Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse anlässlich der Festveranstaltung zur Übergabe des ehemaligen "I. G. Farben-Hauses"an die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität am 26. Oktober 2001 in Frankfurt
Dieses
Gebäude ist ein Symbol für die Ambivalenzen und
Vieldeutigkeiten in der deutschen Geschichte (...). Alle Debatten,
die auf Schlussstriche unter die deutsche Geschichte dieses
Jahrhunderts zielen, werden an diesem Ort ad absurdum geführt.
Dieser Ort ist Geschichte. Er lässt keinen Austritt aus ihr,
er lässt keinen Schlussstrich
zu.“
Diese
Gedanken wurden formuliert, als im September 1999 der Deutsche
Bundestag ins Berliner Reichstagsgebäude einzog. Auch im
ehemaligen „I.G. Farben–Haus“ sind alle Phasen
der jüngeren deutschen Geschichte spürbar, im Guten wie
im Schlechten. Zwar sind Gebäude stets unschuldiger als die
Menschen, die in ihnen leben und arbeiten. Dennoch weist die
Historie dieses Hauses zutiefst Bedrückendes auf. Die
ehemalige „Interessengemeinschaft Farben“, ihre
Konzernleitung, verschiedene ihrer Mitarbeiter, auch in den
Tochterfirmen, waren von rücksichtslosem Gewinnstreben
bestimmte, bewusste Förderer und Nutznießer des
verbrecherischen NS-Systems.
Die
„I.G. Farben“ hat Zehntausende Zwangsarbeiter grausam
ausgebeutet. Dass in diesem Jahr endlich – nach weit
über 50 Jahren – die
Zwangsarbeiterentschädigung beschlossen werden konnte, dass
die wenigen, die noch unter uns sind, jetzt finanzielle
Unterstützung erhalten, das kann kein Trost sein. Denn die
Ermordeten, die durch die Menschenversuche zu Tode gekommenen, die
in den Vernichtungslagern mit Zyklon B bestialisch umgebrachten
Menschen kann niemand mehr entschädigen. Aber die
Verantwortung von Industriekonzernen wie der „I.G.
Farben“ reicht noch weiter. Schließlich hatte die
deutsche Industrie wesentlichen Anteil daran, dass Hitler
überhaupt an die Macht gelangen konnte. Diktatoren und denen,
die ihnen aus eigennützigen Interessen zur Macht verhelfen,
muss man entgegentreten, bevor sie die Staatsgewalt in Händen
halten – das ist eine bittere Lektion, die uns die Geschichte
dieses Hauses dauerhaft mit auf den Weg gibt.
1945 und
in den schweren Nachkriegsjahren erwies sich die Nutzung dieses
Gebäudes durch die amerikanischen Befreier, die schnell zu
Freunden wurden, in mehrfacher Hinsicht als bedeutsam. Dieses Haus
spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Bundesrepublik
Deutschland und während der Jahrzehnte des Kalten Krieges. Es
bleibt, so hoffe ich, ein Ort der deutsch–amerikanischen
Freundschaft und Solidarität, die gerade in diesen Wochen und
Monaten durch die Bedrohung unserer freiheitlichen Art zu leben,
noch einmal wichtiger geworden ist. Die künftige Verwendung
des Gebäudekomplexes als Stätte freier, unabhängiger
Forschung und Bildung halte ich für richtungweisend. Sie
enthält aber auch eine Überraschung: In den
repräsentativen, architektonisch so interessanten Poelzig-Bau
ziehen nicht etwa die sog. zukunfts- und gewinnträchtigen
Fächer wie die Biotechnik oder die Ökonomie ein, sondern
die oft belächelten, gar als
„Orchideenfächer“ bezeichneten Geistes- und
Kulturwissenschaften, die völlig zu Unrecht derzeit
unterschätzt werden.
Vom Geld
zum Geist also? Die Formel klingt verführerisch, aber sie
greift zu kurz. Die Assoziationen, die dieses Gebäude als
Symbol für Verbrechen des Nationalsozialismus und als
zukünftiger Hort der Kulturwissenschaften anregt, führen
durchaus zu ganz alten Fragen: nämlich solchen über das
Verhältnis von Ökonomie und Kultur in unserer
Gesellschaft, in unserem Kulturkreis, und zu neuen Aspekten dieser
Fragen: der Globalisierung dieses Verhältnisses von Kultur und
Ökonomie.
Die
Geisteswissenschaften haben seit ihrer Neuorientierung als
Kulturwissenschaften den sog. Elfenbeinturm, wenn es ihn denn
überhaupt noch gab, verlassen – sonst könnten sie
sich nicht als Kulturwissenschaften verstehen – und widmen
sich „der Gesamtheit aller menschlichen Arbeits- und
Lebensformen“, wie es heißt. Diese Ausweitung spiegelt
eine wachsende Wertschätzung des Kulturellen in unserer
Gesellschaft wider. Kultur ist längst, linguistisch
ausgedrückt: zu einem Fahnenwort geworden, mit dem sich viele
gesellschaftliche Gruppen und natürlich ebenso die Politik
gerne schmücken. Aber Kultur ist mehr „als die
Petersilie auf den Kartoffeln“, wie es der Grafiker Klaus
Staeck einmal formuliert hat. Um im Bilde zu bleiben, sie ist so
wichtig, wie die Kartoffeln selbst.
Seit der
„Shareholder-Value-Debatte“ der neunziger Jahre ist das
Interesse selbst von Unternehmern an einer gesellschaftlichen
Debatte um die Grundwerte zivilisierten Zusammenlebens deutlich
gewachsen. Oft genug bleibt man jedoch bei der
„Garnitur“ hängen; der Schutz der Umwelt, die
Unterstützung von Künstlern, Konzerten, Ausstellungen,
dienen dann in erster Linie dem Unternehmensimage – einem
gewiss gewichtigen Argument des Marketing. Würde es dabei
bleiben, wäre das bloß wieder die Ökonomisierung
der Kultur und nicht der ernsthafte Versuch, Ökonomie und
Kultur in ein neues Verhältnis zueinander zu
bringen.
Wir
standen und stehen vor der Gefahr, aus dem erfolgreichen Instrument
„Marktwirtschaft“ eine Ideologie zu machen. Und zwar
eine, die den Menschen auf seine Funktionen, nämlich
Arbeitskraft und Konsument zu sein, reduziert. Das wird –
hoffentlich – nicht gelingen. Insoweit ist Kultur ein
Gegengewicht zu reinem Wirtschaftlichkeitsdenken.
Kulturwissenschaft nimmt den ganzen Menschen in den Blick, seine
Gefühle, seine soziale Eingebundenheit, sein Bedürfnis
nach Orientierung, nach Räumen und Zeiten der Entspannung, der
Entschleunigung, nach Ungleichzeitigkeit, nach geschichtlicher
Vergewisserung, nach lustvoller Phantasie. Kluge Spitzenmanager
haben das übrigens auch erkannt. Auch Unternehmen bestehen
nämlich aus Menschen, ihren sozialen Bedürfnissen,
Werten, Beziehungen und nicht nur aus Produzenten, die gegen eine
materielle Entlohnung Mehrwert schaffen – und sonst
nichts.
Das
neoliberalistische Wirtschaftsevangelium, dem die Ökonomie
endgültig zur Weisheit letztem Schluss geworden ist, ist
– für mich jedenfalls – das Gegenteil von
kulturbezogenem Handeln. Kritische Kulturwissenschaften, die mehr
leisten wollen als wertfreie Analysen, die – mit Jürgen
Habermas gesprochen – nicht nur die Perspektive von
Beobachtenden, sondern von Beteiligten einnehmen, sie haben die
Aufgabe, solch interessengeleitete Vereinnahmungen des
Kulturbegriffs bewusst zu machen und damit zu verhindern. Man kann
sich über die Inflation der Kulturbegriffe übrigens auch
lustig machen: Freizeitkultur, Alltagskultur, Unternehmenskultur,
Erinnerungskultur, politische Kultur usw. Man kann darin aber auch
etwas Positives erkennen: die Suche nämlich nach
größeren Zusammenhängen, gar nach auch ethischer
Orientierung. Sie ist, so vermute ich, eine Reaktion auf die reine
Ökonomisierung der Menschen und auf die Beschleunigung der
Veränderung unserer Lebensbedingungen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die soziale Marktwirtschaft der weitgehend geglückte Versuch, wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verpflichtung in einen Ausgleich zu bringen. Sie ist in einem längeren Prozess zu einem stabilen gesellschaftlichen Konsens geworden, der in der Gegenwart allerdings prekär geworden zu sein scheint. Die Globalisierung bietet die Möglichkeit, dass sich Unternehmen diesem gesellschaftlichen Konsens entziehen – durch Arbeitsplatzverschiebung in Niedriglohnländer, durch Abfluss der Gewinne in Steueroasen, durch Umgehung von Umweltauflagen, durch das Ausnutzen politischer Ohnmacht in armen Ländern des Südens. Nationalstaatlich wurde durch Anerkennung des Primats der Politik, durch Mitbestimmung, durch die Betriebsverfassung eine Sozialverpflichtung des Kapitals verbindlich, die global im gegenwärtigen Moment noch nicht durchsetzbar erscheint. Unternehmen nutzen derartige Ausweichmöglichkeiten.
Über
dieses Problem ist in den vergangenen Jahren bereits viel
diskutiert worden – in aller Regel jedoch unter einer stark
auf den eigenen Kulturkreis bezogenen Perspektive. Viel zu lange
hat der Westen die Augen davor verschlossen, welche Folgen die
ökonomische Globalisierung interkulturell hat, ja haben muss
– gerade für die Menschen in den Ländern der
südlichen Hemisphäre. Deren Gefühle gegenüber
den multinationalen Konzernen hat die indische Schriftstellerin
Arundhati Roy in ihrem in der FAZ veröffentlichten Essay
„Wut ist der Schlüssel“ in eindrucksvolle,
bedrängende Bilder gefasst. Sie spricht von den "marodierenden
Multis", die sich (ich zitiere): "gnadenlos wie ein
Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder
gefressen haben, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die
Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere
Gedanken".
Natürlich dürfen ihre Worte die
Terrorangriffe des 11. September nicht rechtfertigen. Das betont
die Autorin glaubhaft – sonst wäre sie auch nicht
zitierfähig. Aber, auch wenn es unbequem ist, müssen wir
uns als Teil des reichen und erfolgreichen Nordens nicht einer
Kritik stellen, die auf die Gründe und die Folgen kultureller
Überlappung zielt, die wir bisher eher gedankenlos hingenommen
haben? Wir müssen auch den Blick von außen auf uns
wahrnehmen und begreifen wie auch unseren Blick nach außen
kritisch reflektieren. Diese notwendigen Kommunikations-,
Verständigungs-, Übersetzungsprozesse zu organisieren,
ist eine der wichtigen Aufgaben geworden, die die
Kulturwissenschaften heute haben.
Die
dramatischen Veränderungen unserer Welt stellen die
Kulturwissenschaft eben vor neue Herausforderungen. Wie z. B. ist
die Einhaltung und Entwicklung kultureller Werte und Traditionen zu
gewährleisten, wenn sie mit den Massenmordattentaten des 11.
Septembers von New York und Washington gewaltsam in Frage gestellt
und die Menschen einer permanenten Verunsicherung ausgesetzt
werden? Was für eine – in Anführungszeichen –
„Kultur“ macht aus gebildeten jungen Männern
Selbstmordattentäter und welche Einwirkung ist – neben
militärischer und polizeilicher Gewalt – nötig, um
eventuelle Wiederholung solcher Verbrechen unwahrscheinlicher zu
machen? Man sollte solches Fragen nicht hämisch abtun, das sei
die Sozialarbeiterperspektive. Es ist vielmehr die Stärke
einer offenen Gesellschaft, über das Verstehen–Wollen
des Anderen, Fremden, Gegensätzlichen Antworten auf dessen
Herausforderungen zu finden. Das ist, glaube ich, unsere
europäische Stärke. Toleranz ist übrigens eine
schwierige, herbe Tugend und so ziemlich genau das Gegenteil von
bequemem laisser-faire, von Werterelativismus, von
Überzeugungslaxheit. Ich glaube, es ist wichtig, sich mit den
Ursachen jener Wut, Verzweiflung und Aggressivität zu
befassen, auf die der islamistische Terrorismus seine Aggression
gegen den Westen gründet. Die permanente Beschädigung von
kulturellem Selbstwertgefühl, die Verletzung dessen, was als
heilig gilt, sie sind offensichtlich nicht ohne Folgen. Wenn
Menschen glauben, die eigene Kultur werde verdrängt, die
Religion missachtet, ihre Bindungen würden aufgelöst, sie
würden entwurzelt, dann folgen ihre Reaktionen bekannten
Mechanismen – nicht nur in islamischen Ländern, sondern
überall in der Welt, auch bei uns.
Dort wie
hier besteht die Gefahr, dass Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse radikale Antworten suchen und
finden. In Deutschland und anderen europäischen Ländern
haben solche Reaktionen zu einer zunächst und zu lange
bagatellisierten Fremdenfeindlichkeit und zu brutalen
rechtsextremistischen Gewalttaten geführt. Ich will das nicht
vergleichen, aber wir müssen ja auch über unsere
Hausaufgaben reden. Diesem Problem ist übrigens mit
Ersatzhandlungen wie der Beschwörung nationaler Symbole
keinesfalls beizukommen. Die Fixierung auf das vermeintlich Eigene
verstärkt eher, glaube ich, die Tendenz zur Ausgrenzung des
Anderen mit all den damit verbundenen Gefahren. Andere Staaten und
Gesellschaften, die ich gelegentlich darum beneide, haben zwar
selbstverständliche Symbole und lebendige Rituale ihrer
Zusammengehörigkeit. Aber trotzdem haben auch sie Probleme mit
– auch politisch motivierter – Gewalt und mit
Extremismus. Deshalb bleibt die Förderung der Bereitschaft,
mit Menschen aus anderen Kulturen friedlich und tolerant
zusammenzuleben, eine entscheidende gesellschaftspolitische Aufgabe
– überall in der Welt.
Die
keineswegs neue Frage, wie der Westen auf die Gefühle von
wirtschaftlicher und kultureller Unterdrückung politisch
sensibel reagieren kann, steht auf der Agenda – wir
können sie nicht mehr beiseite schieben. Ich hoffe sehr, dass
damit zumindest das Ende jeder kulturellen Überheblichkeit
eingeläutet ist. Zivilisation ist kein Begriff, der nur auf
die westliche Zivilisation eingeschränkt werden kann.
Selbstverständlich gibt es auch einen zivilisierten Islam und
z.B. ebenso einen zivilisierten Buddhismus und Hinduismus –
Zivilisationen, die z.T. erheblich älter und übrigens
kulturhistorisch gesehen erfolgreicher als die unsere
sind.
Wenn
Samuel Huntingtons jüngste Äußerungen zum
„Kampf der Kulturen“ richtig verstanden wurden, dann
will er die Welt vor diesem Kampf bewahren. Wir wollen das auch
– um unserer selbst willen. Er sagt völlig richtig, die
Terroristen wollen diesen Kampf erzwingen, aber die Zivilisationen
müssen ihn vermeiden. Damit wird interkulturelle
Verständigung zu einer der wichtigsten Zukunftsaufgaben
– selbstverständlich langfristig wichtiger auch als jede
notwendige Militäraktion. Gerade gegenüber dem Islam
bestehen in unserer Gesellschaft ja durchaus irreführende
Vorurteile und ein erheblicher Aufklärungsbedarf. Dabei ist
jede Selbstgefälligkeit fehl am Platz. Schließlich haben
alle oder vorsichtiger formuliert: die meisten Weltreligionen
aggressive Epochen durchlebt.
Auch und
gerade das Christentum ist durch solche inquisitorische Phasen
gegangen, in denen es an verblendeten Fanatikern wahrlich nicht
gefehlt hat. Die Kreuzzüge des Mittelalters gegen den Islam,
die Ketzerverfolgungen, die neuzeitlichen Hexenverbrennungen liegen
in Europa ja noch nicht sehr lange zurück. Erst nach dem
Nationalsozialismus und dem Stalinismus mit ihren atheistischen
Erlösungsversprechen, die so unendlich viele Opfer gekostet
haben, setzt sich allmählich überall eine hoffentlich
endgültige Abkehr vom Dogmatismus, eine Einsicht darin durch,
dass auch der Andere Recht haben könnte. Das ist für die
Friedfertigkeit innerhalb des eigenen Kulturkreises von Vorteil.
Dies allerdings ist ein wertvolles Kulturgut, das wir selbstbewusst
und sensibel verteidigen sollten: klare Unterscheidung zwischen
Politik und Religion, die Trennung von Kirche und Staat, das
Prinzip der Religionsfreiheit und der weltanschaulichen Toleranz
– das ist unaufgebbar im Dialog mit den anderen
Religionen.
Der
religiös verbrämte islamistische Terrorismus ist
ideologischer und politischer Missbrauch von Religion. Die
Reaktionen auf die Terroraktionen haben die tiefe Kluft innerhalb
der islamischen Welt, den Gegensatz zwischen den vielen
gemäßigten islamischen Ländern und dem
islamistischen Fanatismus der Taliban ebenso deutlich gemacht wie
das breite Spektrum, das sich zwischen diesen beiden Polen
befindet. Der Islam ist im Kern tolerant und friedliebend. Dies zu
verdeutlichen, ist eine intellektuelle Aufgabe, vor allem ist es
aber eine Aufgabe der Moslems, ihrer geistigen und geistlichen
Führer und der gemäßigten islamischen Staaten
selber. Wir können ihnen die Aufgabe nicht abnehmen, die
Friedfertigkeit ihrer Religion glaubhaft zu machen. Sie tragen die
Hauptverantwortung dafür, ob verbrecherische Terroristen und
religiöse Fanatiker aller Welt als integrierte Mitglieder der
islamischen Glaubensgemeinschaft erscheinen können oder nicht.
Das bedeutet für den Westen allerdings keine Entlastung. Der
Dialog der Kulturen und Religionen muss gerade von unserer Seite
intensiviert werden. Dabei sollten und können die
Kulturwissenschaften eine gewichtige Rolle spielen. Sie können
aufklären über kulturelle Ungleichzeitigkeit und
strukturelle Vergleichbarkeit, über Perspektiven
interkultureller Verständigung, über gelingendes
Zusammenleben innerhalb unserer Gesellschaft wie auf unserem
Planeten.
Die
Terroranschläge von New York und Washington haben eine zuvor
ungeahnte Form weltweiter politischer Zusammenarbeit
hervorgebracht. Dieses neue Denken, wenn es denn stabil ist, weckt
die Hoffnung auf dauerhafte Formen internationaler Kooperation. So
gesehen, eröffnet der Horror des 11. Septembers – gegen
die Intentionen der Terroristen – eine einzigartige
weltpolitische Chance. Das früher belächelte Wort von der
"Weltinnenpolitik" könnte plötzlich wirklich konkret
werden.
Erfüllen kann sich diese Hoffnung nur, wenn
der ökonomischen Globalisierung die kulturellen,
religiösen, zivilisatorischen Bedingungen beigebracht werden,
durch die die in sich vielfältige „eine Welt“ mehr
sein kann als nur ein globaler Markt. Erste Priorität
einer „Weltinnenpolitik“ muss deshalb die
Bekämpfung von Ausbeutung und Zerstörung der
natürlichen Lebensgrundlagen, von Hunger, Seuchen und Not auf
unserem Globus sein. Dazu können die europäischen Staaten
einen wesentlichen Beitrag leisten. Der Sozialstaat, unser
Sozialstaat, ist nach meiner Überzeugung die größte
europäische Kulturleistung. Diesen Sozialstaat, wie er in
Europa in einer mühevollen, über einhundertjährigen
Geschichte entstanden ist, finden wir in anderen Teilen der Welt so
nicht, er ist auch nicht jeder Tradition angemessen. Angemessen
aber wird eine – ich nenne es probeweise so –
„Weltsozialpolitik“, die unter Wahrung kultureller
Eigenheiten ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und von
Bildungschancen in menschenwürdigen Lebensbedingungen schafft.
So könnte die Globalisierung ein zivilisatorisches, ein
menschliches Gesicht bekommen.
Es ist die
Chance der Kulturwissenschaften, über den Umgang mit
kultureller Andersartigkeit, mit unterschiedlichen Traditionen
aufzuklären und Möglichkeiten der Koexistenz anzuregen.
Politik und Wirtschaft benötigen dringend pragmatische
Vorstellungen einer sensiblen Gestaltung interkultureller
Beziehungen. Gerade wirtschaftliches Handeln schafft und
befördert von jeher Kontakte zwischen Kulturen, bewirkt aber
auch Übervorteilungen und Spaltung in Erfolgreiche und
Erfolglose und begründet dabei Konflikte, in deren Dienst
kulturelle und religiöse Gefühle und Überzeugungen
geraten. Deshalb entscheidet wirtschaftliches Handeln in seiner
Ambivalenz wesentlich darüber, wie sich das Verhältnis
der Kulturen gestaltet: aggressiv und konfrontativ, wie so oft in
der Vergangenheit, oder, wie zu hoffen ist, endlich kooperativer,
friedlicher, menschen- und kulturenverträglicher – aber
auch dafür gibt es ja Beispiele in der Geschichte. Das
wäre ein Ansatz für die Entwicklung globaler Wirtschafts-
und Unternehmenskultur, die sich für kulturelle und
religiöse Eigenarten; für gleichberechtigte
Zusammenarbeit, für den Respekt vor unterschiedlichen Arbeits-
und Lebensformen bei gemeinsamer Orientierung an den universalen
Menschenrechten, für Frieden und Freiheit global
verantwortlich zeigt.
Wenn von diesem Haus künftig Aufklärung über gelingende Formen interkulturellen Zusammenlebens ausginge, wäre das die beste Antwort nicht nur auf den Rassenwahn der NS-Diktatur und ihrer Helfershelfer, sondern auch auf die Herausforderung fundamentalistischen, kulturellen Hegemoniestrebens. Dabei wünsche ich der Universität, die den Namen Goethes trägt, viel Erfolg.
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