Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Lutz Mäurer

Deutschlands prekäre Mittellage als politische Herausforderung

Heinz Brills geopolitische Analysen

Mitte August zeichnete sich ab, dass die ehrgeizigen Ambitionen der Bundesregierung auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat gescheitert waren. "Die wesentlichen Knackpunkte sind die Interessen", räumte Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) im ARD-Morgenmagazin ein: "Es gibt regionale Interessen, die alle zusammengeführt werden müssen." Interessen im geographischen Raum bestimmen nach wie vor die internationale Politik.

Diesem Thema widmet sich Heinz Brill seit Jahrzehnten. Der Autor, der von 1978 bis 1997 beim Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr tätig war, hat der politischen Klasse immer wieder die Bedeutung von Geopolitik vor Augen geführt. Geopolitik definiert Brill als "die Lehre vom Einfluss des geographischen Raumes auf die Politik eines Staates".

Auch mit seinem neuen Buch, einer Sammlung von Analysen und Aufsätzen von 1974 bis 2004, macht Brill die Bedeutung der Geopolitik für die internationale Politik deutlich. Geopolitik - der Begriff war einst durch Theorien der Nationalsozialisten wie etwa die vom Lebensraum belastet. Dies habe sich lähmend auf die deutsche Forschung in diesem so wichtigen Wissenschaftsfeld ausgewirkt. "Hier wirkt Geopolitik als Reizwort und löst Ängste aus." Brill weiter: "Obwohl gerade für Deutschland aufgrund seiner prekären Mittellage in Europa die Geopolitik von besonderem Interesse ist, gehören gegenwarts- und zukunftsweisende geopolitische Analysen - ebenso wie das nationale Interesse - zu den Tabubereichen und Denkverboten der Politik."

Schwerpunkt des Bandes ist Deutschlands geopolitische und geostrategische Lage im Wandel. Brill schildert die sicherheitspolitische Entwicklung der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der strategischen Doktrinen anderer Großmächte wie Frankreich, USA und Großbritannien. Ein entscheidender Faktor für die deutsche Sicherheitspolitik war und ist seine gefährdete oder als gefährdet angesehene Lage im Zentrum Europas. In der Zeit des Kalten Krieges bedeutete dies: "Das deutsche Territorium erfüllte eine Glacisfunktion. (...) Alle Mächte gedachten sich auf deutschem Boden selbst zu verteidigen."

Das Ende dieses bedrohlichen Daseins als "Frontstaat" am Rande des westlichen Bündnissses kam mit der Beilegung des Ost-West-Konflikts. Deutschland ist von einer geopolitischen Randlage wieder in eine Mittellage gerückt. Brill benennt folgende geopolitischen und geostrategischen Merkmale, die sich aus dieser Position ergeben und Grundlagen künftiger sicherheitspolitischer Planungen sein sollten: "Zahlreiche Nachbarn, Zwang zu Bündnissen, Transitland Nummer eins in Europa, Nord-Süd- und Ost-West-Drehscheibe, Weltwirtschaftsmacht mit hoher Abhängigkeit von den Weltmärkten."

Der grundlegende Wandel europäischer Politik zwinge Deutschland dazu, den geographischen und institutionellen Rahmen seiner Sicherheitspolitik neu zu bestimmen. Diese wird in der Politikwissenschaft oft als Balance zwischen drei Kreisen beschrieben: einer atlantischen, einer europäischen und einer nationalen Orientierung.

"Wenn auch die europäische Sicherheitsidentität zunehmend an Bedeutung gewinnt, so wird man auf absehbare Zeit den deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehungen eindeutig Priorität einräumen müssen", schreibt Brill, der keine Zweifel an seiner kritischen Haltung gegenüber der rot-grünen Außenpolitik lässt. Joschka Fischers These, dass der Kern des Europagedankens nach 1945 die Absage an das Prinzip der "balance of power", des europäischen Gleichgewichtssystems und des Hegemonialstrebens einzelner Staaten sei, widerspricht Brill: "Genau darum geht es, wenn auch die Mittel bei der Interessenwahrnehmung sich geändert haben." Kein Zweifel: Der Autor ist Anhänger der realistischen Schule der Politikwissenschaft.

Neben dem Hauptthema Deutschland stellt der Autor weitere geopolitische Faktoren in der internationalen Politik vor, darunter Probleme der 80er-Jahre wie der NATO-Beitritt Spaniens oder der Falkland-Krieg, aktuelle Fragen wie NATO-Osterweiterung, Balkan-Krise oder die Debatte um die Thesen Huntingtons vom Krieg der Kulturen.

Da Brills Sammelband Schriften aus mehreren Jahrzehnten enthält, bleibt es nicht aus, dass sich Aussagen wiederholen oder längst Überholtes vorgestellt wird. Dennoch ist die Grundannahme des Autors zutreffend: Auch wenn in Zeiten der Globalisierung der Stellenwert der Faktoren Raum, Entfernungen und Grenzen schwindet, kann geopolitisches Denken helfen, Konzepte für eine internationale Sicherheitspolitik zu erstellen und sie den neuen weltpolitischen Anforderungen anzupassen.


Heinz Brill

Geopolitische Analysen.

Beiträge zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik 1974-2004.

Biblio Verlag, Bissendorf 2005; 459 S., 34,- Euro


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