Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 44 / 31.10.2005
Kurt Laser

Alltagskriminalität in Hitlers Staat

Eine weniger bekannte Seite der NS-Diktatur

Die Historikerein Regina Stürickow schildert Kriminalfälle aus der NS-Zeit und stützt sich dabei vor allem auf gründliche Studien in Ermittlungsakten im Bestand "Polizeipräsidium Berlin" des Landesarchivs Berlin. Die Autorin ist bereits durch die Schilderung von Kriminalfällen in Berlin aus der Zeit von 1914 bis 1933, durch einen kriminalhistorischen Führer durch das "mörderische Paris" mit Straße und Hausnummer und den historischen Kriminalroman "Habgier" bekannt geworden.

Die meisten der geschilderten Verbrechen hätten auch vor 1933 oder teilweise sogar heute so oder ähnlich ablaufen können: Die junge Frau, die ihre drei kleinen Kinder verhungern und verdursten lässt; der Sexualmord an einer Neunjährigen; die Raubmorde an einem Kassierer und an einer Kneipenwirtin; die Ermordung eines 14-Jährigen durch einen Mitschüler oder dass ein 13-Jähriger und ein 14-Jähriger eine alte Frau berauben und erschlagen.

Das trifft eigentlich auch auf die spektakuläre Raubserie zu, die von 1934 bis Ende 1937 anhielt und bei der zwei Menschen ermordet wurden. Als aber die Tagespresse über diese Überfälle berichtete, soll Goebbels einen Tobsuchtsanfall bekommen und eine wütende Anfrage an das Polizeipräsidium gerichtet haben, "ob die Kripo wahnsinnig geworden sei, so etwas in der Presse breitzutreten". Da bemühe er sich, das nationalsozialistische Deutschland als einen Hort der Ordnung und Sauberkeit hinzustellen "und eine instinktlose Kriminalpolizei bringe ständig Überfallmeldungen".

Propaganda

Andere Fälle sind eher typisch für die NS-Zeit. Die Ehefrau eines Wehrmachtssoldaten und Geliebte eines SS-Mannes wird in der S-Bahn zwischen Oranienburg und Lehnitz von einem belgischen Zwangsarbeiter erschlagen und aus dem Zug geworfen. Beim Raubmord an einer Zwangsarbeiterin wird aus propagandistischen Gründen verschwiegen, dass es sich um eine Jüdin handelte; der Mörder wird verurteilt und hingerichtet.

Besonders instruktiv ist die Einleitung, in der sich Regina Stürickow mit schöngefärbten Darstellungen auseinandersetzt, die jahrzehntelang das Bild von der Kriminalpolizei im NS-Staat prägten.

"Berufsverbrecher" und "Asoziale"

Unter Hinweis auf die 1996 erschienene Studie des Freiburger Historikers Patrick Wagner "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus" macht sie deutlich, dass die Kripo-Dienststellen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 weit mehr als 70.000 so genannte "Berufsverbrecher" und "Asoziale" in die Konzentrationslager schickten; mindestens die Hälfte dieser Menschen hat das Lager nicht überlebt. Hinzu kamen etwa 30.000 Sinti und Roma, die nicht von der Gestapo, sondern von der Kriminalpolizei deportiert wurden. Auch bei der Deportation jüdischer Mitbürger leistete die Polizei Hilfestellung. Die hierfür verantwortlichen Kriminalbeamten wussten genau, was sie taten, denn sie erhielten aus den Konzentrationslagern regelmäßig die Todesmeldungen der dorthin Verschleppten. Unbestreitbar ist ebenso, dass Kriminalbeamte innerhalb der berüchtigten Einsatzkommandos in den besetzten Gebieten an der Seite der SS an zahllosen Mordtaten beteiligt waren. Schließlich war Heinrich Himmler am 17. Juni 1936 nicht nur zum Reichsführer SS, sondern auch zum Chef der Deutschen Polizei im Reichsinnenministerium ernannt worden.

Im Grunde genommen stehen nicht die einzelnen Kriminalfälle im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das soziale Umfeld, in dem sie entstanden. Das ist sehr sorgfältig mit ausgezeichneter Ortskenntnis beschrieben. Der Leser wird so mit einer weniger bekannten Seite der NS-Zeit konfrontiert.


Regina Stürickow

Kriminalfälle im Dritten Reich.

Mörderische Metropole Berlin.

Militzke Verlag, Leipzig 2005; 206 S., 14,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.