Hintergrund
Schriftführer im Bundestag
Die heimlichen Fernsehstars
"Ich habe Sie neulich wieder im Fernsehen gesehen!" In der Stimme der Drogerie-Verkäuferin schwingt Respekt. "Sie haben da oben im Bundestag gesessen, da, wo der Thierse sitzt". "Ja, ich bin Schriftführerin ...". "Ach ja? Aber bei den Schriftführern habe ich Sie noch nie gesehen. Nee, Sie haben da oben gesessen ..."
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Die Schriftführer: Winfried Mante, Marita Sehn, Jelena Hoffmann, Bernd Reuter, Marlies Pretzlaff, Christel Deichmann, Reinhold Strobl, Wolfgang Dehnel, Hans-Josef Fell, Ute Kumpf, Werner Lensing, Rosel Neuhäuser, Helga Kühn-Mengel, Heinz Schemken, Ilse Aigner, Angelika Volquartz, Erika Reinhardt,Gerhard Rübenkönig, Marlene Rupprecht.
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Peter Dreßen, Bärbel Sothmann, Bodo Seidenthal, Margrit Spielmann, Jann-Peter Janssen, Anita Schäfer, Joachim Tappe, Brigitte Adler, Gabriele Lösekrug-Möller, Gustav-Adolf Schur, Lydia Westrich, Ingrid Holzhüter, Hans-Joachim Fuchtel, Hubert Deittert, Ina Lenke, Wolfgang Grotthaus, Ulrich Kasparick.
Die Bürger im Wahlkreis sind sehr beeindruckt, wenn ihr Abgeordneter im Fernsehen zu sehen ist – auch wenn er keine Rede hält, sondern nur "da oben" sitzt. Aber "Schriftführer"? Sitzen die nicht unten? Im Halbkreis, mit dem Rücken zum Rednerpult?
Es ist gar nicht so selten, dass die Schriftführer mit den Parlamentsstenografen verwechselt werden. Wer einer Debatte am Fernseher oder auch auf der Besuchertribüne des Bundestages folgt, nimmt die rechts und links vom amtierenden Präsidenten sitzenden Schriftführer als würdevolle Gestalten wahr, die meist ernst und unbeweglich den Reden lauschen. Hin und wieder sieht man sie im kurzen Wortwechsel mit einem Parlamentarischen Geschäftsführer, gelegentlich kann man registrieren, dass sie ein paar Worte mit dem Präsidenten tauschen oder dass sie etwas notieren und Zettel weiterreichen. Aber dass sie ständig zu schreiben hätten, wie der Begriff "Schriftführer" nahe legt – das sieht man nicht. Und so ist es nicht verwunderlich, dass ihnen im Wahlkreis oft die Frage gestellt wird: "Was machen Sie eigentlich da oben?"
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Schriftführer bei der Auszählung nach namentlicher Abstimmung.
Im Bundestag amtieren rund 40 Parlamentarier als Schriftführer. Sie werden auf Vorschlag ihrer Fraktionen zu Beginn der Legislaturperiode gewählt – bisher stets gemeinsam und in offener Abstimmung. Ihre Zusammensetzung entspricht der Stärke der Fraktionen, die stärkste Fraktion stellt also die meisten Schriftführer und Schriftführerinnen. In der Geschäftsordnung des Bundestages heißt es in § 8(1): "In den Sitzungen des Bundestages bilden der amtierende Präsident und zwei Schriftführer den Sitzungsvorstand." Und in § 9: "Die Schriftführer unterstützen den Präsidenten ..."
Im Kreis der Schriftführer und Schriftführerinnen herrschen streng demokratische Regeln. Der Obmann – einer oder eine muss ja darüber wachen, dass die eisernen Regeln auch eingehalten werden – kommt aus der stärksten Regierungsfraktion, sein Stellvertreter gehört der größten Oppositionsfraktion an. Derzeit fungiert Bernd Reuter (SPD) als Obmann, seine Stellvertreterin ist die CDU-Abgeordnete Marlies Pretzlaff.
Reuter, seit 22 Jahren im Parlament und seit Mitte der Achtzigerjahre Schriftführer, schildert die Aufgaben so: In erster Linie haben die Schriftführer in der Tat die Wortmeldungen entgegenzunehmen. Soweit sie nicht vor der Plenarsitzung feststehen, werden die Redebeiträge vom Parlamentarischen Geschäftsführer der jeweiligen Fraktion bei dem an der linken Seite des Präsidenten sitzenden Schriftführer abgegeben. Dieser hat auf die richtige Reihenfolge der Reden zu achten, er hat auch – besonders wichtig! – auf seiner rückwärts laufenden Uhr die Einhaltung der vereinbarten Redezeit zu kontrollieren, muss die "Echtzeit" eines Redebeitrags auf die Minute genau registrieren und muss mithelfen, dass der Präsident dem Redner oder der Rednerin vor Ablauf der Redezeit die entsprechenden Lichtsignale gibt.
"Das ist der beliebtere Platz", sagt Bernd Reuter. "Dort ist man ständig beschäftigt, muss sich konzentrieren, hat viel Verantwortung. Da vergeht die Zeit wie im Flug. Auf der anderen, der – vom Präsidium aus gesehen – rechten Seite, hat man sehr viel weniger zu tun und da wird man leichter müde. Es sind ja nicht alle Debatten so furchtbar spannend." Der rechte Schriftführer muss zwar "seine" Seite des Saals im Blick behalten, muss Wortmeldungen zu Zwischenfragen registrieren ... In der Regel aber ist das, wie es Gustav-Adolf Schur, Schriftführer von der PDS, ausdrückt, "eher eine belämmerte Position: Man hat nichts zu tun, als zu warten, dass der Präsident etwas braucht ..."
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Mit hochgehaltener Stimmkarte weist Schriftführerin Erika Reinhardt auf die Abstimmung hin.
Wie die amtierenden Präsidenten werden auch die Schriftführer alle zwei Stunden abgelöst. Ausgewechselt wird ebenfalls streng demokratisch: Hatte auf der linken, der "wichtigeren" Seite zunächst ein Schriftführer der Regierungsfraktionen gesessen, so folgt ihm einer aus der Opposition. Aber nicht nur das "Wo", sondern auch das "Wann" ist genau geregelt, schließlich gibt es beliebte und weniger beliebte Sitzungszeiten. Die "Kernzeit" am Donnerstag Vormittag, die den Debatten von grundsätzlicher Bedeutung vorbehalten bleibt, ist bei den Schriftführern besonders begehrt – da berichtet nämlich in der Regel das Fernsehen direkt oder in Zusammenfassungen. Und welcher Schriftführer nutzt nicht gern die Gelegenheit, sich über die Mattscheibe den Wählern daheim zu präsentieren? Wochen oder gar Monate zuvor wird nach strengem Proporzschlüssel festgelegt, wer in der "Kernzeit" amtieren darf und wer sich für die manchmal bis nach Mitternacht dauernden Spätsitzungen bereitzuhalten hat.
Allerdings hat der Umzug nach Berlin die "Kernzeit" ein bisschen abgewertet. "Früher, in Bonn, da hat das Fernsehen Redner und Präsidium öfter gezeigt. Da waren die Schriftführer öfter mit im Bild, besonders der rechte wegen der Kameraeinstellung. Hier in Berlin wird meist nur der Redner gezeigt, vielfältiger für den Zuschauer wären gelegentliche Einstellungen mit dem Präsidium. Also der Bundestagspräsident und zwei Schriftführer/innen", schlägt Marlies Pretzlaff vor.
Bei "normalen" Sitzungen, die keine Fernsehereignisse sind, wird schon mal die Dienstzeit getauscht. Jeder Schriftführer hat Verständnis dafür, dass ein Kollege oder eine Kollegin neben dem Präsidenten sitzen will, wenn er oder sie eine Gruppe aus dem Wahlkreis zu Besuch hat.
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Auch ihre Kolleginnen Ingrid Holzhüter (links) und Marita Sehn signalisieren das Abstimmungsverhalten.
Marita Sehn, Schriftführerin der FDP-Fraktion, hat die Erfahrung gemacht, "dass die Menschen die gehobene Position neben dem Bundestagspräsidenten mit einer besonderen Verantwortung verbinden!" Manchmal ist es in der Tat so. Marita Sehn hatte am 11. September Dienst als Schriftführerin, als die ersten Meldungen über die Anschläge auf das World Trade Center über die Nachrichtenagenturen verbreitet wurden. Es war Aufgabe von Marita Sehn, Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs über die ungeheuerlichen Ereignisse in New York zu informieren. Daraufhin beschloss der Sitzungsvorstand nach Beratungen mit den Parlamentarischen Geschäftsführern, die laufende Debatte zu unterbrechen. "Das war zwar ein Sonderfall. Aber das ist es, was ich meine, wenn ich von der besonderen Verantwortung spreche", betont Marita Sehn.
Sie machen ihren Job alle gern, obwohl er neben der alltäglichen Fraktionsarbeit zusätzlichen Aufwand an Zeit und Mühe bedeutet. Es haben ja nicht nur die Schriftführer Dienst, die zum Sitzungsvorstand gehören, es muss sich eine größere Anzahl für den Fall bereithalten, dass namentlich abgestimmt oder per "Hammelsprung" entschieden wird. Dann müssen, wie es so makaber heißt, die "Urnen besetzt" und anschließend die Stimmkärtchen ausgezählt werden, oder es sind die hammelspringenden Abgeordneten zu zählen. In seltenen Fällen – bei der Wahl des Bundestagspräsidenten, des Bundeskanzlers oder bei einem Misstrauensantrag – müssen die Schriftführer die Wahl mit verdeckten Stimmzetteln überwachen: Namen aufrufen, Stimmzettel und Umschläge ausgeben, darauf achten, dass die Wahlkabinen benutzt werden, auszählen ...
Was ist denn nun das Reizvolle an diesem Amt? "Täve" Schur freut sich darüber, "mit netten Leuten zusammen zu arbeiten, auf die Verlass ist." Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünen ist fasziniert von dem "Blick hinter die Kulissen" und dem direkten Kontakt mit den Kollegen. Marita Sehn hat sich in die Pflicht nehmen lassen, um neben ihren Spezialgebieten die ganze Breite der Parlamentsarbeit kennen zu lernen. Bernd Reuter ist Schriftführer, "weil ich mit Leib und Seele Parlamentarier bin. Und weil ich neugierig bin!"
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Schriftführerin Rosel Neuhäuser (links) und ihr Kollege Hans-Josef Fell mit Vizepräsidentin Antje Vollmer.
Alle könnten sie stundenlang erzählen: Wie überraschend es beispielsweise ist, dass einem sonst so großspurigen Fraktionskollegen bei seiner Rede die Hände zittern und Schweißperlen in den Nacken laufen. Wer mit wem auf der Regierungsbank lästert. Welcher Bundestagspräsident (Stücklen) schon mal einen Minister (Stoltenberg) nicht zu Wort kommen lassen hat, um sich am Bundeskanzler (Kohl) zu rächen. Welche Parlamentarier sich besonders penibel an die vorgegebenen Redezeiten halten (die von der PDS) und welche ungeniert überziehen (die Grünen). Dass man nicht vor sich hin träumen, aber auch nicht nervös herumzappeln darf, weil sonst sogleich Anrufe von Zuschauern kommen. Dass man auf korrekte Kleidung achten muss, pünktlich zum Sitzungsdienst erscheint ...
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Schriftführer Winfried Mantke (links) und Jürgen Türk zusammen mit Vizepräsident Hermann-Otto Solms.
Und die Schattenseiten des Schriftführer-Daseins? Während der Plenums-Zeit müssen sich die Schriftführer immer bereithalten, auch nachts vielleicht um 24.00 Uhr, und können womöglich andere Termine gar nicht erst annehmen. Marlies Pretzlaff leidet unter dem Albtraum, im Stau zu stecken und zu spät zum Sitzungsdienst zu kommen – was ihr aber noch nie widerfahren ist. "Täve" Schur weiß aus leidvoller Erfahrung, dass man vor dem Dienst nicht viel trinken darf, weil dann womöglich ein schneller Abgang notwendig wird, vorher aber noch ein Vertreter gefunden werden muss ...
Die größte Qual ist es aber, so empfindet es Hans-Josef Fell, "da oben" von der Außenwelt abgeschnitten zu sein: "Zwei Stunden ohne die Möglichkeit zum Telefonieren – für einen vielbeschäftigten Parlamentarier ist das schwer zu ertragen!"
Text: Ada Brandes/Fotos: studio kohlmeier