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Manfred Nowak

Das System Guantánamo

Einleitung

Die durch die Kaperung von Linienflugzeugen verursachten Selbstmordanschläge auf das World Trade Center und das Pentagon, bei denen am 11. September 2001 knapp 3000 Menschen getötet und eines der wichtigsten Symbole des Welthandels zerstört wurden, zählen zu den schwersten und brutalsten Terroranschlägen der Geschichte. Sie wurden vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit qualifiziert; das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der UNO-Charta wurde in diesem Zusammenhang hervorgehoben. i Auf der Basis dieser Resolutionen haben die USA und ihre Alliierten im Herbst 2001 einen Krieg gegen Afghanistan begonnen, der in relativ kurzer Zeit zum Sturz des Taliban-Regimes geführt hat, dem zu Recht vorgeworfen wurde, das internationale Terrornetzwerk al-Qaida aktiv und wirksam zu unterstützen. Mit dem Sturz der Taliban-Regierung, spätestens aber mit der Einsetzung der Regierung Karsai auf der Basis des "Petersberger Friedensabkommens", d.h. am 5. Dezember 2001, muss dieser durch den Sicherheitsrat autorisierte internationale bewaffnete Konflikt als beendet betrachtet werden. i Auch wenn die USA weiterhin Truppen in Afghanistan stationiert haben und in Kampfhandlungen mit "Gotteskriegern" der Taliban und/oder al-Qaida verwickelt sind, so handelt es sich dabei völkerrechtlich lediglich um die Unterstützung einer souveränen Regierung bei der Bekämpfung von Aufständischen. Selbst wenn diese Kampfhandlungen als nicht-internationaler bewaffneter Konflikt qualifiziert werden, sind die USA nicht Partei im Sinne der Genfer Konventionen.

In der Zwischenzeit haben die USA jedoch begonnen, die Kriegsterminologie auch auf den weltweiten Kampf gegen den globalen Terror der al-Qaida und ihrer Verbündeten auszudehnen. Die Regierung von George W. Bush spricht bewusst vom "Krieg gegen den Terror" und suggeriert damit, dass sich die USA in einem globalen bewaffneten Konflikt mit al-Qaida befänden, auf den die Regeln des Kriegsrechts anwendbar wären. Auch wenn diese Argumentation auf äußerst fragwürdigen und zum Teil wieder formell zurückgezogenen Rechtsgutachten des Justizministeriums beruht, durch keine Sicherheitsrats-Resolution gedeckt ist und vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ausdrücklich zurückgewiesen wurde, i so stellt sie dennoch das Fundament einer Politik dar, die bis in die Gegenwart weit reichende Ausnahmen von essenziellen Grundsätzen des Rechtsstaats, der Demokratie und der Menschenrechte zu legitimieren versucht. Sobald diese Grundannahme der Bush-Argumentation entfällt (und sie wird zunehmend auch vom Obersten Gerichtshof der USA widerlegt), i fällt das gesamte Rechtskonstrukt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Die Fiktion eines "Kriegs gegen den Terror" dient zum einen dazu, die verfassungsrechtlichen Machtbefugnisse des Präsidenten auf Kosten der anderen beiden Staatsgewalten (Kongress und Gerichtsbarkeit) in einem Maße auszudehnen, das fast diktatorische Züge annimmt und das bewährte System der "checks and balances" untergräbt. Zum anderen wird argumentiert, dass im "Krieg gegen den Terror" nur die Spezialnormen des humanitären Völkerrechts zur Anwendung kämen, wodurch die Geltung anderer völkerrechtlicher Verpflichtungen, insbesondere jene auf Grund internationaler Menschenrechtsverträge, ausgeschlossen sei. Selbst wenn man der Fiktion eines "Kriegs gegen den Terror" folgen wollte, ist auch diese Argumentation durch die einhellige Judikatur internationaler Rechtsinstanzen wie dem Internationalen Gerichtshof (IGH) oder dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen widerlegt. Schon ein kurzer Blick in die so genannten Derogationsklauseln internationaler Menschenrechtsverträge i hätte den Rechtsberatern von Präsident Bush klar machen müssen, dass die Menschenrechte nicht nur im Frieden, sondern auch im Krieg gelten. Denn der Sinn dieser Derogationsklauseln besteht genau darin, den Staaten im Fall eines Krieges, Bürgerkrieges, schwerer Naturkatastrophen oder sonstiger Ausnahmezustände die Möglichkeit zu geben, einzelne Menschenrechte, soweit dies zur Bekämpfung dieser besonderen Gefahren absolut notwendig ist, vorübergehend außer Kraft zu setzen. Beispielsweise kann das Recht aufBewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- oder persönliche Freiheit im Kriegsfall weitgehenden Beschränkungen unterworfen werden. Selbst das Recht auf Leben gilt im Kriegsfall nicht für Kombattanten, wohl aber für Zivilisten. Einzelne Rechte wie insbesondere das Verbot der Folter und Misshandlung sind jedoch "notstandsfest", d.h. sie können selbst im Krieg weder eingeschränkt noch gar außer Kraft gesetzt werden. Zusätzlich kann ein Staat nur im Rahmen der in den betreffenden völkerrechtlichen Verträgen normierten Spielregeln von seinem Recht Gebrauch machen, einzelne Menschenrechte vorübergehend einzuschränken oder außer Kraft zu setzen: Er muss einen Kriegs- oder Ausnahmezustand offiziell ausrufen, diesen der zuständigen internationalen Organisationen (hier: den Vereinten Nationen) offiziell mitteilen, in dieser Notifizierung ausdrücklich erklären, welche Rechte in welchem Ausmaß und für welche Zeit beschränkt werden sowie sich der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Derogationsmaßnahmen durch die zuständigen internationalen Organe unterwerfen. Während beispielsweise die Briten nach den Anschlägen vom 11. September gegenüber dem Europarat und der UNO ausdrücklich gewisse Einschränkungen des Rechts auf persönliche Freiheit von des Terrorismus verdächtigen Ausländern notifiziert hatten, i machten sich die USA nicht einmal die Mühe einer derartigen Mitteilung, da sie den Standpunkt vertreten, internationale Menschenrechtsverträge seien im Kriegsfall ohnedies nicht anwendbar.

Auf der Basis dieser völkerrechtlich unhaltbaren und von verschiedenen internationalen Organen immer wieder kritisierten Argumentation hat die Bush-Regierung ein ganzes System von Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus entwickelt, das außerhalb des Rechtsstaats angesiedelt ist und mögliche demokratische oder rechtsstaatliche Kontrollen durch amerikanische oder internationale Instanzen bewusst einschränkt oder gar auszuschalten versucht. Diese häufig als "System Guantánamo" bezeichnete Strategie zielt darauf, ausländische Staatsbürger, die des Terrorismus verdächtigt werden, außerhalb der Rechtsordnung zu stellen, also quasi für vogelfrei zu erklären.

Die Inhaftierung von Menschen ohne gerichtliche Anordnung oder gerichtliche Anklage auf unbestimmte Zeit ("Bis der Krieg gegen den Terror vorbei ist") zum Zweck der durch brutale Verhörmethoden erpressten Erlangung geheimdienstlich interessanter Informationen in einem Militärlager in der Guantánamo-Bucht auf Kuba ist nur der bekannteste Anwendungsfall dieses Systems. Die Ansiedlung dieses Gefangenenlagers außerhalb des Territoriums der USA wurde bewusst gewählt, um die Anwendung der US-Verfassung und internationaler Menschenrechtsstandards zu umgehen. Die irrige (oder irreführende) Annahme, die Garantien der US-Verfassung seien auf Guantánamo nicht anwendbar, wurden schon im Juni 2004 durch den Obersten Gerichtshof der USA im Fall Rasul v. Bush widerlegt. i

Zum "System Guantánamo" gehören aber auch die so genannten außerordentlichen "Rendition"-Flüge durch von der CIA gecharterte Privatflugzeuge. Bei dieser vom Sonderermittler des Europarates, Dick Marty, als "globales Spinnennetz" bezeichneten Praxis des US-Geheimdienstes handelt es sich um das Kidnapping und Transportieren von des Terrorismus verdächtigen Menschen zwischen verschiedenen Lagern und Staaten unter bewusster Umgehung aller relevanten menschenrechtlichen Mindeststandards zum Schutz der persönlichen Freiheit, Freizügigkeit und anderer Menschenrechte. i

Eine weitere Form der "Auslagerung" der Folter zum Zweck der Umgehung internationaler Menschenrechtsstandards ist die Einbeziehung von privaten Sicherheitsfirmen bei Verhören, wie dies z.B. im berüchtigten US-Lager von Abu Ghraib im Irak nachweislich der Fall war. Auch hier gilt natürlich aus rechtlicher Sicht, dass sich kein Staat durch die Privatisierung von Gefängnissen, Geheimdienst- oder sonstigen Sicherheitskräften seiner völkerrechtlichen Verpflichtung entziehen kann, Häftlinge in menschenwürdiger Weise zu behandeln.

Schließlich gehört zum "System Guantánamo" auch die Existenz geheimer Gefangenenlager der USA. Dass es solche Lager gibt, ist schon durch die bloße Tatsache bewiesen, dass die USA zugeben, gewisse hochrangige al-Qaida-Funktionäre in ihrem Gewahrsam zu haben, deren Aufenthaltsort aber aus Sicherheitsgründen nicht bekannt geben wollen. i Wo diese geheimen Lager sind, konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden, aber es gab und gibt viele diesbezügliche Vermutungen, die in der Regel auf gut informierten Quellen beruhen. i Dass es solche Lager auch in Europa, insbesondere in Polen und Rumänien gab, gilt als wahrscheinlich, wie der Bericht von Dick Marty belegt. Auf die entsprechenden Fragen des Generalsekretärs des Europarates, der zur Klärung dieses brisanten Problems sogar von seiner Befugnis gemäß Artikel 52 EMRK Gebrauch machte, reagierten die europäischen Regierungen in äußerst wortkarger Weise, was darauf schließen lässt, dass die CIA-Praxis der "Rendition"-Flüge und geheimen Lager nicht ohne Wissen oder aktive Partizipation europäischer Staaten geschah. i Aus menschenrechtlicher Sicht muss betont werden, dass die Schaffung geheimer Lager durch die USA - ob in Europa oder anderswo - keinesfalls als "Kavaliersdelikt" bagatellisiert werden darf. In jedem einzelnen Fall des Festhaltens eines Menschen in einem geheimen Lager handelt es sich um das Phänomen des "Erzwungenen Verschwindenlassens", das nicht nur eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen darstellt, sondern im Fall der systematischen Praxis als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden muss. Die betroffenen Menschen werden für lange Zeit, manchmal über mehrere Jahre, incommunicado festgehalten, d.h. unter völliger Abkoppelung von der Außenwelt, ohne die Möglichkeit einer Kommunikation mit Angehörigen, Anwälten oder Ärzten.

Die Relativierung des Folterverbots durch die USA

In Reaktion auf die Anschläge vom 11. September entfaltete sich vor allem in den USA eine rege Diskussion über die Absolutheit des Folterverbots. Mit Extrembeispielen wie dem "ticking bomb"-Szenario wurde versucht, ein Tabu zu brechen. Besonders hervorgetan hat sich dabei der Harvard-Rechtsprofessor Alan Dershowitz, der durch seine wiederholten Folter-Legitimierungsartikel in Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften Berühmtheit erlangte. Seine Grundthese ist ebenso einfach wie falsch. Er geht von der Annahme aus, dass die meisten Sicherheitskräfte dieser Welt in bestimmten Extremfällen foltern würden. Folglich wäre es besser, begrenzte Foltermethoden ausdrücklich gesetzlich zuzulassen und unter gerichtliche Kontrolle zu stellen, als dass diese Entscheidungen und Praktiken ohne gesetzliche Regelung und rechtsstaatliche Kontrolle durchgeführt würden. Die Realisierung dieses Vorschlags würde uns unverzüglich ins Mittelalter zurückwerfen, in dem die Folter als Mittel zur Erlangung von Geständnissen detailliert in den damaligen Strafrechtsordnungen niedergelegt war. i Der entscheidende Fehler in der Argumentation von Dershowitz findet sich bereits in seiner Hypothese. Die Annahme, dass durchschnittliche Polizeibeamte in Extremfällen ohnedies folterten, mag vielleicht für Diktaturen und Unrechtsstaaten, vielleicht auch für die CIA zutreffen, wohl aber nicht für gefestigte Rechtsstaaten Europas, wie der bekannte Daschner-Fall in Deutschland eindrucksvoll belegte. i

In den USA scheinen die Thesen von Dershowitz allerdings auf fruchtbaren Boden zu fallen. Das Justizministerium hat in einer Reihe von zum Teil abenteuerlich argumentierenden und später ausdrücklich wieder zurückgezogenen "Rechtsgutachten" dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister vielfältige Argumente geliefert, dass begrenzte Foltermethoden im "Krieg gegen den Terror", solange sie gegen ausländische Staatsbürger außerhalb des Territoriums der USA angewendet werden, im Hinblick auf die US-Verfassung und völkerrechtliche Verpflichtungen der USA zulässig seien und, selbst wenn sie rechtswidrig seien, jedenfalls nicht zu strafrechtlicher Verfolgung führen würden. i Besonders berüchtigt - aber folgenschwer - war jenes Memorandum, das der damalige stellvertretende Generalstaatsanwalt im Rechtsbüro des Justizministeriums und heutige Bundesrichter Jay S. Bybee am 1. August 2002 dem Rechtsberater des Präsidenten und heutigen Justizminister, Alberto Gonzales, übermittelte. Darin hat er argumentiert, dass der Folterbegriff auf schwere physische Misshandlungen reduziert werden könne, die zu ernsten Körperverletzungen wie Tod oder Organversagen führen. Auch psychische Folter wurde nur als solche anerkannt, wenn sie langfristige psychische Störungen wie post-traumatisches Stress-Syndrom nach sich zog. i Alle sonstigen Misshandlungen, die diesen extremen Schweregrad nicht erreichten, könnten zwar als grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung qualifiziert werden, doch sei deren Verbot relativ im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Verdächtigen und vor allem nicht strafrechtlich relevant. Aber selbst wenn bei einem Verhör eines verdächtigen Terroristen Folter im engen Sinn dieser Definition angewandt werden sollte, könnte der Folterer Notstand oder Notwehr als Rechtfertigungsgrund angeben, da sich die amerikanische Nation eben in einer kollektiven Notwehrsituation befinde. i

Obwohl das "Bybee Memorandum" und ein ähnliches Elaborat aus der Feder von John Yoo, Staatssekretär und Rechtsberater im Justizministerium, im Gefolge des Abu-Ghraib-Skandals offiziell zurückgezogen und am 30. Dezember 2004 durch ein moderateres Rechtsgutachten ersetzt wurde, diente es als Rechtsgrundlage für die beiden berüchtigten "Foltermemoranden" von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, die als Ausnahmen von den üblichen Verhörmethoden der Armee, wie sie im Army Field Manual normiert wurden, die wichtigste "Rechtfertigung" für Folter und Misshandlungen in Guantánamo Bay bis Ende 2005 darstellten. Erst mit dem Detainee Treatment Act vom 31. Dezember 2005, der auf Initiative des republikanischen Senators und Vietnamkrieg-Veteranen John McCain gegen den erbitterten Widerstand von Präsident George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney und CIA-Direktor Porter Goss durchgesetzt wurde, ist erstmals in der Geschichte der USA ein ausdrückliches gesetzliches Verbot aller Formen grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch US-Beamte, auch außerhalb des Territoriums der USA, eingeführt worden. Zwar gibt es weiterhin große Unklarheit über die Interpretation dieser im Völkerrecht relativ klaren Begriffe durch die USA, i und der Präsident hat sich durch ein umstrittenes "signing statement" ausdrücklich die Möglichkeit offen gelassen, dieses Gesetz im Ernstfall zu ignorieren. Aber die Tatsache, dass der Versuch von Dick Cheney und Porter Goss, der CIA ausdrücklich das Recht zu körperlicher und psychischer Misshandlung unterhalb der Foltergrenze einzuräumen, am Widerstand von Senat und Repräsentantenhaus gescheitert ist, kann bereits als Erfolg gewertet werden.

Der UNO-Bericht zu Guantánamo Bay

Seit der Errichtung des Gefangenenlagers in Guantánamo Bay im Januar 2002 haben verschiedene Sonderberichterstatter und sonstige Experten der UNO-Menschenrechtskommission immer wieder Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen in diesem Lager erhalten und ihre Besorgnis über die Rechtlosigkeit der Häftlinge ausgedrückt. Wie in solchen Fällen allgemein üblich, haben die Experten von der US-Regierung Aufklärung über diese Vorwürfe verlangt, doch diese hat eine Kooperation im Hinblick auf nationale Sicherheitsinteressen und die angebliche Nichtzuständigkeit der UNO bei Menschenrechtsverletzungen im "Krieg" abgelehnt. Folglich sind auch die verschiedenen Ersuchen um eine Zugangsberechtigung zum Zweck der Untersuchung vor Ort unbeantwortet geblieben. Da sich die Vorwürfe über willkürliche Haft, Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht, Folter und Misshandlungen in Guantánamo Bay und anderen US-Lagern für des Terrorismus verdächtige Personen, insbesondere in Afghanistan und Irak, häuften, beschlossen alle ca. 40 unabhängigen Experten der Kommission anlässlich ihrer Jahrestagung im Juni 2004, ein dringendes Gesuch an die US-Regierung zu richten, einer Abordnung von vier Experten ein objektives fact-finding vor Ort zu ermöglichen. Da dieses Thema nun auch die Kommission i selbst beschäftigte (Kuba hatte einen Resolutionsantrag genau zu diesem Thema eingebracht), sandte die US-Regierung im März 2005 eine hochrangige Delegation zu einem ersten Sondierungsgespräch mit den vier Experten i nach Genf. Es wurde vereinbart, die Untersuchung vorerst auf das Lager in Guantánamo Bay zu beschränken. Im Gegenzug versprach die US-Delegation den Experten wie auch der Europäischen Union (deren Mitgliedstaaten im Vertrauen auf die Einhaltung dieses Versprechens in der Kommission gegen den kubanischen Resolutionsantrag gestimmt hatten), sich für eine unverzügliche Einladung zur Inspektion dieses Lagers durch die US-Regierung einzusetzen. Da diesem Versprechen trotz mehrmaliger Mahnungen keine Taten folgten, beschlossen alle Experten anlässlich ihrer Jahrestagung im Juni 2005, fünf Experten i zu ermächtigen, einen gemeinsamen Bericht über die Situation der Häftlinge in Guantánamo Bay zu erstellen, und zwar unabhängig davon, ob die US-Regierung letztlich einem fact-finding vor Ort zustimmt oder nicht.

Die Untersuchung begann im Sommer 2005 mit einem detaillierten Fragebogen an die US-Regierung, der von dieser zwar nicht vollständig, aber doch zu einem guten Teil beantwortet wurde. Die Auswertung der Antworten auf diesen Fragebogen sowie weiterer offizieller US-Dokumente, die den Experten zur Verfügung gestellt oder in der Zwischenzeit auf Grund verschiedener Klagen durch amerikanische Menschenrechtsorganisationen gemäß des Freedom of Information Acts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, stellt den Kern der primär rechtlichen Analyse des Guantánamo-Berichts dar. Darüber hinaus haben ich in meiner Funktion als UNO-Sonderberichterstatter über Folter und meine vier Kollegen verschiedene Interviews mit ehemaligen Guantánamo-Häftlingen in Großbritannien, Frankreich und Spanien sowie mit deren Anwälten, NGOs und sonstigen Auskunftspersonen in den USA geführt. Während unseres interaktiven Dialogs mit Regierungen in der UNO-Generalversammlung in New York kam es Ende Oktober 2005 zu zwei weiteren Gesprächen mit einer hochrangigen US-Delegation, in deren Verlauf uns eine Einladung des Verteidigungsministeriums für einen Besuch von Guantánamo Bay übermittelt wurde, die allerdings an gewisse Bedingungen geknüpft war. Trotz schwerer Bedenken akzeptierten wir, dass die Einladung nur an drei der fünf Experten adressiert und auf einen einzigen Tag beschränkt war; als Besuchstag wurde der 6. Dezember 2005 festgelegt. Gleichzeitig betonten wir, dass diese Haftinspektion natürlich in vollem Einklang mitden generellen Bedingungen derartiger UNO-Missionen durchgeführt werden müsse, auf deren Einhaltung die USA gegenüber anderen Staaten wie China immer gepocht hatten. Dazu gehört natürlich das Recht, mit allen Häftlingen unbeobachtete Gespräche führen zu können. Da die US-Regierung nicht bereit war, uns Garantien für die Einhaltung dieser für ein objektives fact-finding unabdingbaren Voraussetzung zu geben, mussten wir den Besuch in letzter Minute absagen.

Trotz der Unmöglichkeit einer Untersuchung vor Ort kamen die fünf Experten in ihrem Bericht vom 27. Februar 2006 zu klaren und einstimmigen Ergebnissen, i die im Folgenden kurz zusammengefasst werden sollen: - Entgegen der Rechtsauffassung der USA und in Ermangelung einer entsprechenden Derogationserklärung durch die US-Regierung sind die durch die USA ratifizierten internationalen Menschenrechtsverträge (insbesondere CCPR und CAT) in Guantánamo Bay voll anwendbar. - Die Inhaftierung der Häftlinge ohne Zugang zu einem unabhängigen Gericht ist willkürlich und verletzt das Recht auf persönliche Freiheit. - Die durch Präsident Bush eingerichteten Militärkommissionen, die für Strafverfahren gegen die eines strafrechtlichen Delikts angeklagten Häftlinge zuständig sind, erfüllen keineswegs die Mindestgarantien eines unabhängigen Gerichts. - Die Versuche der US-Regierung, Folter neu zu definieren, sowie die verbreitete Unsicherheit, welche Verhörmethoden zulässig sind und welche nicht, sind alarmierend. - Die von Verteidigungsminister Rumsfeld ausdrücklich angeordneten Verhörmethoden (Verharren in Stresspositionen, lange Isolationshaft, Ausnutzung individueller Phobien wie Angst vor Hunden, Desorientierung durch das Überstülpen von Kapuzen sowie durch Entzug von Licht, Schlaf, Kleidung und sonstigen Gegenständen, Anhaltung von Häftlingen unter extremen Temperaturen, insbesondere großer Kälte bei gleichzeitigem Entzug von Kleidung und Decken etc.) stellen zumindest erniedrigende Behandlung, in vielen Fällen auch Folter dar. - Exzessive Gewalt während der "Rendition"-Flüge sowie zur Bestrafung nicht-kooperativer Häftlinge einschließlich gewisser Methoden der Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge kann als Folter qualifiziert werden. - "Rendition"-Flüge in Staaten, in denen systematisch gefoltert wird, stellen eine Verletzung des Refoulement-Verbots in Artikel 3 CAT dar. - Gewisse Praktiken und Verhörmethoden verletzen das Recht auf Religionsfreiheit und stellen eine Diskriminierung der Häftlinge auf Grund ihrer moslemischen Religion dar. - Die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit und die völlige Unsicherheit der Häftlinge über die Dauer ihrer Haft und ihr weiteres Schicksal führen zu ernsten psychischen Störungen, Hungerstreiks und Selbstmordversuchen und verletzen daher das Recht der Häftlinge auf Gesundheit.

Diese schweren und systematischen Verletzungen verschiedener Menschenrechte führten zu einer Reihe von einstimmigen und weit reichenden Empfehlungen an die US-Regierung: - die unverzügliche Schließung des Lagers, wobei jene Häftlinge, gegen die Beweise für begangene Straftaten vorliegen (bisher sind lediglich zehn von knapp 500 Personen vor Militärkommissionen angeklagt worden), vor ein unabhängiges Gericht gestellt werden sollten; - die Aufhebung spezieller Verhörmethoden und sofortige Beendigung von Folter und Misshandlung; - die sofortige Einstellung von "Rendition"-Flügen in Staaten, in denen eine ernsthafte Gefahr für die Häftlinge besteht, gefoltert zu werden; - Einrichtung effektiver und unabhängiger Instanzen zur Untersuchung von Foltervorwürfen sowie die Entschädigung von Folteropfern; - Beendigung der Zwangsernährung von hungerstreikenden Häftlingen und Einbeziehung unabhängiger Ärzte; - voller und unbeschränkter Zugang der UNO-Experten nach Guantánamo Bay einschließlich des Rechts, Häftlinge unbeobachtet zu interviewen.

Die US-Regierung reagierte in einer Weise auf unseren Bericht, die man von einer demokratischen Regierung nicht erwartet hätte. i Statt sich mit den Argumenten der Experten ernsthaft auseinander zu setzen, werden lediglich altbekannte und von keinem anderen Staat der Welt oder von unabhängigen Experten und Wissenschaftlern geteilte Argumente vorgebracht wie die Fiktion eines internationalen bewaffneten Konflikts gegen al-Qaida, auf den lediglich das humanitäre Völkerrecht (und dieses nur in eingeschränkter Weise, weil es sich bei den Häftlingen um so genannte "illegal enemy combatants" handelte), nicht aber internationale Menschenrechtsverträge anwendbar seien. Am meisten hat uns aber das Argument überrascht, dass wir an einem objektiven fact-finding nicht interessiert seien, weil wir das großzügige Angebot einer "guided tour" nach Guantánamo ohne direkten Kontakt mit den Häftlingen ausgeschlagen hätten.

Follow-up

Der am 27. Februar 2006 auf der Homepage des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte veröffentlichte Bericht ist auf ein reges mediales Interesse und auf breite Zustimmung seitens der Wissenschaft, der NGOs, aber auch vieler Repräsentanten internationaler Organisationen und Regierungen gestoßen. Insbesondere haben sich nachUNO-Generalsekretär Kofi Annan und der Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, auch das EU-Parlament und die Präsidentschaft der EU unserer Forderung nach Schließung des Lagers angeschlossen. i Auch der UNO-Ausschuss gegen die Folter hat unsere Bedenken hinsichtlich von Folter und Misshandlung geteilt und die sofortige Schließung gefordert. i Schließlich hat auch der Selbstmord von drei Häftlingen im Juni 2006 jene Stimmen innerhalb der USA lauter werden lassen, die der Politik der Bush-Regierung betreffend die Behandlung des Terrorismus verdächtiger Personen kritisch gegenüberstehen. All diese Kritik dürfte ihre Wirkung nicht verfehlt haben, denn Präsident Bush hat kürzlich beim EU-USA-Gipfel in Wien seine Bereitschaft bekundet, Guantánamo in absehbarer Zeit schließen zu wollen.

Mit der bloßen Schließung ist das Problem Guantánamo allerdings noch nicht gelöst. Vielmehr bedarf es eines internationalen burden sharing und eines gemeinsamen Aktionsplanes, was mit den derzeit ca. 460 Häftlingen geschehen soll. Dem Vernehmen nach reichen die Beweise über begangene Verbrechen nur bei einer kleinen Minderheit für eine strafrechtliche Anklage. Das bedeutet freilich nicht, dass alle anderen Häftlinge völlig unschuldig oder ungefährlich wären. Bei jenen Häftlingen, die offensichtlich unschuldig und ungefährlich sind, stellt sich die Frage, ob sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden können. Da in vielen dieser Länder systematisch gefoltert wird und al-Qaida-Verdächtige natürlich besonders gefährdet sind, scheint eine Ausweisung in diese Länder im Hinblick auf das Refoulement-Verbot unmöglich. Da diese Personen auch nicht notwendigerweise in den USA bleiben können und/oder wollen, müssten Drittländer gefunden werden, die bereit sind, diese Menschen als Flüchtlinge aufzunehmen oder ihnen einen humanitären Aufenthaltstatus zu gewähren. Die schwierigen Verhandlungen über die Aufnahme jener 16 Uiguren, die offensichtlich unschuldig sind, aber nicht nach China zurückgeschickt werden können, zeigen, dass es nicht leicht werden wird, Aufnahmeländer für potenzielle Terroristen zu finden. Obwohl die USA diesbezüglich mit ca. 20 Staaten in Verhandlung getreten sind, hat bisher lediglich Albanien eine Gruppe von fünf Uiguren aufgenommen.

Zur Lösung der angesprochenen Probleme schlage ich folgendes Modell vor: - Die USA sollen autonom entscheiden, welche Häftlinge sie anklagen wollen. Diese sollen vor ein ordentliches US-Bundesstrafgericht (kein Militärgericht) gestellt werden und haben ein Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, wie jeder Mensch, der einer Straftat verdächtigt und angeklagt wird. - Die UNO sollte eine unabhängige Expertenkommission einsetzen, die über das Schicksal der übrigen Häftlinge entscheiden soll. Zu diesem Zweck sollte sie auf der Basis aller schriftlichen Akten ein persönliches Gespräch mit jedem Häftling in Guantánamo führen. - Häftlinge, deren Auslieferung von ihrem Heimatstaat oder einem Drittstaat zum Zweck der Durchführung eines Strafgerichtsverfahrens oder der Vollstreckung eines bereits gefällten Urteils verlangt wird, sollen an diese Staaten ausgeliefert werden, falls sichergestellt ist, dass sie dort nicht der Gefahr der Folter oder eines offensichtlich unfairen Verfahrens ausgesetzt werden. - Häftlinge, denen auch nach mehreren Jahren Haft undVerhören durch US-Militärs, CIA und FBI keine Straftat vorgeworfen wird, die offensichtlich unschuldig sind, haben ein Recht auf Freilassung aus der Haft und auf Entschädigung gegenüber der US-Regierung. - Jene, die freiwillig in ihre Heimatstaaten zurückkehren wollen und dort nicht der Gefahr der Folter oder einer vergleichbaren schweren Menschenrechtsverletzung ausgesetzt sind, sollten in diese Länder zurückkehren dürfen. - Für alle anderen Häftlinge sollten Drittstaaten gefunden werden, die bereit sind, nach einem fairen Aufteilungsschlüssel ein gewisses Kontingent an Guantánamo-Häftlingen aufzunehmen und ihnen einen Flüchtlings- oder sonstigen Aufenthaltsstatus zu gewähren. - Jene Personen, denen zwar keine Straftat in der Vergangenheit nachgewiesen werden kann, die aber nach Auffassung der Expertenkommission eine unmittelbare Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, können natürlich jenen Einschränkungen ihrer Menschenrechte unterzogen werden, die nach den Gesetzen des Aufnahmelandes in solchen Fällen vorgesehen sind. - Die UNO sollte nicht nur für die Entscheidung, was mit den Guantánamo-Häftlingen geschehen soll, und für die Auswahl jener Länder verantwortlich sein, die bereit sind, Häftlinge aufzunehmen, sondern sie sollte auch den gesamten Prozess der Repatriierung und Integration in die Heimat- oder Drittstaaten aktiv unterstützen und begleitend beobachten.


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