Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 34 - 35 / 22.08.2005
Patrick Glogner

Spot an für das Publikum

Die Forschung kann den Dialog fördern

Das Kulturpublikum rückt gegenwärtig auffallend in das Rampenlicht der kulturpolitischen Aufmerksamkeit. Dafür sprechen nicht nur die vielen kulturpolitischen und kulturwissenschaftlichen Tagungen der vergangenen zwei Jahre, bei denen über das Publikum und seine zukünftige Rolle nachgedacht und diskutiert wurde, dafür spricht auch die große Nachfrage bei Kulturmanagern, Kulturverwaltern und Kulturpädagogen nach Erkenntnissen über das Publikum. So konnten alleine beim diesjährigen Kulturpolitischen Bundeskongress zum Thema "publikum.macht.kultur" knapp 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt werden.

Das Thema "Kulturpublikum" hat derzeit Konjunktur, während ihm noch bis vor wenigen Jahren kaum Beachtung geschenkt wurde. Entsprechend steht der steigende Bedarf nach Erkenntnissen über das Publikum in einem deutlichen Missverhältnis zu den vorhandenen wissenschaftlichen Befunden.

Wo liegen nun die Gründe dafür, dass dem Publikum lange Zeit von Seiten der Kulturpolitik und Kulturwissenschaft kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde? Und warum ist das Publikum momentan das zentrale kulturpolitische Thema? Als ein Grund für das bisher so geringe Interesse am Publikum kann zunächst die erfolgreiche Umsetzung einer "Neuen Kulturpolitik" seit den 70er-Jahren angeführt werden. Die Neue Kulturpolitik verfolgte das gesellschaftspolitische Ziel, über Kultur Kommunikation zu stiften und Emanzipation sowie Demokratisierung zu fördern. So begrüßenswert diese Absichten sind, so sehr stehen sie aber einer wissenschaftlichen "Erfolgskontrolle" im Hinblick auf die Adressaten, dem Kulturpublikum und den Kulturnutzern, im Weg. Der Kultursoziologe Gerhard Schulze spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten "Rechtfertigungskonsens". Damit ist gemeint, dass in der Kultur einer der wenigen Werte an sich gesehen wird, der keiner weiteren Rechtfertigung bedarf: "Öffentliche Kulturförderung" - so Schulze - "kann immer nur gut sein." Folge ist, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Kulturpolitik, kulturpolitischen Zielen und ihrer tatsächlichen Realisierung verhindert wird.

So nachvollziehbar die breite Zustimmung zu den gesellschaftspolitischen Intentionen der Neuen Kulturpolitik ist, so verständlich ist damit aber auch die bisherige Zurückhaltung in Bezug auf die wissenschaftliche Untersuchung und kulturpolitische Diskussion der Frage, inwiefern Kultur diese hohen Ansprüche auch tatsächlich erfüllt.

Ein weiterer Grund für das zurückhaltende Interesse am Publikum ist das - nach wie vor - überaus große Förderengagement der öffentlichen Hand im Kulturbereich. So beliefen sich die Kulturausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden im Jahr 2003 auf mehr als acht Milliarden Euro. Kultur in Deutschland ist im Wesentlichen öffentlich geförderte Kultur. Diese - aus kulturpolitischer Sicht richtige und wichtige - Erfüllung des Kulturauftrags führt jedoch zu einer Angebotsorientierung, die gleichzeitig die Nachfrager von Kunst und Kultur und damit auch die Notwendigkeit einer Publikumsforschung in den Hintergrund treten lässt.

Welche Entwicklungen sind nun aber für das ebenso unvermittelte wie überaus große Interesse am Publikum ausschlaggebend? Eine zentrale Rolle spielen sicherlich die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die dazu führen, dass öffentliche Kultur, Kulturpolitik und Kulturförderung wie nie zuvor mit Legitimationszwängen und Konkurrenzdruck konfrontiert werden. Beispielhaft genannt seien zunächst die Finanzlöcher der öffentlichen Haushalte und der damit einhergehende Rückgang öffentlicher Fördermittel, die zwangsläufig den Legitimationsbedarf für die Kulturinstitutionen erhöhen. Zudem verschärft sich auch die Konkurrenz mit anderen öffentlichen Angeboten wie Kindergärten, Schwimmbädern und Jugendhäusern, die von den angesprochen Entwicklungen nicht minder betroffen sind.

Zuwachs an Konkurrenz

Der Rückgang an öffentlicher Förderung erhöht jedoch nicht nur den Legitimationsbedarf, sondern natürlich auch den Finanzbedarf: Das fehlende Geld muss auf andere Weise erwirtschaftet werden. Damit stellt sich nicht nur die Frage, mit welchen Argumenten die politisch Verantwortlichen zukünftig von der Förderung der jeweiligen kulturellen Aktivitäten oder Einrichtungen überzeugt werden können, es stellt sich außerdem die Frage, auf welche Weise die Eigeneinnahmen gesteigert werden können. Eine Möglichkeit wird dabei häufig in der Steigerung der Zuschauer- beziehungsweise Besucherzahlen gesehen. Diese "Vermehrung des Publikums" ist jedoch das zweite große Problem, dem öffentliche Kultureinrichtungen und die Kulturpolitik gegenüberstehen. Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang die veränderten Bedingungen eines postmodernen Freizeitmarktes. Die Konkurrenz für die öffentlichen Kulturangebote nimmt stetig zu. Genannt seien zum Beispiel die Entwicklungen auf dem Medienmarkt - man denke nur an den DVD-Boom -, aber auch die wachsende Mobilität seit der Einführung von Billigflügen und dem Verkauf von Bahntickets in Supermärkten.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Nicht nur der Freizeitmarkt hat sich vergrößert und in eine Vielzahl verschiedenster Angebote ausdifferenziert, im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individualisierung kann man auch nicht mehr von dem "Theaterpublikum", den "Museumsbesuchern" oder dem "Kinopublikum" sprechen. Es gibt vielmehr höchst differente Publika mit überaus unterschiedlichen Kulturinteressen, Nutzungsanlässen und Ansprüchen an Kultureinrichtungen. Aus den drei aufgeworfenen Problembereichen - Legitimationsbedarf, Konkurrenzverschärfung und Differenzierung der Nutzergruppen - lässt sich jeweils direkt die kulturpolitische Relevanz einer verstärkten Publikumsforschung ableiten.

In Hinblick auf den Legitimationszwang ergibt sich durch Publikumsforschung die Chance wissenschaftlich fundierter Argumente zur Aufrechterhaltung und Förderung kultureller Angebote, wenn im Sinne der kulturpolitischen Ziele positive "Wirkungen" der Kultur beim Publikum evaluiert werden können. In diesem Zusammenhang ist die bisherige Zurückhaltung der wissenschaftlichen Überprüfung nachvollziehbar, da diese bei "unerwünschten" Ergebnissen gerade auch zum Gegenteil führen kann, das heißt zur Relativierung der Legitimation öffentlicher Kulturangebote. Dieses Risiko muss jedoch in Kauf genommen werden. Die alleinige Artikulation des guten Willens im Sinne des erwähnten "Rechtfertigungskonsenses" wird zukünftig nicht mehr ausreichen. Angemerkt sei, dass es bislang jedoch kaum Ansätze einer systematischen Wirkungsforschung im Kulturbereich gibt.

Hinsichtlich des zunehmenden Konkurrenzdrucks und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit von Publikumsforschung ist zunächst zu betonen, dass damit nicht das Ziel einer inhaltlichen Publikumsorientierung verbunden sein darf. Der kulturelle Auftrag sollte alleine schon deshalb im Vordergrund stehen, um nicht die eigene Legitimation zu untergraben. Beispielhaft verwiesen sei auf Stadttheater, die plötzlich Musicals spielen, nur weil diese gerade "in" sind. Kulturmarketing-Experten wie Armin Klein betonen eindringlich, dass das künstlerische oder kulturelle "Produkt" sowie seine Qualität immer im Vordergrund steht und inhaltlich unangetastet bleiben muss. Vielmehr ist zu fragen, inwiefern die verschiedenen Publika und ihre Nutzungsanlässe sowie Umgehensweisen mit Kultur eine Neukonzeption des Marketings - der Preis-, der Kommunikations-, Distributions- und Servicepolitik - notwendig erscheinen lassen, um sie erfolgreich für Kulturangebote gewinnen zu können.

Es sollte deutlich gemacht werden, dass Publikumsforschung nicht heißen muss, nur auf "die Quote zu schielen". Publikumsforschung kann vielmehr auch einen Beitrag für den Dialog zwischen Kunst, Politik und Publikum leisten und für die Legitimation und aktive Vermittlung öffentlicher und anspruchsorientierter Kulturangebote eine dienende Funktion übernehmen.


Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.