Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 44 / 31.10.2005
Susanne Balthasar

Endlich Wasserstoffautos!

"Radio Europa 2020": Jugendliche diskutieren über ihre Visionen
Stellen Sie sich vor, Sie schalten das Radio ein. Es rauscht und knarzt ein bisschen, aber dann hören sie zwei Stimmen aus dem Funksalat heraus. Es sind die beiden Moderatorinnen von "Radio Europa 2020", die Ihnen erklären, dass Sie, der Hörer, ab jetzt nur noch Sita heißen. Sie stutzen: Alle Hörer des ersten europaweiten Radiosenders, die zuhause, im Auto oder im Büro, in Deutschland, Ungarn oder Irland zuhören, werden eins. "Für alle Sitas, die auf dem Highway Prag-Paris unterwegs sind, kommt jetzt der Verkehrsfunk: Das Tempolimit für Autopiloten auf der Ost-West-Achse zwischen Prag und Paris liegt heute bei 270 Stundenkilometern. Vorsicht, wenn Sie noch mit einem Benziner unterwegs sind, Benzinautos werden aus dem Verkehr gezogen! Wasserstoffautos dürfen weiter fahren."

Ein vielstimmiges Kichern geht durch den Saal, aus dem "Radio Europa 2020" live sendet. 150 Jugendliche aus zehn Ländern amüsieren sich über ihre eigenen Zukunftsvisionen. Vielleicht wegen des Prag-Paris-Highways, vielleicht wegen des Wasserstoffautos, vielleicht wegen der rabiaten Kontrollen. Zukunftsvisionen haben schließlich selbst als Schreck-ensszenarien immer auch etwas Komisches an sich - weil sie einerseits wie ein vorausschauender Wachtraum wirken, und weil andererseits jeder weiß, dass fast alles, was gestern über die Gegenwart gedacht wurde, aus heutiger Sicht fantastisch naiv ist. Wie Jugendliche heute sich Europa in 15 Jahren vorstellen, davon erzählen sie im fiktiven "Radio Europa 2020".

In zweitägiger Arbeit haben Jugendliche mit Deutschkenntnissen aus Berlin, Chemnitz, Bukarest, Neapel und anderen europäischen Städten im "Freizeit- und Erholungszentrum" (FEZ) in Berlin das zweistündige Radioprogramm erarbeitet. In deutschsprachigen Schulen, Goethe-Instituten oder Fremdsprachenklassen hatten die Initiatoren - das Auswärtige Amt und die Vertretung der europäischen Kommission in Deutschland - für "Radio Europa 2020" geworben. Aus den eingesandten Beiträgen wurden dann die Teilnehmer ausgewählt und nach Berlin eingeladen. Besonders groß war das Interesse aus den östlichen Ländern.

Zusammen haben sich die künftigen Wähler Gedanken darüber gemacht, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. "50 Jahre lang war das keine Frage", sagt Veranstalter Sascha Meinert, "es ging in Richtung Frieden, Bewegungsfreiheit und Wohlstand. Jetzt nimmt die Skepsis in allen Ländern zu. Eine neue Idee oder ein neues Bewusstsein müsste kommen." Oder überhaupt ein Bewusstsein. Denn das Interesse für Europapolitik hält sich bei den europäischen Bürgern von morgen Länder übergreifend in Grenzen. Das räumen auch einige der Teilnehmer ein: Wegen des internationalen Projektes hätten sie sich beworben; dass es dabei um die EU ginge, sei zweitrangig gewesen. Natürlich ist der internationale Austausch auch eines der Ziele. Aber darüber hinaus sollen sich die Jugendlichen mit der EU und möglichen Entwicklungen auseinander setzen. Die oft als bürokratisch und dröge erlebte Brüsseler Welt soll, so stellen es sich die Veranstalter vor, durch die Matrix Radio teenagerfreundlich werden.

Kein Strom in den USA

Die Vorbereitungen für die Sendungen sind aufwändig: Die "Radio Europa"-Macher sitzen in den einzelnen Redaktionsräumen und filtern - eingeteilt nach den Themen Europapolitik, Weltpolitik, Mensch und Umwelt, Kultur und Lifestyle - aus den aktuellen Nachrichten diejenigen heraus, die auch in 15 Jahren noch bedeutsam sein könnten. Wohin wird sich das Thema einer Meldung in 15 Jahren entwickeln? Die Redaktion Weltpolitik pinnt ihren Blick auf die Zukunft in Stichworten an die Wand: Weil das Öl immer knapper wird, wird der Ölpreis weiter steigen; in der globalen Politik wird Asien immer mächtiger; die EU wird sich Richtung Osten erweitern und ihre Verfassung annehmen.

Paul aus Berlin und Petr aus Bukarest kümmern sich um das Thema Öl: Was könnte in 15 Jahren darüber berichtet werden und in welcher Form? In Form eines Interviews, als Nachricht, Satire, Reportage oder Bericht? Paul und Petr entscheiden sich für den Bericht eines Reporters. In 15 Jahren also wird Reporter Petr vom internationalen Energiegipfel berichten. Die beiden haben ein Manuskript geschrieben und den Radiobeitrag im Studio eingesprochen. Am letzten Tag wird Petrs Bericht in der Live-Sendung eingespielt. Während im Hintergrund die eingespielte Geräuschkulisse des Gipfels leise rumort, berichtet Petr von einem Krieg der USA gegen den Iran und von einer Energieknappheit, die selbst die USA zur Stromrationierung zwingt. Lösungsalternativen müssen her, so viel steht auf dem internationalen Energiegipfel 2020 fest. Ende des Berichtes.

Die Moderatorinnen oben auf der Bühne schalten zurück auf den Diskussionsstand der Gegenwart. Links neben der Bühne sitzen "Europaabgeordnete" aller Parteien. Sie sind die Gäste in der Livesendung von "Radio Europa 2020". Fishbowl heißt die Runde, es ist eine Art Zeitmaschine, die die "Radio-Europa 2020"-Hörer und -macher zurück ins Jahr 2005 katapultiert. Wie hat man die Energiekrise und andere Themen damals gesehen? Einer der Gäste wiegelt ab: "Wir haben früher auch ?1984' gelesen. Aber so schlimm, wie man es sich vorstellt, kommt es am Ende doch nie."

Aber was ist schlimm? Auf "Radio Europa" läuft viel Musik; gut gelaunte Moderatoren quatschen. Es geht um Energiekrisen und Wasserrationierung; homosexuelle Väter in Bukarest tauchen auf und Quizfragen für Anrufer; die Abschaffung der Sozialhilfe wird diskutiert und über den Prototyp des Überlebenskünstlers geredet, der sich ohne Stütze mit seinem Gemüsegarten durchschlägt. Auch ein besonderes Alter Ego spielt eine Rolle, eine zweite Identität, die aus den Spuren jedes Menschen im Internet geboren wird.

So bunt und vielschichtig und widersprüchlich die Zukunft im Radio ist - drei Konstanten tauchen immer wieder auf: Das Zusammenwachsen der Länder und Nationen als Bereicherung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die Ökonomisierung des Lebens und Europa als Festung. Ein Beispiel ist das Hörspiel über die Einkindfamilie Schulz, die Opa im Gefängnis besucht. Herr und Frau Schulz müssen am Arbeitsplatz so flexibel sein, dass nicht mehr das Kind an erster Stelle steht. Den Job aufgeben kann Frau Schulz aber auch nicht, denn dann wäre zu wenig Geld da. Früher war alles besser, mault der Opa und meint damit: Heute ist alles besser. Es könnte in Zukunft also noch dicker kommen. Wir müssen schließlich Geld verdienen, sagen die Schulzes - und viele andere Interviewgäste - im Europaradio immer wieder.

Viel ist auch über allgegenwärtige Kontrollen zu hören. Im Inneren zum Beispiel die der Wasserpolizei, die die Rationierung dieses wichtigsten Lebensmittels überwacht, und die der Arbeitslosen, die "big-brother-mäßig" kontrolliert werden. Nach außen die Abschottung der Festung Europa. Das solle man nicht zu negativ sehen, wird die Frage der Kontrolle der Außengrenze später einer der Europapolitiker in der Fishbowl kommentieren. "Das kommt auf die Perspektive an", gibt einer der rumänischen Jungen zurück, "wenn Sie mit dem Zug von der Ukraine nach Rumänien fahren, dann wird auf Druck der EU jede Ritze kontrolliert. Vom Rand sieht Europa anders aus."

Deshalb gibt es ja auch Projekte wie "Radio Europa 2020", in dem sich Jugendliche mit unterschiedlichen Hintergründen begegnen. Damit sie den Blickwinkel aus einer anderen Ecke Europas kennen lernen, der unter Umständen ein ganz anderer ist. Die Perspektiven verschieben sich übrigens nicht nur durch räumliche Entfernungen, sondern auch durch die Zeit. Ein Fischbowl-Politiker freut sich über die European Army, die sich 2015 wegen der Krieges zwischen den USA und dem Iran formieren wird: "Das bedeutet, dass Europa weiter zusammen wächst." Einer der jungen Radiomacher staunt: "Für uns war die European Army ein Schreckensszenario." Susanne Balthasar arbeitet als freie Journalistin in Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.