Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 24.10.2005
Hermann Glaser

Offenheit als ein Überlebensmittel

Die Visionen des Matthias Horx

Das Buch von Horx handelt von der Kultur der Zukunft. "Über die Frage, wie sich Zukunft anfühlt. Über Alltag, Leben, Tod. Es bewegt sich entlang der Frage, wie Komplexität in menschlichen Systemen entsteht und voranschreiten könnte. Technologie wird hier nicht als Trägerwelle, sondern als Produkt des Menschlichen betrachtet, als Ausdruck letztlich sozialer menschlicher Wünsche, Kränkungen und Phantasien."

Fast 300 Titel listet der Verfasser, ein bekannter Trend- und Zukunftsforscher, am Ende auf; und da er viel und trefflich zitiert und da auch insgesamt deutlich wird, dass er sehr gut Bescheid weiß über die Erkenntnisse einer heutzutage undogmatischen Futurologie, ist dies auch kein Imponiergehabe.

Wie wir leben werden, ist nicht determiniert. Der Fehler der "alten" Zukunftsforschung bestand darin, dass man davon überzeugt war, inhaltlich präzise Prognosen geben zu können. Entscheidend kommt es - zumindest in demokratischen Gesellschaften - darauf an, wie wir leben wollen und ob dieses Wollen aus dem Zustand unartikulierten, oft nur unbewussten Fühlens zum politisch manifesten und auch durchgesetzten Willen wird.

Dabei ist die von Immanuel Kant als das Wesentliche von Aufklärung erhobene Forderung "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" nur dann erfolgreich, wenn der Verstand sich ständig mit Hilfe von Wissen, das auf Weisheit transzendiert, auszubilden vermag.

Dabei hilft dieses Buch. Es reflektiert sachkundig über die wesentlichen Fragen des Menschseins, über Geburt, Lernen, Liebe, Arbeit, Wohlstand, Krieg, Politik, Glaube und Tod - damit der Informationsverschmutzung, zu der das Surfen in einem konturlosen Internet oft beiträgt, konsequent gegensteuernd.

Es geht darum, Zusammenhänge sowie Wechsel- und Gegenwirkungen, also die Komplexität unserer Welt und Gesellschaft, zu erkennen. "Während sich der Horizont des Lebens weitet, multiplizieren sich die Rollenmöglichkeiten zur Multi-Identität. ,Ich will so werden, wie ich bin' - dieses Credo bedeutet in der Ära der erweiterten Biographie: Ich will viele werden und diese Vielfalt gleichzeitig zu einem kohärenten Charakter bündeln. Meine Lebenserzählung, mein Selbstkunstwerk, bildet einen ,Schwarm' von Identitäten." Selbst-Sicherheit bedeutet in einer globalisierten Welt: Soll es nicht zum "Kampf der Kulturen" (Huntingtons Buch fehlt übrigens in der Literaturliste!) kommen, dann muss man gegenüber pluralen, gerade auch unterschiedlichen religiösen Seinsweisen ein "aktives Verständnis" zeigen.

Wer heute seine Gedanken und Anregungen erfolgreich auf den Markt bringen will, darf nicht nur begrifflich denken, sondern muss zudem noch erzählend vorgehen. Das wusste schon die Popularaufklärung: Fabula docet! Die Fabel (be-)lehrt. Horx beherrscht diese Methode, doch wird er dabei aus meiner Sicht oft sehr weitschweifig, ja geschwätzig, so dass das Narrative als Masche erscheint. Man kann Kassandra, diesen Urtyp düsterer Prognostik, durchaus verstehen, wenn man sie nicht trivial aufmotzt. "Kassandra nimmt … mit einem Stoßseufzer an der linken Seite unseres Tisches Platz. Sie zieht sich die Kekse und die Kaffeekanne herüber. Und zündet sich - ohne zu fragen, ob es jemanden stört - mit einem klickenden, goldenen, gerippten Feuerzeug eine Zigarette an. Gauloise, schweres Kaliber."

Wenigstens ernst gemeinte Bücher täten gut daran, das durch die nichtssagende Bilderflut des Fernsehens sowieso dem begrifflichen Denken entwöhnte Publikum nicht auch noch ihrerseits mit volksnah gemeinten Platitüden zu bedienen.


Matthias Horx

Wie wir leben werden. Unsere Zukunft beginnt jetzt.

Campus Verlag. Frankfurt/ New York 2005; 397 S., 24,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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