Bundestagspräsident Thierse sieht in Mauerteilen aus Berlin bei der UNO Zeichen der Mahnung
Es gilt das gesprochene Wort
Berlin, 04. April 2002
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse übergibt heute im Garten der Vereinten Nationen in New York UNO-Generalsekretär Kofi Annan drei Segmente der ehemaligen Mauer in Berlin. Das Projekt geht auf eine Initiative des Bundestagspräsidenten zurück, mit der die Mauerabschnitte als historisches Zeugnis der Weltorganisation geschenkt werden. Die 3,60 Meter hohen Mauerabschnitte standen in Berlin unweit des Brandenburger Tors auf dem Leipziger Platz. Bei der Übergabezeremonie (12.30 Uhr Ortszeit New York) erklärt Bundestagspräsident Thierse:
„Das, was Deutschland einst teilte, spaltete auch die Vereinten Nationen. Die internationalen Spannungen, das Wettrüsten, die ideologische Rivalität des Kalten Krieges fanden auch hier im Sicherheitsrat statt – die Mauer war in vielen Köpfen präsent noch bevor sie gebaut worden war. Als die Berliner Mauer in die Geschichte verabschiedet wurde, haben nicht nur die Deutschen gewonnen. Auch die Vereinten Nationen haben gewonnen an Freiheit, an Kompetenz, an Gestaltungskraft. Sie finden zurück zu ihrem Gründungszweck – der ja auch mit Deutschland zu tun hatte.
Fast drei Jahrzehnte war die Berliner Mauer das weithin sichtbare Monument der Teilung Deutschlands und der Teilung der Welt. Von Anfang an war sie steinerne Metapher einer unmenschlichen Politik. Von Anfang an war sie untrügliches Symbol für einen politischen Zynismus, der vor menschlichem Leid keinen Halt macht.
Die Mauer wurde im August 1961 errichtet. Die kommunistische Führung der DDR stilisierte die innerdeutsche Grenze zum „antifaschistischen Schutzwall“, der einen angeblich drohenden Präventivkrieg der Westmächte vereiteln, den Frieden in Europa retten sollte. Doch die brutalen Sperranlagen hatten in Wirklichkeit eine andere Funktion: Sie sollten die Massenflucht ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger in den Westen stoppen. Zwischen Oktober 1949 und August 1961 hatten ca. 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen. Das war eine vernichtende Abstimmung mit den Füßen gegen die Kommunisten.
Als die Mauer gebaut wurde, war ich 17 Jahre alt. Als sie fiel, war ich 46. Die Mauer hat sich in meine Biographie eingeschrieben, hat mein Leben, hat das Leben meiner Familie, meiner Freunde einschneidend und schmerzlich geprägt. Deshalb ist es mir ein persönliches Anliegen, dass die Erinnerung an diese Zeit wach gehalten wird. Wir sind es vor allem jenen Menschen schuldig, die ihren Protest gegen die Mauer, ihren Widerstand gegen das Eingesperrtsein in der DDR mit dem Leben bezahlten.
An der gesamten innerdeutschen Grenze starben fast 1.000 Menschen. Allein an der Berliner Mauer kamen über 230 von ihnen ums Leben: Sie wurden von DDR-Grenzsoldaten erschossen, sie ertranken, sie starben an Fahrzeugsperren, sie stürzten aus selbst gebauten Fluggeräten oder von Dächern in den Tod. Bis heute kennt niemand die genaue Zahl der Opfer dieser Grenze.
Dass die Mauer im Herbst 1989 in einer friedlichen Revolution zum Einsturz gebracht wurde, zählt zu den glücklichen Stunden der deutschen und europäischen Geschichte. Auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 war ein Ereignis, das nicht nur unser Land, sondern Europa und die Welt verändert hat. Dank der Entspannungspolitik, dank vernünftiger internationaler Kompromisse, dank der friedlichen Revolution konnte die Zweiteilung der Welt beendet werden. Nicht nur Deutschland, sondern die gesamte Staatengemeinschaft hat von diesem beispiellosen historischen Gemeinschaftswerk profitiert.
Doch nicht alle verheißungsvollen Erwartungen haben sich erfüllt. Unsere gemeinsame Hoffnung, dass das Ende des Ost-West-Konfliktes ein Goldenes Zeitalter des Friedens eröffnen würde, erwies sich als trügerisch, die erhoffte Friedensdividende als höchst fragil. Hier bei den Vereinten Nationen wissen Sie um die Probleme: Ich erinnere nur an die Balkankonflikte und an Nahost. Die durch die Ereignisse des 11. September unübersehbar gewordene Herausforderung des Terrorismus ist nicht gelöst, auch wenn der Wandel in Afghanistan zu Hoffnung Anlass gibt.
Herr Generalsekretär, es ist mir eine große Freude und Ehre, Ihnen heute als Geschenk der Deutschen im Namen des Deutschen Bundestages drei Originalteile der Berliner Mauer zu übergeben. Neben anderen Wahrzeichen und Plastiken sollen sie Mahnung sein, dass Frieden nur durch die Überwindung von Grenzen dauerhaft gemacht werden kann. Dies ist eine der fundamentalen Erfahrungen aus dem schrecklichen, grausamen 20. Jahrhundert. Genau dies symbolisiert ja das Bild auf dem Beton, die Umarmung zweier Menschen über die Mauer hinweg.
Die drei Betonplatten stammen aus dem Areal am Potsdamer Platz in der Mitte Berlins. Sie sind steinernes Zeugnis für die Menschenverachtung der kommunistischen Diktatur. Sie sind zugleich aber auch Zeugnis für die Macht des Volkswillens, für Zivilcourage, für die Kraft der menschlichen Vernunft.
Die Mauerteile dokumentieren eine bedeutsame politische Zäsur der Nachkriegsgeschichte: Erst mit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland in die volle völkerrechtliche Gleichberechtigung entlassen worden. Erst mit Wiederherstellung der staatlichen Einheit konnte der völkerrechtliche Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Alle Grenzen Deutschlands sind heute wechselseitig anerkannt, das gab es nie zuvor in der deutschen Geschichte! Wir haben endlich – hoffentlich endgültig – gelernt, mit dem Umstand umzugehen, das europäische Land mit den meisten unmittelbaren Nachbarn zu sein. Deutschland ist jetzt umzingelt von Freunden – das ist ein glückliches Novum in unserer Geschichte.
Das Berliner Beispiel zeigt: Mauern errichten, ein Volk einsperren oder ausgrenzen – das kann kein dauerhaft erfolgreiches Konzept sein. Mauern kann man durchlässig machen, Mauern kann man einreißen, Mauern kann man überwinden. Man braucht dazu Geduld, Beharrlichkeit, einen festen Willen, Verbündete und Freunde. Das ist die Botschaft, die künftig von diesem politischen Denkmal ausgeht. Und es ist vielleicht auch ein ermutigendes Zeichen für Ihre Arbeit, Herr Generalsekretär, und für die Arbeit der Vereinten Nationen insgesamt.“
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