Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Ursula Homann

Im dunklen Schatten der Väter

Kinder von NS-Tätern melden sich zu Wort
Schon in den 80er-Jahren tauchte in Büchern und in den Medien die Frage auf, wie die Kinder von Nazitätern die Schuld ihrer Eltern verkraftet haben. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. In diesem Jahr haben sich drei der jüngsten Kinder von Nazitätern zu Wort gemeldet: Richard von Schirach, Margret Nissen geborene Speer und Niklas Frank.

Der Vater von Richard von Schirach, Baldur von Schirach, war Jugendführer und seit 1940 als Wiener Gauleiter mitverantwortlich für die Deportation der Wiener Juden. Als er in Nürnberg als "Hauptkriegsverbrecher" vom Internationalen Militärtribunal 1946 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, war sein Sohn Richard gerade vier Jahre alt. Fortan begleitete ihn "der Schatten seines Vaters", von dem er sich endgültig erst nach einem halben Jahrhundert durch die Niederschrift seines jetztigen Buches befreit hat.

Richard von Schirach erzählt flüssig und fesselnd von der Verhaftung seiner Mutter kurz vor Weihnachten 1945, von seinen Ängsten, seiner Einsamkeit, seiner Odyssee durch Waisenhäuser und Internate sowie von der Scheidung seiner Eltern. Wenn er den Erwachsenen zuhörte, die mit ihren Kriegserlebnissen prahlten, fragt er sich: Warum haben wir eigentlich den Krieg verloren, wenn der deutsche Soldat allen anderen an Tapferkeit und Kampfesmut haushoch überlegen war? Auch lernte er Menschen kennen, die im "Dritten Reich" dubiose Rollen gespielt haben, wie etwa eine nach dem Krieg angesehene Ärztin, die während des Nazi-Regimes Leiterin der Ansbacher Heil- und Pflegeanstalt war.

Von einem bestimmten Zeitpunkt an lässt Richard von Schirach die Frage nach der Schuld des Vaters nicht mehr los, und so vertieft er sich in Bücher und Akten, die ihn über die Rolle und das Auftreten seines Vaters in der NS-Zeit und im Nürnberger Prozess aufklären. Als Richard zum ersten Mal die große Aula der Universität München betritt, sieht er dort die Gedenktafel für die Geschwister Scholl und spürt, wie bedrückend nah die Vergangenheit ist.

Nach der Entlassung des Vaters aus dem Gefängnis im Herbst 1966 drängen sich ihm Fragen auf: Was für ein Mensch war der Vater? Welche Träume hat er noch? Ist er ein Demütiger? Ein Ungebrochener? Ein Gestriger? Zunächst hält sich Richard mit Fragen zurück und hilft dem Vater, sich im neuen Leben zurecht zufinden. Glückwünsche treffen ein, die oft auf erschreckende Weise klarmachen, dass es noch immer zahlreiche heimliche Nazianhänger gibt. Durch die offenbart sich eine Welt, die den erwachsenen Kindern Schirachs fern und fremd ist. Manche rühmen Baldur von Schirachs Idealismus und "großartige Leistung" für die deutsche Jugend in Krieg und Frieden.

Da der jüngste Sohn vor allem verstehen will, was den Menschen zum Wolf des Menschen werden lässt, konfrontiert er den Vater schließlich doch mit unbequemen Fragen: "Warum habt ihr nichts getan?" Die Antwort: "Vergiss nicht, ich habe einen Eid geleistet!", und weiter fragt er: "Hast Du gewusst, dass Juden keine Berge mehr besteigen durften und dass Viktor Fraenkel heimlich, mit dem gelben Stern unter seiner Kletterweste, eine Bergtour gemacht hat?" Dabei stand Richard nach eigenem Bekunden zeitweilig in Gefahr, selbst ein Opfer von Schuldgefühlen zu werden, die ihn angesichts der NS-Verbrechen packten.

Vieles erklärt der Vater mit griffigen Formeln. "Wir waren alle Antisemiten", gibt er zur Antwort, als die Rede auf Himmlers "Endlösung der Judenfrage" kommt. Vergebens wartet der Sohn auf ein persönliches Bekenntnis, auf Worte des Mitgefühls. Die Erwartungen und Wünsche, die er unausgesprochen an den Vater richtet, den der Vorsitzende in Nürnberg einmal einen "Mann von Kultur" genannt hat, löst dieser nicht ein, und wieder einmal wird deutlich, dass die deutsche Kultur keinen Schutzwall vor Massenmord und Unmenschlichkeit bietet.

Margret Nissen geborene Speer, Jahrgang 1938, hat sich in Gesprächen mit zwei Publizistinnen über ihr zwiespältiges Verhältnis zum Vater geäußert, der viele Jahre Hitlers favorisierter Architekt und dann Minister für Rüstung und Kriegswirtschaft war. Während ihrer ersten Lebensjahre, die sie mit fünf Geschwistern auf dem Obersalzberg verbrachte, hat sie den Vater nur selten gesehen und ihn daher während seiner Haftzeit auch nicht wirklich vermisst. Aber gemocht und bewundert hat sie ihn immer sehr.

Später indes, lange nachdem der Vater in Nürnberg als Kriegsverbrecher zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, verdross es sie, ständig in seinem Schatten zu stehen und für ihn bestraft und verachtet zu werden. Nichts war ihr so zuwider wie die Frage: "Sind Sie die Tochter Speer?" In der Grundschule gab es keine Probleme für die Speer-Kinder, wohl aber mit den Gymnasien. Keine dieser Schulen wollte sie aufnehmen - wegen des Vaters. In Privatschulen kamen schließlich die Söhne und in der Elisabeth-von-Thadden-Schule die Töchter unter.

Als sich dort herausstellte, dass eine Mitschülerin von Margret Speer die Tochter des hingerichteten Widerstandskämpfers Hans-Bernd von Haeften war, fühlte sie sich zum ersten Mal schuldig und sah ihr Leben plötzlich in einem direkten Zusammenhang mit dem Leben und den Handlungen ihres Vaters. In Frankreich war sie einmal sogar Anfeindungen ausgesetzt, auf die sie nicht vorbereitet war. "Warum musste ich so einen Vater haben?", haderte sie oft. "Musste er uns das antun?"

Da Albert Speer vor dem Gericht sofort ein Schuldgeständnis abgelegt hatte, gab es für die Familie weder etwas aufzudecken wie in anderen deutschen Täterfamilien noch bestand für sie die Chance, die Vergangenheit zu ignorieren. Nach Speers Entlassung 1966 schien ohnehin mit der Veröffentlichung seiner "Erinnerungen" und seinen "Spandauer Tagebüchern" alles öffentlich beantwortet zu sein.

Der Vater selbst kannte nach der Haftentlassung nur noch ein Thema: sein Leben im Nationalsozialismus, über das er mit allen redete, nur nicht mit seiner Familie. Trotzdem beschäftigte auch Speers Angehörige die bange Frage: Wie viel und was hat ihr Oberhaupt tatsächlich gewusst? Sein einziges Zugeständnis lautete stets: "Ich hätte es wissen können." So kam es, dass Albert Speer - er starb 1981 in einem Londoner Hotel - sein großes Geheimnis, warum er mitgemacht und was er von den NS-Verbrechen gewusst hatte, mit ins Grab nahm.

Heute hat die Tochter, die lange Zeit von der Schuld des Vaters nichts wissen wollte, keinen Zweifel an der Echtheit seiner Schuldgefühle. Dennoch bleibt für sie die Frage unbeantwortet, wie sich aus einem unkonventionellen, humorvollen, sympathischen, sentimentalen jungen Mann dieser ehrgeizige Machtmensch entwickeln konnte und warum der Vater 1942 den Posten als Rüstungsminister überhaupt übernommen hat, der ihn zum Herrn über Arbeitskraft und Leben von Millionen Zwangsarbeitern in der NS-Kriegswirtschaft machte. Gleichwohl werde sie wohl, glaubt sie, "weiter zwischen einem historischen und einem privaten Vater trennen müssen". Denn nur so könne sie mit ihrer Erinnerung an ihn leben.

Beträchtliches Aufsehen erregte vor einigen Jahren die gnadenlose Abrechnung des einstigen "Stern"-Redakteurs Niklas Frank mit seinem Vater Hans Frank, der als Generalgouverneur von Polen die Massenvernichtung von Juden und Polen zugelassen hatte und 1946 in Nürnberg hingerichtet worden war. Jetzt veröffentlicht Frank mit "Meine deutsche Mutter" ein ebenfalls unbarmherziges Porträt seiner Mutter, der sogenannten "Königin von Polen".

Bei dieser Familiengeschichte liegt die Schuld der Eltern so offen zu Tage, dass der Sohn keine Skrupel hat, seine Erzeuger erbarmungslos anzuklagen, da er sie als liebevolle, ihm zärtlich zugetane Menschen allem Anschein nach nie erlebt oder jede Erinnerung daran rigoros verdrängt hat. Ihnen gegenüber fühlt er nur eine maßlose Wut, so dass er nach etwaigen Entschuldigungsgründen oder Beweggründen für ihr Handeln und Verhalten gar nicht erst sucht.

Seine Mutter charakterisiert Niklas Frank als dominant, als rücksichtslos in ihrem Besitzstreben, als Kämpferin ohne Gewissen. Er unterstellt ihr, dass sie die materielle Verbesserung ihres Lebens durch die Karriere ihres Mannes bei den Nazis sehr genossen habe. Noch auf ihrem Sterbebett 1959 rät sie ihrem 20-jährigen Sohn: "Du musst jetzt wie Vati Jura studieren. Damit auch aus Dir was Großes wird."

Vor der NS-Zeit hatte Brigitte Frank in München als selbständige Pelzhändlerin die besten Geschäfte mit Juden gemacht, bis es ihr, wegen des Aufstiegs der NSDAP und ihres Mannes opportun erschien, diese Geschäftsbeziehungen abzubrechen. Im Krieg hatte sie sich in Krakau von den Verzweifelten im Ghetto, wie andere Frauen der deutschen Besatzer auch, per Befehl und ohne Bezahlung alles heranschaffen lassen, was sie für lebensnotwendig hielt. "Kinder, niemand schneidert hübschere Korseletts als die Juden im Ghetto!" rühmte Frau Reichsminister Brigitte Frank. Das Schicksal der Polen und Juden um sie herum war ihr allerdings gleichgültig.

Mit geradezu masochistischer und schonungsloser Besessenheit rechnet Niklas Frank fast holzschnittartig wie kein anderer Abkömmling von Nazi-Größen mit seinen Eltern ab, die er zu den "schmutzigsten Familien des Dritten Reiches" zählt.


Richard von Schirach

Der Schatten meines Vaters.

Carl Hanser-Verlag, München 2005; 379 S., 23,50 Euro


Margret Nissen (Unter Mitarbeit von Margit Knapp und Sabine Seifert)

Sind Sie die Tochter Speer?

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005; 228 S., 19,90 Euro


Niklas Frank

Meine deutsche Mutter.

C.Bertelsmann, München 2005; 480 S., 22,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.