Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 05.09.2005
Sabine Quenot

Tour de Force in 118 Tagen

Wie sich der Bundestag auf die anstehenden Neuwahlen vorbereitet

Wir brauchen ungummierte Briefumschläge. Aber wer stellt so was überhaupt noch her?", diese Frage bewegt Paul Thelen in den Wochen vor der Bundestagswahl. Denn für die konstituierende Sitzung des neuen Bundestages wird der Leiter des Tagungsbüros zum Großbesteller für aus der Mode gekommenen Bürobedarf. Für die geheime Wahl des neuen Bundeskanzlers oder der neuen Bundeskanzlerin, des Bundestagspräsidenten und der Vizepräsidenten ordert er 20.000 solcher Kuverts. "Für den Fall, dass es mehrere Wahlgänge gibt, sind bei etwa 600 Abgeordneten schnell ein paar Tausende verbraucht", sagt Thelen. Und würden die Abgeordneten ihre Stimmzettel in Umschlägen zukleben, würden die Schriftführer beim Öffnen der Wahlbriefe schier verzweifeln und das Ergebnis müsste länger auf sich warten lassen.

Die Verwaltungspragmatiker des Sachbereichs Plenardienste des Deutschen Bundestages sind eingespielte Profis für den Plenaralltag und alle Wechselfälle des parlamentarischen Lebens. Normalerweise beginnen die Vorbereitungen der Verwaltung ein Jahr vor der Wahl. Der leitende Plenardienstleister Johannes May und Paul Thelen vom Tagungsbüro wurden, wie die ganze Republik, von den potentiellen vorgezogenen Wahlen überrascht. Gleich nach der Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 23. Mai 2005, die Vertrauensfrage zu stellen, begann also die Planung - zunächst nur auf dem Papier wohlgemerkt, mit aller Rücksicht auf die ausstehende Entscheidung des Bundespräsidenten. Hätten sie aber erst nach Horst Köhlers Anordnung von Neuwahlen mit der Planung begonnen, wäre das einfach zu knapp gewesen.

Sendezentrum Reichstag

Während die Parteien ihre Kandidaten ins Land schicken und sich im Fernsehen wortreich duellieren, laufen die Vorbereitungen des Plenardienstes für den Wechsel der Wahlperioden auf Hochtouren. Und auch die Pressestelle macht sich in den 118 Tagen zwischen Schröders Ankündigung und der Bundestagswahl auf zu einer Tour de Force. Erstes und wichtigstes Etappenziel für alle ist der Wahltag.

Im Reichstagsgebäude müssen der Bundeswahlleiter, die Forschungsgruppe Wahlen und die Medien, vom freien Journalisten bis zum Fernsehteam für Live-Sendungen, untergebracht werden. Das bedeutet vor allem viel Technik. Die Sender bringen zwar ihre Übertragungstechnik und Aufbauten selbst mit, aber dennoch müssen Räume organisiert, Telefonleitungen geschaltet, alle Beteiligten akkreditiert und Besucherschleusen eingerichtet werden.

Damit die Zuschauer im In- und Ausland die Wahl auf den Bildschirmen, im Internet und in den Zeitungen mitverfolgen können, beginnen rund 4.000 Mitarbeiter der Sender und Dienstleister eine Woche vor der Wahl, ihre TV-Studios aufzubauen, Kabel zu verlegen, Kräne und Podeste für Kameras aufzustellen. Die gesamte Westlobby wird zu einem Fernsehstudio für alle öffentlich-rechtlichen und privaten Sender, sogar auf dem Dach des Reichstagsgebäudes wird es Gesprächsrunden und Kameras mit Blick auf das Kanzleramt geben. Insgesamt sind rund 200 Journalisten mit der Berichterstattung beschäftigt.

Für die internationalen Fernsehsender verwandelt sich die Halle des Paul-Löbe-Hauses in ein 1.000 Quadratmeter großes Sendezentrum. Dort richtet die EBU (European Broadcasting Union) 40 Redaktionskabinen ein, komplett ausgestattet mit Telekommunikation und insgesamt 14 Schnittplätzen. Aktuelles Filmmaterial bekommen die angereisten Journalisten ebenfalls von der EBU.

"Eine Big Party wird es im Reichstagsgebäude aber nicht geben, wie einige immer wieder erwarten", sagt Hans Hotter, Pressesprecher des Deutschen Bundestages. Freude und Enttäuschung über das Wahlergebnis sind eher bei den Parteienzentralen hautnah zu erleben. Dennoch wird der Bundestag in diesen Tagen besonders geschützt: Um das Reichstagsgebäude werden alle Straßen gesperrt, nur die Westseite bleibt "aus optischen Gründen" frei, wie Hotter sagt. Für die Kuppelbesucher bleibt das Haus aber geöffnet.

"Starter Kit" für Abgeordnete

Zweites Etappenziel ist der Montag nach der Wahl. Die neuen oder wieder gewählten Abgeordneten stehen fest. An sie werden Glückwunschschreiben verschickt. Außerdem sollen möglichst schon in der Nacht alle Kandidaten im Bundestag abrufbar sein. Das Tagungsbüro gibt deshalb schon Wochen vorher die Kandidaten in das System. Dann streichen sie einfach die nicht Gewählten. So haben sie die Ergebnisliste mit allen nötigen Angaben parat, sogar sortiert und ausgewertet: Wer ist der jüngste, wer der älteste Abgeordnete? Wie viele Frauen sitzen im künftigen Bundestag und welche Fraktion erhält wie viele Sitze?

Das ist wichtig, denn schon am zweiten Tag nach der Wahl empfängt das Tagungsbüro die Abgeordneten zur ersten Fraktionssitzung vor dem Sitzungssaal. Dort nehmen die Abgeordneten formal ihr Mandat an. Dazu erhalten sie eine Art "Starter Kit", eine hilfreiche Mappe, in dem ihr vorläufiger Abgeordnetenausweis steckt, aber auch ein Wegweiser durch das Parlament und Informationen der Verwaltung. Darin erfahren die Neulinge zum Beispiel, wie sie Büromitarbeiter einstellen und Reisekosten abrechnen.

Spätestens jetzt zahlt sich die gute Vorbereitung der Plenardienste aus. Wenn alle Rädchen rechtzeitig gestellt wurden, haben sie im richtigen Moment ineinander gegriffen und die neue Wahlperiode zum Laufen gebracht. Denn von der rechtzeitigen Bestellung der Blankovordrucke für die Abgeordnetenausweise bei der Bundesdruckerei, über die Ledermäppchen, Klarsichthüllen und Stempel, bis hin zur Anschaffung einer zukunftssicheren Pass-Schreibmaschine mit dokumentensicherer Tinte - an alles musste gedacht werden. Das bedeutet allerdings auch, immer wieder wie Don Quijote mit den Mühlen des Verwaltungsapparates zu ringen. Nicht selten dient schon mal der übernächste Haushalt als Finanzier akuter Bedürfnisse.

Doch vorher steht noch Etappenziel vier vor der Tür. "Zur konstituierenden Sitzung Mitte Oktober muss das ganze Handwerkszeug vorliegen, auch wenn es nicht sofort gebraucht wird", sagt Thelen. Das sind vor allem die farbigen Stimmkarten aus Plastik, von denen jeder Parlamentarier zunächst 100 Stück bekommt. Die herstellende Firma ist durch Ausschreibung längst ermittelt, sie wartet nur noch auf die Namen der Abgeordneten der 16. Wahlperiode für den Aufdruck. Das neue Telefonbuch mit mehreren tausend Nummern aller Mitarbeiter und Abgeordneten sowie den Einrichtungen des Bundestages, essentiell für den Parlamentsbetrieb, ist dann auch in Arbeit, genauso wie die Erstellung neuer Büroschilder.

Dann bleibt nur noch eine Frage: Wer wird wo im Plenarsaal sitzen? Wer sitzt ganz links oder neben dem linken Außenflügel?

Damit beschäftigen sich die Parlamentsrechtler schon jetzt hinter verschlossenen Türen. Die Verwaltung, die Vorschläge macht für die Bestuhlung im Plenarsaal, hält sich aber lieber fern von Spekulationen und bemüht höchstens die Vergangenheit. Letztendlich wird der so genannte Vor-Ältestenrat das überparteiliche Machtwort über solche heiklen Fragen sprechen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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