die internationale Kritik gebracht, weil es aufgrund der Negativbesetzung der Begriffe Macht, Machtpolitik, Realpolitik und der missbräuchlichen Verwendung des Konzeptes zu Konfrontationen "im Namen desselben" kam. Weil der hohe Interpretationsspielraum durch den politischen Entscheidungsträger das Konzept überflexibel werden ließ und so mit zu einer missbräuchlichen Verwendung beitrug, die Eingebundenheit von politischen Entscheidungen in einen so genannten "größeren Kontext" nicht ausreichend berücksichtigt werden kann. Zum Beispiel wird ein politischer Machtwechsel kaum mit einem "sauberen Schnitt" vollzogen; vielmehr "erbt" der Entscheidungsträger die Ausgangssituation von seinem Vorgänger; dies kam sehr deutlich in den diversen Hearings vor der 9/11-Commission des US-Congress heraus. Der Begriff des "National Interest" in Bezug auf die USA findet sich seit 1776 in zahlreichen Aufsätzen und Büchern. Der spezifische amerikanische "National Interest" ist durch eine Fülle an Faktoren geprägt, die sich nur bedingt auf europäische Verhältnisse umlegen lassen.

Würde man ausschließlich den US-Ansatz zum Nationalen Interesse auf andere Staaten anzuwenden versuchen, so würde man einen quasi-historizistischen Weg wählen. Die Individualität und das Situative würden nicht ausreichend oder gar nicht Berücksichtigung finden. Dennoch bietet eine Analyse des "US-National Interest" einen von mehreren möglichen Wegen, vielleicht sogar eine Art Ideal- oder Maximalvariante, wie man den Begriff definieren kann. Einen Definitionsversuch startet man günstigerweise mit eine Reihe von Fragen, die einander bedingen und beeinflussen.

Daraus ergeben sich Einflüsse aus den Bereichen der Ideologie, des globalen Systems, der öffentlichen Meinung, der Meinung von Eliten, den Massenmedien. Abrundend wirkt auch das systeminhärente Beharrungsvermögen der Politik auf die Festlegung des Nationalen Interesses ein. Es bleiben die Fragen:

- Welches sind vitale Interessen, welche weniger wesentliche Interessen?

- Wie kann man sich über diese vitalen Interessen ein klares Bild machen?

- Welche Methoden helfen dabei?

- Welchen Herausforderungen und welchen Möglichkeiten wird der Staat in den kommenden zehn Jahren gegenüber stehen?

Ein zu hoher Detaillierungsgrad ist nicht sinnvoll, da es sich um ein Gesamtbild handelt, welches das nationale Interesse ergibt.

Die Beantwortung der Frage, was Europa tun kann, ist Grundbedingung, wenn sich der Kontinent auf der globalen Bühne als ernstzunehmender Akteur positionieren will. Gerade die nationale Fragmentierung von Interessen ist einer der europäischen Schwachpunkte. Es geht daher darum, europäische Interessen zu finden und sich darauf zu verständigen. Dann wird man vielleicht in der Lage sein, eine ernstzunehmende "europäische Grand Strategy" zu erarbeiten. Diese kann als Grundlage für ein ernstzunehmendes Europa dienen, bedingt aber auch, dass Europa sich selbst ernst nimmt. Um in die richtige Richtung zu gelangen, bedarf es noch einiger Korrekturen - vor allem aber eines gemeinsamen europäischen politischen Willens, denn Interessenfestlegungen sind letztlich Willensbekundungen. Daran mangelt es Europa - noch.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.