Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
Ernst-Otto Czempiel

Politikern mangelt es an Kenntnis

Dieter Senghaas als unermüdlicher Friedensforscher
Dieses Buch könnte aktueller nicht sein. Es stellt mit dem "irdischen Frieden" das weltpolitische Hauptziel heraus, das den Westen anleiten und orientieren sollte. Die Sozialwissenschaft erliegt immer wieder der Versuchung, sich mehr mit den Ursachen der Kriege als mit denen des Friedens zu beschäftigen. Den "neuen Kriegen" gilt die politische Aufmerksamkeit, dem Krieg gegen den Terror ohnehin. So schleicht sich langsam das veraltete Paradigma der Realpolitik wieder zurück, indem zwar gern nach den Ursachen der Kriege, aber nie nach denen des Friedens gefragt worden ist.

Diese Weltvorstellung war zwar durch die Ereignisse von 1989/90 definitiv als veraltet ausgewiesen worden. Die daraus eigentlich fällige Dividende des Friedens hat die Politik aber nie bezahlt. Inzwischen lässt sie ganz unverblümt erkennen, dass sie im Zeichen der so genannten Normalisierung die sich im Ende des Ost-West-Konflikts offenbarende Herausforderung einer auf den Frieden gerichteten Außenpolitik für erledigt hält.

Senghaas gehört zu den ganz Wenigen, die sich diesem Trend entgegengestellt, als Oberziel der Außenpolitik stets den Frieden betont und dessen Erforschung als wichtigste Aufgabe der Sozialwissenschaft angesehen haben. Fast alle seine Publikationen sind diesem Thema gewidmet. Jetzt hat er deren analytische Summa vorgelegt. Ihre Quintessenz lautet, dass der Friedensprozess auf die Ausbildung des zivilisatorischen Hexagons angewiesen ist, dessen Basis eine zureichende und zunehmende wirtschaftliche Entwicklung darstellt. Im Zentrum der Diskussion über die Bedingungen von Frieden "im einzelstaatlichen, regionalen und weltpolitischen Kontext" steht für ihn der universale Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung. Über diese Monokausalität kann man streiten. Denn damit schränkt Senghaas die Komplexität, die er sehr zu Recht dem Friedensproblem zuweist, wieder etwas ein. Indem er sich auf den Sachbereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt konzentriert, vernachlässigt er den der Sicherheit und den der Herrschaft. Dennoch ist diese Beschränkung plausibel. Da die Sicherheit in der Regel überbetont wird, wenn von Frieden die Rede ist, ist der Leser dankbar, wenn er hier über die Friedensursachen im Bereich der Wirtschaft informiert wird.

Senghaas bringt dazu die besten Voraussetzungen mit, hat er sich doch jahrelang mit der asymmetrischen Verteilung von Entwicklungschancen beschäftigt, die unsere Welt seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet. Sein Buch liest sich daher streckenweise wie eine Universalgeschichte der sich ausbildenden Wirtschaftswelt mit den dazugehörigen Machtfiguren der Hegemonie, des Imperialismus und Kolonialismus, der Abhängigkeit und der Unterdrückung. Dieses "Entwicklungsdilemma" stellt Senghaas dem von der Theorie des Realismus einseitig betonten "Sicherheitsdilemma" gleichrangig zur Seite. Es war wirklich höchste Zeit, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Fortschritts untersucht und die gleichmäßigen Entfaltungschancen des Menschen als entscheidende Friedensursache nachgewiesen wurden. Die wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht schließlich erst die komplexe Friedensfigur mit ihren verfassungspolitischen, institutionellen, rechtlichen und emotionalen Komponenten. Sie waren schon von Alfred H. Fried in den 20er-Jahren entdeckt worden. Senghaas hatte sie 1982 zu seinem zivilisatorischen Hexagon weiterentwickelt, unter dessen sechs Bestandteilen die Rechtsstaatlichkeit und die Verteilungsgerechtigkeit hervorragen. Erst aus dieser inneren Ordnung entspringt die "auf Verständigung und Kompromiss" gerichtete Außenpolitik, die den Frieden als Prozessmuster konstituiert.

Interdependenz und Globalisierung

Senghaas stützt seine moderne, den Wissensstand der Friedensforschung widerspiegelnde These mit Verweis auf Thomas von Aquin ("pax opus iustitiae"), auf den Slogan der Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts, dass, wer den Frieden will, Freiheit und Gerechtigkeit erzeugen muss, und schließlich sogar auf Sigmund Freud, dem er einen ausführlichen und hoch interessanten Exkurs widmet. Der Tradition hat Dieter Senghaas (zusammen mit seiner Frau Eva) schon 1992 eine eigene komplexe Antwort hinzugefügt: "Wenn Du den Frieden willst, bereite den Frieden vor."

Dieser Aufruf zu einer Politik, die endlich die komplexen Ursachen des Friedens zur Kenntnis nimmt und ihre Praxis deren Verwirklichung widmet, zeigt auch, wie weit die aktuelle Politik noch davon entfernt ist. Dem Leser drängt sich der Verdacht auf, dass es nicht an gutem Willen, sondern an der Fachkenntnis mangelt, deren notwendigen Umfang das Buch eindringlich vermittelt. Der Autor hat die Frage nicht gestellt, aber die Lektüre seines Buches wirft sie auf: Wie sollen die Außenpolitiker die Kenntnisse erwerben, deren Friedensrelevanz Senghaas hier überzeugend ausbreitet? Nach der systematisch-theoretischen Grundlegung untersucht der Autor, wie es um den Frieden in der Welt heute bestellt ist. Den Ost-West-Konflikt referiert er unter dem Stichwort der Interdependenz, den Nord-Süd-Konflikt unter dem der Globalisierung. In diesem Kapitel streift er die Sachbereiche der Sicherheit und der Herrschaft und damit die sich seit den 70er-Jahren ausbreitende Demokratisierung. Senghaas benutzt einen weit gefassten Interdependenzbegriff, der sich mit der Feststellung einer gegenseitigen Abhängigkeit zufrieden gibt. Das erlaubt ihm, Felder der internationalen Politik und verschiedene Prozessmuster darin zu unterscheiden, wird aber dem Begriff der Interdependenz, wie er in der internationalen Wissenschaft benutzt wird, nicht ganz gerecht.

Überhaupt fällt auf, dass deren Forschungsergebnisse von Senghaas nur selten herangezogen werden. Dabei haben Konstruktivismus und Neuer Institutionalismus die Demokratiediskussion und Wissenschaftler wie Bruce Russett sowie Robert Jervis viel einschlägiges Wissen bereitgestellt. Das Buch extrahiert, was der Autor in seinem umfangreichen Oeuvre an friedensrelevanten Kenntnissen gewonnen hat. Sein kategorischer Imperativ (um, wie der Autor mit der Anlage und Untergliederung seines Buches, unter den Mantel des großen Philosophen zu schlüpfen) lautet: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns eine gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung aller politischen Einheiten zur Rechtsstaatlichkeit bewirkt, deren interne Regulative gleichermaßen ihre Außenpolitik und die daraus resultierende Weltpolitik determinieren.

Konkrete Anweisungen für die aktuelle Politik hat Senghaas, wie seinerzeit Kant auch, nicht gegeben. Sein Buch arbeitet die wirtschaftlichen Strukturen he-raus, die den Frieden verursachen. Das ist Leistung mehr als genug. Zu den wichtigen Feststellungen gehört, dass der Friede ein extrem komplexes Projekt ist, das unter jeder Vereinfachung leidet. Es kann analytisch nur arbeitsteilig erforscht werden; die konkrete Umsetzung in Außenpolitik muss das gesamte politische System integrieren. Der Friede ist als Projekt in der Tat unteilbar. Er muss in allen Politikfeldern als handlungsanleitend umgesetzt, kann aber von einem Autor immer nur in einem Teil erarbeitet werden. Das hat Dieter Senghaas mit seinem Standardwerk exemplarisch geleistet.


Dieter Senghaas

Zum irdischen Frieden.

Erkenntnisse und Vermutungen.

Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp, Band 2384, Frankfurt/M. 2004; 302 S., 11,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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