Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
Sten Martenson

Wenn die Modernisierung zum Schreckgespenst wird

Von der Suche nach lokalen Lösungen für global erzeugte Probleme

Bei manchen Büchern weiß man nach der Lektüre sofort, wer auch noch in sie hineinschauen sollte: die Ehepartnerin, die Kinder, ein bestimmter Freund oder vielleicht die ganze Kaste der Politiker und ihre journalistischen Beobachter. Die Macher und die Merker eben, jene, von denen man zukunftsweisende Entscheidungen oder kompetente journalistische Begleitung erwartet.

Zygmunt Baumans Buch ist solch ein Lesestoff für Politiker, für Menschen also, die vorgeben, das Wohl des Staates und seiner Bürger zu hüten und zu mehren. Die sich selbst rühmen, Probleme rechtzeitig erkennen und sie dann abstellen zu können. Wer den jüngsten Wahlkampf verfolgt hat und parallel dazu Bauman auf seinen Gedankenwegen gefolgt ist, dem kommen aber unweigerlich Zweifel, ob unsere politische Klasse wirklich auf der Höhe der aktuellen und der künftigen Probleme ist.

Bauman hat den vier Kapiteln seines Buches geheimnisvolle Titel gegeben: "Der Abfall beim Aufbau von Ordnung" oder "Der Abfall des wirtschaftlichen Fortschritts". Einigen Kapiteln folgen bildungs- und gleichnispralle Ausflüge in die Welt der Literatur und der Philosophie. Das Buch ist keine leichte Kost. Die Vorstellung, dass Politiker nach einem Tag voller geistloser wie anstrengender Gremiensitzungen oder Wahlkampfauftritte die Muße haben, sich ein solches Buch vorzunehmen, ist irgendwie absurd.

Schade, denn Bauman geht den wohl existenziellsten Problemen unserer Zeit auf den Grund: der Überbevölkerung unserer Welt, den Migrationsströmen, der Arbeitslosigkeit. Der Autor versteht sein Buch als Einladung, "die vermeintlich allzu vertraute moderne Welt, die wir uns teilen und gemeinsam bewohnen, auf eine neue, etwas andere Art zu betrachten".

Modernisierung ist für Bauman kein Heilsbringer, eher ein Schreckgespenst, dazu noch ein unabwendbares. Das menschliche Leben sei bis in den letzten Winkel der Erde dem Warentausch, der Kommerzialisierung und der Monetarisierung unterworfen worden. Es gebe keine globalen Lösungen mehr für lokal erzeugte Probleme. Überall müsse nach lokalen Lösungen für global erzeugte Probleme gesucht werden. Bauman fürchtet, dass diese Suche vergeblich ist.

Der Planet sei überfüllt und produziere zunehmend "menschlichen Abfall". Das ist zwar - zumindest im deutschen Wortsinn - ein geradezu abscheulicher Begriff. Bauman meint damit, es seien Menschen, die "nutzlos" sind, die nicht gebraucht werden. Ihre Zahl wachse unkontrollierbar und führe zu Kosten, denen keine Einnahmen gegenüberstehen. Baumans Schluss: "Modernes Überleben - das Überleben der modernen Lebensform - hängt von geschickter und effizienter Abfallentsorgung ab."

Zwar habe es dieses Problem auch in früheren Zeiten gegeben. Die Menschen sind massenweise in unbewohnte Landstriche dieser Erde gezogen, als Auswanderer, als Kolonisatoren, in der Hoffnung auf ein besseres Schicksal. Aber heute wandern verstärkt Ströme von Menschen um den Globus, um sich irgendwo niederzulassen, wo sie ein Auskommen finden.

Heruntergebrochen auf die politischen Diskussionen, die auch in Deutschland geführt werden, heißt das bei Bauman, dass sich der Sozialstaat, "die Krönung der langen Geschichte der europäischen Demokratie", auf dem Rückzug befindet. Er kann seine Versprechen einer gesicherten Zukunft nicht mehr einlösen. Bauman sieht die Politik darauf schon reagieren: Kann sie schon den materiellen Schutz der Menschen nicht sicherstellen, so lenkt sie eben ab auf die persönliche Sicherheit des Einzelnen. Deshalb werden Ängs-te vor Terrorismus geschürt, die Sicherheitsindustrie boomt, Überwachungskameras sollen dem Schutz der Bürger dienen: "So sieht die zweckdienliche Alternative aus."

Man muss Baumans unheilschwangeren Blick auf die Gegenwart und vor allem auf die Zukunft nicht eins zu eins übernehmen. Aber es lohnt sich, den Gedanken und Erklärungen des altersweisen Soziologen aufmerksam zu folgen. Für einen unbefangenen und in der philosophisch-soziologischen Fachliteratur unbewanderten Leser hat Bauman sein Buch allerdings arg verwirrend aufgebaut. Es mangelt an klaren Linien, was erschwert, jedem der gedanklichen Ausflüge zu folgen.

Politisch interessierten Zeitgenossen aber kann es sehr wohl wie Schuppen von den Augen fallen, wenn sie auch nur wenige der anregenden Gedankensplitter Baumans über den wachsenden menschlichen Abfall und die daraus resultierenden unermesslichen Entsorgungsprobleme auf sich wirken lassen. Ganz schnell schrumpfen dann die Handlungen unserer aktiven Politiker zu einem hilflosen Reparaturaktionismus, der den wirklichen Problemen unserer Welt nicht gewachsen ist.


Zygmunt Bauman

Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne.

Hamburger Edition, Hamburg 2005; 196 S., 20,- Euro


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