Pressemitteilung
Datum: 07.03.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
07.03.2001
Rede der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Anke Fuchs zur Preisverleihung "Frauen Europas Deutschland 2001" an Philomena Franz in der Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt
Es gilt das gesprochene
Wort:
"Nach einem Fernsehinterview im Jahre 1985 mit der diesjährigen Preisträgerin Philomena Franz erreichte die Redaktion folgende empörte und gleichzeitig empörende Zuschrift:
"...Zum Sonntagmittag, zur besten Sendezeit, einer Zeit, da der arbeitende deutsche Mensch sich auch geistig-seelisch erholen möchte, bietet das lizensierte ZDF uns eine "gepflegte Zigeunerin", geschminkt, das KZ (wie so viele, die heute zu Worte kommen) quicklebendig überlebt habend, Märchen erzählend!...Wer befreit uns bloß von diesem Lügengespinst!..."
Heute - 16 Jahre später - steigt die Anzahl der Gewalttaten dramatisch an, die aus Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass begangen werden. Es gibt sie also immer noch, die Menschen, die nichts, aber auch wirklich nichts aus der Geschichte gelernt haben und nicht einmal zu lernen bereit sind. Und solange es sie gibt, ist die Gefahr eines Rückfalls nicht gebannt.
Welch' ein Unterschied, wenn eine Überlebende, ein Opfer der deutschen Nationalsozialisten ihr Wirken so beschreibt: "Ich möchte nicht anklagen, ich möchte erinnern".
Wer ihr autobiographisches Buch "Zwischen Liebe und Hass - Ein Zigeunerleben" liest, taucht ein in das Leben der Sinti Philomena Franz - in die Höhen und Abgründe, von der Unbeschwertheit des musikalisch talentierten Kindes bis hin zum dramatischen Überlebenskampf zwischen Auschwitz, Birkenau und Ravensbrück. Die Bilder des vierspännigen Zigeunerwagens, der fröhlichen Feste, der Naturverbundenheit der Sinti auf der einen Seite, die einen Einblick in ihre Lebensfreude vermitteln, und die Beschreibung der Deportation, des unvorstellbaren Leidensweges einer Sinti-Familie unter einem menschenverachtenden Regime, in dessen Augen nur die sog. Herrenrasse zählte, auf der anderen Seite. Gegensätzlicher, dramatischer, ja unbegreiflicher kann ein Leben kaum verlaufen.
Sinti und Roma galten nach dem absurden Weltbild der Nationalsozialisten als rassisch minderwertige "asoziale" und "kriminelle" Zigeuner. Mit dem Vorsatz, diese europäische Minderheit vollständig zu vernichten, wurden sie systematisch und familienweise erfasst und deportiert. Hunderttausende von ihnen sind zwangssterilisiert oder in Konzentrationslagern ermordet worden - in Auschwitz-Birkenau ebenso wie in Treblinka, Majdanek, Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Bergen-Belsen, Dachau, Mauthausen und an weiteren Orten.
Die leidvolle Geschichte der Sinti und Roma begann allerdings schon weitaus früher. Vorurteile gegen "Zigeuner" waren leider schon immer ein bedrückendes Phänomen in der europäischen Geschichte und bestehen auch heute noch.
Als der Freiburger Reichstag im 15. Jahrhundert die bis dahin in die mittelalterliche Gesellschaft integrierte Minderheit als angebliche Spione der Türken für vogelfrei erklärte, entstand jenes Bild, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst zum eisernen Klischee der "wilden Zigeunerrasse" erstarrt war. Selbst bedeutende Dichter und Denker machten nicht halt davor, dieses Klischee in ihren Werken zu verwenden oder gar zu schüren. Durch verschiedene Epochen hinweg begegnen wir in der hohen wie in der trivialen Literatur den Stereotypen der hässlichen, alten Wahrsagerin und Kupplerin, des kräftigen Räuberhauptmanns mit schwarzem Schnurrbart oder der jungen, verführerischen Tänzerin mit verheissungsvoll blickenden Augen.
In den "Zigeunermythen" des späten Mittelalters, bei Luther wie in den Sammlungen der romantischen Literatur werden die "fahrenden Zigeuner" als Bettler, Diebe und Betrüger verurteilt, dämonisiert und kriminalisiert. Diese eben auch durch die Kunst manifestierten Vorurteile gehören zur Vorgeschichte des von den Nationalsozialisten programmierten Völkermordes an den Zigeunern, den Sinti und Roma.
Und auch heute noch - wage ich zu behaupten - wissen wir viel zu wenig über Sinti und Roma und ersetzen Kenntnis durch Vorurteile. Was kennen wir wirklich vom "anderen" Leben dieser Volksgruppe?
Philomena Franz hat sich Austausch und das gegenseitige Verständnis zur Aufgabe gemacht. Sie sind Gegenstand ihrer Bücher und Gedichte. Aber das reicht ihr nicht. Sie geht in die Schulen, Volkshochschulen, Universitäten, Jugendeinrichtungen und Gemeinden, trägt aus ihren Werken vor, berichtet über ihre Erfahrungen, diskutiert mit den Menschen und setzt sich mit deren Erfahrungen, Klischees, Vorurteilen, herablassender Toleranz und ihrem guten Willen zur Verständigung - den gibt es sicher auch - auseinander.
Sie pflegt damit eine Kultur des Erinnerns, die 50 Jahre nach Kriegsende eine neue Dimension erreicht. Wir stehen vor einem Generationenwechsel: Die Generationen, die selbst noch den Nationalsozialismus erlebt haben oder deren Eltern noch unmittelbar darüber berichten konnten, treten zurück. Für die jungen liegt dieser Abschnitt der deutschen und europäischen Geschichte so weit zurück, dass sie keine persönlichen Bezüge dazu mehr haben. Die Schrecken des Nationalsozialismus sind kein sinnlich erfahrener Hintergrund, kein unmittelbares Motiv, Freiheit, Menschenwürde und Toleranz zu behaupten. Im Gegenteil: Die jungen Menschen von heute halten ihre Freiheiten und Rechte schon für selbstverständlich, was ja im Grunde ein gutes Zeichen ist. Gerade deshalb müssen wir ihnen die Erfahrungen der Vergangenheit vermitteln. Freiheit und Menschenwürde sind prekäre Güter, sehr schutzbedürftig; sie erhalten sich nicht von selbst, sondern müssen "gelebt", genutzt, immer wieder neu gestiftet werden.
Die Menschenwürde und die Menschenrechte sind heute in Deutschland noch nicht gefährdet. Könnte man das nicht mehr gelassen feststellen, wäre es allerdings zu spät. Deshalb müssen wir uns mit moralischer Beliebigkeit, mit modischer Indifferenz und offenbarer Verantwortungslosigkeit gegenüber wachsender Ausländerfeindlichkeit, rechtsextremer Gewalt und Antisemitismus auseinandersetzen. Über Ausschreitungen rechtsextremer Gewalttäter bis hin zu Mordtaten ist die Empörung - wenn auch nicht immer die Hilfsbereitschaft und der Mut, die Polizei zu rufen - noch allgemein. Kaum jemand billigt Gewalt, egal aus welchem Motiv sie geübt wird. Anders verhält es sich schon bei offensichtlich rechtsextremen und ausländerfeindlichen Reden und Provokationen, die unterhalb der Gewaltschwelle bleiben. Das aber bedeutet, dass Ausländerfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht oder: dass die Gewalt bloß die Spitze des Eisberges ist. Dagegen müssen wir uns - um der Zivilisation willen wie auch im Interesse der Opfer, der Diskriminierten - wappnen und sensibilisieren. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hilft dabei ebenso wie die Information über den Reichtum, den wir anderen Kulturen erdanken.
Seit 1975 engagiert sich Philomena Franz für Versöhnung und gegen Rassismus. Sie hat es geschafft, ihre Alpträume umzuwandeln. Nicht Hass, Rache und Verbitterung sind ihre Antworten auf die entsetzliche Vergangenheit, sondern Verzeihung, Toleranz und Liebe. Vor dem Hintergrund ihrer Biografie ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Besonderheit, die Respekt und Bewunderung hervorruft. Und die preiswürdig ist.
Der Europarat hat mit der 1998 in Kraft getretenen Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten das erste rechtsverbindliche Vertragswerk auf diesem Gebiet geschaffen, ebenso wie mit der Charta der Regional- und Minderheitssprachen. Mit der Ratifizierung hat Deutschland auch die in unserem Land seit Jahrhunderten beheimateten Sinti und Roma als nationale Minderheit anerkannt.
Das sind wichtige politische Vertragswerke. Allerdings geben sie noch keine Garantie für das friedliche Zusammenleben.
Offenheit für andere Mentalitäten und Lebensweisen, Bereitschaft zu kulturellem Austausch, Einübung von friedlichen Lösungen kulturell bedingter Probleme und Konflikte und die Bereitschaft, aus Unterschieden entstehende Spannung auszuhalten, sind nötig, können aber nicht politisch verordnet werden.
Die Europäische Integration und die Globalisierung schüren die Diskussion um Minderheiten, um den Umgang mit Fremden und Fremdem. Das scheint paradox, denn wir sind auf das selbstverständliche Zusammenleben geradezu angewiesen. Aber es ist noch ein weiter Weg, von einer tradierten Abgrenzung, ja vom Gegeneinander zum Miteinander, zur Aufnahme fremder Einflüsse, in die eigene Kultur und Tradition zu gelangen. Dabei ist Deutschland darin durchaus geübt. In den glücklicheren Zeiten unserer Entwicklung haben wir Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen aufgegriffen und unserer eigenen Kultur anverwandt und einverleibt. Deswegen finde ich die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir unsere Kultur gelassener und selbstbewusster gestalten, ohne uns ständig von Anderem und Anderen abzugrenzen.
Aber wann ist eine Gesellschaft bereit, möglichst viel Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit zu leben und auszuhalten?
Was sind die Bindekräfte einer Gesellschaft, die - schon um der eigenen ökonomisch-sozialen Vitalität willen - der Zuwanderung bedarf, die also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen?
In einigen Punkten gibt es einen Konsens: Wir erwarten die Beherrschung der deutschen Sprache, den Respekt vor Recht und Gesetz und die Anerkennung unserer Verfassung und der in ihr kodifizierten Grundwerte unserer Gesellschaft, der Menschenrechte und Bürgerpflichten in einem demokratischen Staat. Es wäre fatal, diesen normativen Konsens nun zu ethnisieren. Es wäre der Rückschritt in den Grundfehler des deutschen Sonderweges, den die europäischen Juden, die Sinti und Roma, den unsere Nachbarn und den wir Deutsche selber im 20. Jahrhundert blutig bezahlt haben.
Es ist gut, dass zur inhaltlichen Füllung des Wortes "Leitkultur" niemandem etwas anderes einfällt, als das, was auch z.B. deutschen Verfassungspatriotismus ausmacht. Nichts davon ist eigentlich deutsch. Alles ist westlich, nur dass Deutschland viel länger gebraucht hat, sich diese westlichen Grundüberzeugungen anzueignen.
Zur Zeit laufen wir Gefahr, eine Kultur- und Identitätsdebatte zu führen, die mit Ängsten, Ausgrenzung und Abwehr spekuliert, statt auf die Geschichte und Tradition der kulturellen Integration aufzubaut.
Diese Ausgrenzungsmechanismen tauchen auch in den Diskussionen um die europäische Integration auf. Da wird spekuliert, was uns die Ost-Erweiterung bringt - rein wirtschaftlich. Es werden Ängste geschürt mit der Vorstellung von offenen Grenzen. Und manch einer stellt sich die Frage, ob die Europäische Union in ihrer bisherigen Dimension nicht so bleiben sollte.
Subventionen und wirtschaftliche EU-Programme machen weder aus einem Ostdeutschen, noch aus einem Norweger, Polen oder Letten einen Europäer. Wer nichts aus seinen Traditionen einbringt oder einbringen darf, fühlt sich nicht dazugehörig. Und wer diese Traditionen nicht zuläßt, der hat nichts von einer europäischen Werte- und Kulturgemeinschaft verstanden.
Kulturelle Integration braucht Interesse, Verständnis, Wissen und Offenheit um fremde Kulturen. Das ist um so schwieriger, wenn seit Jahrhunderten tradierte Vorurteile bestehen.
Die diesjährige Preisträgerin, Philomena Franz, geht einen sehr persönlichen Weg gegen diese Vorurteile, für Toleranz, Versöhnung und Verständigung. Sie erzählt von ihren Erfahrungen, nicht um anzuklagen, sondern um wachzurütteln. Sie liest aus dem Märchenschatz der Sinti, damit ihre Zuhörer Fremdes kennen- und verstehen lernen. Nirgendwo wird das Leid und der Lebensmut, die Kultur ihres Volkes so greifbar und begreifbar wie in diesen Geschichten. Und in Märchen werden schicksalhafte Festlegungen umkehrbar; das Gute siegt meistens, aber nicht von selbst, sondern nur dann, wenn darum gekämpft wird.
Erinnern um der Zukunft willen, Verstehen um der Gefahren willen, Aufklären um des Verständnisses anderer Kulturen willen, Kämpfen um des friedlichen Miteinanders willen - all das macht das Engagement der diesjährigen Preisträgerin aus.
Wir haben großen Respekt vor dieser Überzeugung und danken Ihnen, sehr verehrte Frau Franz für Ihre Arbeit."
"Nach einem Fernsehinterview im Jahre 1985 mit der diesjährigen Preisträgerin Philomena Franz erreichte die Redaktion folgende empörte und gleichzeitig empörende Zuschrift:
"...Zum Sonntagmittag, zur besten Sendezeit, einer Zeit, da der arbeitende deutsche Mensch sich auch geistig-seelisch erholen möchte, bietet das lizensierte ZDF uns eine "gepflegte Zigeunerin", geschminkt, das KZ (wie so viele, die heute zu Worte kommen) quicklebendig überlebt habend, Märchen erzählend!...Wer befreit uns bloß von diesem Lügengespinst!..."
Heute - 16 Jahre später - steigt die Anzahl der Gewalttaten dramatisch an, die aus Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass begangen werden. Es gibt sie also immer noch, die Menschen, die nichts, aber auch wirklich nichts aus der Geschichte gelernt haben und nicht einmal zu lernen bereit sind. Und solange es sie gibt, ist die Gefahr eines Rückfalls nicht gebannt.
Welch' ein Unterschied, wenn eine Überlebende, ein Opfer der deutschen Nationalsozialisten ihr Wirken so beschreibt: "Ich möchte nicht anklagen, ich möchte erinnern".
Wer ihr autobiographisches Buch "Zwischen Liebe und Hass - Ein Zigeunerleben" liest, taucht ein in das Leben der Sinti Philomena Franz - in die Höhen und Abgründe, von der Unbeschwertheit des musikalisch talentierten Kindes bis hin zum dramatischen Überlebenskampf zwischen Auschwitz, Birkenau und Ravensbrück. Die Bilder des vierspännigen Zigeunerwagens, der fröhlichen Feste, der Naturverbundenheit der Sinti auf der einen Seite, die einen Einblick in ihre Lebensfreude vermitteln, und die Beschreibung der Deportation, des unvorstellbaren Leidensweges einer Sinti-Familie unter einem menschenverachtenden Regime, in dessen Augen nur die sog. Herrenrasse zählte, auf der anderen Seite. Gegensätzlicher, dramatischer, ja unbegreiflicher kann ein Leben kaum verlaufen.
Sinti und Roma galten nach dem absurden Weltbild der Nationalsozialisten als rassisch minderwertige "asoziale" und "kriminelle" Zigeuner. Mit dem Vorsatz, diese europäische Minderheit vollständig zu vernichten, wurden sie systematisch und familienweise erfasst und deportiert. Hunderttausende von ihnen sind zwangssterilisiert oder in Konzentrationslagern ermordet worden - in Auschwitz-Birkenau ebenso wie in Treblinka, Majdanek, Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Bergen-Belsen, Dachau, Mauthausen und an weiteren Orten.
Die leidvolle Geschichte der Sinti und Roma begann allerdings schon weitaus früher. Vorurteile gegen "Zigeuner" waren leider schon immer ein bedrückendes Phänomen in der europäischen Geschichte und bestehen auch heute noch.
Als der Freiburger Reichstag im 15. Jahrhundert die bis dahin in die mittelalterliche Gesellschaft integrierte Minderheit als angebliche Spione der Türken für vogelfrei erklärte, entstand jenes Bild, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst zum eisernen Klischee der "wilden Zigeunerrasse" erstarrt war. Selbst bedeutende Dichter und Denker machten nicht halt davor, dieses Klischee in ihren Werken zu verwenden oder gar zu schüren. Durch verschiedene Epochen hinweg begegnen wir in der hohen wie in der trivialen Literatur den Stereotypen der hässlichen, alten Wahrsagerin und Kupplerin, des kräftigen Räuberhauptmanns mit schwarzem Schnurrbart oder der jungen, verführerischen Tänzerin mit verheissungsvoll blickenden Augen.
In den "Zigeunermythen" des späten Mittelalters, bei Luther wie in den Sammlungen der romantischen Literatur werden die "fahrenden Zigeuner" als Bettler, Diebe und Betrüger verurteilt, dämonisiert und kriminalisiert. Diese eben auch durch die Kunst manifestierten Vorurteile gehören zur Vorgeschichte des von den Nationalsozialisten programmierten Völkermordes an den Zigeunern, den Sinti und Roma.
Und auch heute noch - wage ich zu behaupten - wissen wir viel zu wenig über Sinti und Roma und ersetzen Kenntnis durch Vorurteile. Was kennen wir wirklich vom "anderen" Leben dieser Volksgruppe?
Philomena Franz hat sich Austausch und das gegenseitige Verständnis zur Aufgabe gemacht. Sie sind Gegenstand ihrer Bücher und Gedichte. Aber das reicht ihr nicht. Sie geht in die Schulen, Volkshochschulen, Universitäten, Jugendeinrichtungen und Gemeinden, trägt aus ihren Werken vor, berichtet über ihre Erfahrungen, diskutiert mit den Menschen und setzt sich mit deren Erfahrungen, Klischees, Vorurteilen, herablassender Toleranz und ihrem guten Willen zur Verständigung - den gibt es sicher auch - auseinander.
Sie pflegt damit eine Kultur des Erinnerns, die 50 Jahre nach Kriegsende eine neue Dimension erreicht. Wir stehen vor einem Generationenwechsel: Die Generationen, die selbst noch den Nationalsozialismus erlebt haben oder deren Eltern noch unmittelbar darüber berichten konnten, treten zurück. Für die jungen liegt dieser Abschnitt der deutschen und europäischen Geschichte so weit zurück, dass sie keine persönlichen Bezüge dazu mehr haben. Die Schrecken des Nationalsozialismus sind kein sinnlich erfahrener Hintergrund, kein unmittelbares Motiv, Freiheit, Menschenwürde und Toleranz zu behaupten. Im Gegenteil: Die jungen Menschen von heute halten ihre Freiheiten und Rechte schon für selbstverständlich, was ja im Grunde ein gutes Zeichen ist. Gerade deshalb müssen wir ihnen die Erfahrungen der Vergangenheit vermitteln. Freiheit und Menschenwürde sind prekäre Güter, sehr schutzbedürftig; sie erhalten sich nicht von selbst, sondern müssen "gelebt", genutzt, immer wieder neu gestiftet werden.
Die Menschenwürde und die Menschenrechte sind heute in Deutschland noch nicht gefährdet. Könnte man das nicht mehr gelassen feststellen, wäre es allerdings zu spät. Deshalb müssen wir uns mit moralischer Beliebigkeit, mit modischer Indifferenz und offenbarer Verantwortungslosigkeit gegenüber wachsender Ausländerfeindlichkeit, rechtsextremer Gewalt und Antisemitismus auseinandersetzen. Über Ausschreitungen rechtsextremer Gewalttäter bis hin zu Mordtaten ist die Empörung - wenn auch nicht immer die Hilfsbereitschaft und der Mut, die Polizei zu rufen - noch allgemein. Kaum jemand billigt Gewalt, egal aus welchem Motiv sie geübt wird. Anders verhält es sich schon bei offensichtlich rechtsextremen und ausländerfeindlichen Reden und Provokationen, die unterhalb der Gewaltschwelle bleiben. Das aber bedeutet, dass Ausländerfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht oder: dass die Gewalt bloß die Spitze des Eisberges ist. Dagegen müssen wir uns - um der Zivilisation willen wie auch im Interesse der Opfer, der Diskriminierten - wappnen und sensibilisieren. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hilft dabei ebenso wie die Information über den Reichtum, den wir anderen Kulturen erdanken.
Seit 1975 engagiert sich Philomena Franz für Versöhnung und gegen Rassismus. Sie hat es geschafft, ihre Alpträume umzuwandeln. Nicht Hass, Rache und Verbitterung sind ihre Antworten auf die entsetzliche Vergangenheit, sondern Verzeihung, Toleranz und Liebe. Vor dem Hintergrund ihrer Biografie ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Besonderheit, die Respekt und Bewunderung hervorruft. Und die preiswürdig ist.
Der Europarat hat mit der 1998 in Kraft getretenen Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten das erste rechtsverbindliche Vertragswerk auf diesem Gebiet geschaffen, ebenso wie mit der Charta der Regional- und Minderheitssprachen. Mit der Ratifizierung hat Deutschland auch die in unserem Land seit Jahrhunderten beheimateten Sinti und Roma als nationale Minderheit anerkannt.
Das sind wichtige politische Vertragswerke. Allerdings geben sie noch keine Garantie für das friedliche Zusammenleben.
Offenheit für andere Mentalitäten und Lebensweisen, Bereitschaft zu kulturellem Austausch, Einübung von friedlichen Lösungen kulturell bedingter Probleme und Konflikte und die Bereitschaft, aus Unterschieden entstehende Spannung auszuhalten, sind nötig, können aber nicht politisch verordnet werden.
Die Europäische Integration und die Globalisierung schüren die Diskussion um Minderheiten, um den Umgang mit Fremden und Fremdem. Das scheint paradox, denn wir sind auf das selbstverständliche Zusammenleben geradezu angewiesen. Aber es ist noch ein weiter Weg, von einer tradierten Abgrenzung, ja vom Gegeneinander zum Miteinander, zur Aufnahme fremder Einflüsse, in die eigene Kultur und Tradition zu gelangen. Dabei ist Deutschland darin durchaus geübt. In den glücklicheren Zeiten unserer Entwicklung haben wir Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen aufgegriffen und unserer eigenen Kultur anverwandt und einverleibt. Deswegen finde ich die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir unsere Kultur gelassener und selbstbewusster gestalten, ohne uns ständig von Anderem und Anderen abzugrenzen.
Aber wann ist eine Gesellschaft bereit, möglichst viel Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit zu leben und auszuhalten?
Was sind die Bindekräfte einer Gesellschaft, die - schon um der eigenen ökonomisch-sozialen Vitalität willen - der Zuwanderung bedarf, die also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen?
In einigen Punkten gibt es einen Konsens: Wir erwarten die Beherrschung der deutschen Sprache, den Respekt vor Recht und Gesetz und die Anerkennung unserer Verfassung und der in ihr kodifizierten Grundwerte unserer Gesellschaft, der Menschenrechte und Bürgerpflichten in einem demokratischen Staat. Es wäre fatal, diesen normativen Konsens nun zu ethnisieren. Es wäre der Rückschritt in den Grundfehler des deutschen Sonderweges, den die europäischen Juden, die Sinti und Roma, den unsere Nachbarn und den wir Deutsche selber im 20. Jahrhundert blutig bezahlt haben.
Es ist gut, dass zur inhaltlichen Füllung des Wortes "Leitkultur" niemandem etwas anderes einfällt, als das, was auch z.B. deutschen Verfassungspatriotismus ausmacht. Nichts davon ist eigentlich deutsch. Alles ist westlich, nur dass Deutschland viel länger gebraucht hat, sich diese westlichen Grundüberzeugungen anzueignen.
Zur Zeit laufen wir Gefahr, eine Kultur- und Identitätsdebatte zu führen, die mit Ängsten, Ausgrenzung und Abwehr spekuliert, statt auf die Geschichte und Tradition der kulturellen Integration aufzubaut.
Diese Ausgrenzungsmechanismen tauchen auch in den Diskussionen um die europäische Integration auf. Da wird spekuliert, was uns die Ost-Erweiterung bringt - rein wirtschaftlich. Es werden Ängste geschürt mit der Vorstellung von offenen Grenzen. Und manch einer stellt sich die Frage, ob die Europäische Union in ihrer bisherigen Dimension nicht so bleiben sollte.
Subventionen und wirtschaftliche EU-Programme machen weder aus einem Ostdeutschen, noch aus einem Norweger, Polen oder Letten einen Europäer. Wer nichts aus seinen Traditionen einbringt oder einbringen darf, fühlt sich nicht dazugehörig. Und wer diese Traditionen nicht zuläßt, der hat nichts von einer europäischen Werte- und Kulturgemeinschaft verstanden.
Kulturelle Integration braucht Interesse, Verständnis, Wissen und Offenheit um fremde Kulturen. Das ist um so schwieriger, wenn seit Jahrhunderten tradierte Vorurteile bestehen.
Die diesjährige Preisträgerin, Philomena Franz, geht einen sehr persönlichen Weg gegen diese Vorurteile, für Toleranz, Versöhnung und Verständigung. Sie erzählt von ihren Erfahrungen, nicht um anzuklagen, sondern um wachzurütteln. Sie liest aus dem Märchenschatz der Sinti, damit ihre Zuhörer Fremdes kennen- und verstehen lernen. Nirgendwo wird das Leid und der Lebensmut, die Kultur ihres Volkes so greifbar und begreifbar wie in diesen Geschichten. Und in Märchen werden schicksalhafte Festlegungen umkehrbar; das Gute siegt meistens, aber nicht von selbst, sondern nur dann, wenn darum gekämpft wird.
Erinnern um der Zukunft willen, Verstehen um der Gefahren willen, Aufklären um des Verständnisses anderer Kulturen willen, Kämpfen um des friedlichen Miteinanders willen - all das macht das Engagement der diesjährigen Preisträgerin aus.
Wir haben großen Respekt vor dieser Überzeugung und danken Ihnen, sehr verehrte Frau Franz für Ihre Arbeit."
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_010307a