Pressemitteilung
Datum: 02.04.2003
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
02.04.2003
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, anlässlich der Verleihung des "Friedenspreises der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft" an die Friedensschule in Neve Shalom / Wahat al Salam (Israel) 02.04.2003, in Berlin
"Ein Friedenspreis ist zu verleihen und zugleich herrscht
Krieg. Den Stiftern des Preises geht es um den Frieden im Nahen
Osten, um den Frieden zwischen Israel und Palästina; und in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Israel und Palästina fallen
Bomben. Die israelische Regierung befürwortet diesen Krieg,
offensichtlich in der Hoffnung, die regionale Bedrohung, die von
Saddam Hussein ausgeht, das Potential an Destabilisierung, das
dieser Diktator darstellt, werden nach einer militärischen
Niederlage verschwinden.
Deutschland und eine große Mehrheit der Menschen in ganz Europa lehnen diesen Krieg ab, weil sie weitaus größere, globale Destabilisierungen als Folgen dieses Krieges befürchten, weil sie das Völkerrecht an entscheidender Stelle verletzt sehen und damit auch ihre Hoffnungen auf eine Ordnung des Rechts für die ganze Welt. Ein Krieg der Kulturen wird befürchtet, der keine Grenzen mehr kennen wird und sich den herkömmlichen Vorstellungen von Kriegen zwischen Staaten entzieht. Während die Einen also fürchten, selbst erfahren zu müssen, worunter Israel während der Intifada leidet, hoffen die Anderen, dieses terroristische Morden mit einer letzten großen Gewaltanstrengung endlich los werden zu können.
Wenn man weiß, dass der irakische Diktator trotz der Sanktionen gegen sein Land, trotz der Versorgungsprobleme und der wachsenden Armut der irakischen Bevölkerung erhebliche finanzielle Mittel aufwendet, um die grausamen und heimtückischen Selbstmordattentate gegen die israelische Zivilbevölkerung zu belohnen und zu solchen Attentaten aufzustacheln, wird sich hüten, die israelischen Hoffnungen auf die Entmachtung dieses Mannes zu verurteilen.
Wenn Gewalt zum Alltag gehört, der Tod von an den Ursachen eines Konfliktes völlig unbeteiligten Menschen jederzeit an jeder Straßenecke lauert, bleiben Frieden und Freiheit von Gewalt zweifellos moralische Ziele, aber da sie konkrete politische Handlungsanweisungen für den Tag, für den nächsten Schritt hin zu größerer Sicherheit in der Gefahr nicht bereit halten, fühlt man sich gezwungen, sie allenfalls noch langfristig für erreichbar zu halten.
Die Spirale von Gewalt, Gegengewalt und wieder neuer Gewalt, die Europa fürchtet, ist in Israel und Palästina scheinbar endlose, nicht enden wollende grausame Realität. Jede Hoffnung auf Linderung dieses Zustands ist zutiefst menschlich, jeder Strohhalm, der Rettung auch nur ahnen lässt, wird dann ergriffen. Und die Entmachtung Saddams könnte ein solcher Strohhalm sein. Moralurteile von der Art, dass Gegner dieses Krieges die "Guten" und seine Befürworter die "Bösen" wären, verbieten sich also offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen: Bei denjenigen, die diesen Krieg ablehnen, antisemitische Motive zu vermuten, ist genau so abwegig, wie es abwegig ist, die israelischen Hoffnungen auf weniger Gewalt als Folge dieses Krieges moralisch zu verurteilen.
Für Frieden und Verständigung einzutreten, ist im Allgemeinen eine offenbar schwierige und nicht so selbstverständliche Haltung. Dem Zorn, der Wut, dem Bedürfnis nach Rache und Genugtuung nachzugeben und Macht durchsetzen zu wollen, erscheinen oft nahe zu liegen. Zu den Mühen, das umzukehren, zählen auch die Stiftung und die Verleihung von Friedenspreisen. Sie ziehen die Konsequenz aus der Beobachtung, dass Gewaltverzicht eine nicht selbstverständliche Leistung ist, in dem sie Menschen belohnen, die sich gewaltfreien Konfliktlösungen widmen und auf einen Weg des Friedens setzen, der tatsächlich oft langwieriger ist, größere Beharrlichkeit verlangt und uns zumutet, der Gewaltfreiheit zu liebe Spannungen und Unentschiedenheit auszuhalten, was - wer will das bestreiten - nicht einfach ist. Wenn Frieden stiften und bewahren, wenn Verständigung befördern ohnehin schon besondere Mühe kostet, wie aufwändig und bewundernswert ist das dann erst, wenn es in einer Umwelt unternommen wird, die von der Spirale der Gewalt geprägt ist?
Die Friedensschule Neve Shalom/Wahat al Salam unternimmt konkrete Verständigungsarbeit in gewaltgeprägter Umgebung. Das Gemeinschaftsdorf NeveShalom/Wahat al Salam erbringt seit 25 Jahren den konkreten Beweis, dass friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern auf der Grundlage von Toleranz und gegenseitiger Achtung möglich ist. Seit 1979 trägt die Schule diese Botschaft, diese Erfahrung über die Dorfgrenzen hinaus, fördert die persönliche Begegnung zwischen Juden und Arabern, lehrt den zivilen Umgang mit Konflikten, historischen Lasten und kulturellen Unterschieden. Die Arbeit der Friedensschule zeigt: die Vision einer humanen, egalitären, pluralen und gerechten Gesellschaft ist keine Illusion sondern sie ist realistisch, sie ist Menschen möglich.
Wer also hätte den Friedenspreis der deutsch-israelischen Gesellschaft verdient, wenn nicht dieses herausragende, Hoffnung begründende Projekt!
Über 25.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben bislang die Seminare, Kurse und Begegnungen der Schule besucht, wurden zu Wortführern der Verständigung ausgebildet. In anderen Konfliktregionen wird der Rat der Schule gesucht; Ihre Dozenten haben schon in Nordirland und auf Zypern gewirkt.
Mit der Friedensschule macht Frieden Schule.
Frieden macht Arbeit, kostet Mühe, bedarf konkreten Engagements und auch kluger Politik. Europa hat eine kriegerische Geschichte, Jahrhunderte waren von Krieg und Gewalt geprägt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulminierte diese Geschichte der Kriege in die beiden Weltkriege, beide von Deutschland ausgegangen, beide schrecklicher, zerstörerischer, blutiger, opferreicher als alle Kriege zuvor. Europa hat keinen Grund, sich mit dieser Geschichte moralisch über andere zu erheben, die heute Kriege führen. Der letzte dieser Kriege endete vor noch nicht ganz 60 Jahren. Seither erst ist es gelungen, in Europa eine Ordnung zu etablieren, die Frieden stiften und bewahren kann. Seit nicht einmal 60 Jahren ziehen wir Europäer Konsequenzen aus unserer leidvollen Erfahrung mit dem Krieg als Mittel der Politik. Wo Krieg als Mittel der Politik akzeptiert ist, wird Krieg stattfinden. Erst wenn Politik gemacht wird, um Krieg zu vermeiden, können wir Frieden erreichen. In diesem Sinne haben diejenigen Recht, die mit dem Papst sagen, dass Krieg immer eine Niederlage der Politik, eine Niederlage für die Menschheit ist. Aus dieser praktisch-pragmatischen Lebenserfahrung heraus denken die meisten Europäer, dass man Frieden und gute Nachbarschaft nicht - oder jedenfalls nicht ausschließlich - auf Bajonette gründen kann. Eine höhere moralische Einsicht, die bessere Menschen macht, ist das nicht. Ich warne jedenfalls vor solchem Pharisäerglauben.
Aus Israel und Palästina habe ich den bedrückenden Eindruck mitgenommen, dass Ohnmacht und Ratlosigkeit Wurzeln von Gewalt sind. Die noch immer andauernde zweite Intifada verursacht Gefühle der Ohnmacht und Sehnsucht nach rascher Sicherheit in Israel. Die israelische Siedlungspolitik und viele andere, als schikanös empfundene und tatsächlich ja auch opferreiche Maßnahmen gegenüber den Palästinensern verursachen dieselben Gefühle auf deren Seite. Im Ergebnis ist auf beiden Seiten die Unfähigkeit zum Frieden gewachsen.
Tragisch ist daran auch, dass ich weder in Israel noch in Palästina Menschen angetroffen habe, die diesen Zustand wollen. Im Gegenteil, alle hoffen auf Frieden, alle können sagen, was benötigt wird, um Frieden zu erreichen und zu sichern. Die Gemeinsamkeiten dieser Ansichten ist so groß, dass der Frieden immer zum Greifen nahe erscheint. Aber die Ängste und die Verletzungen, das gegenseitige Unverständnis und Misstrauen sind so groß, dass bisher jede Chance oft im letzten Moment verpasst wurde. Die israelische Regierung hat bekräftigt, dass es einen unabhängigen Staat Palästina geben wird. Es ist unübersehbar, dass die Nachbarschaft zwischen Israel und Palästina nicht nur gut, sondern auf vielen Gebieten besser und enger wird sein müssen, als es sonst üblich ist. Die Palästinenser haben sich einen Ministerpräsidenten ausgesucht, der selbstkritisch die Intifada als zerstörerisches Unternehmen bezeichnet. Das sind Ansätze, die dem "Fahrplan" zum Frieden, den die USA, die EU, Russland und die UN bis 2005 erreicht haben möchten, neue Erfolgsaussichten bescheren. Ohne internationale Unterstützung wäre der Erfolg des Fahrplans - zumal in seiner relativ kurzen Frist - sicher fraglich. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass er durch die derzeitigen internationalen Meinungsverschiedenheiten oder durch die Kriegsfolgen im Irak gefährdet wird. Aber ohne dieselben Menschen, die bisher die Verständigungschancen verpasst haben, wird der Konflikt auch nicht beendet werden können. Dazu brauchen sie den Mut und das Wissen, wie sie aus der Spirale von Gewalt und verpassten Chancen heraustreten und Vertrauen bilden, Zusammenarbeit verwirklichen können.
In diesem Zusammenhang sind Projekte wie die Friedensschule unverzichtbar. Neve Shalom/Wahat al Salam zeigt, das Frieden und Verständigung möglich sind. Die Schule kann nicht nur auf die eigene Dorfgemeinschaft sondern auch auf viele Beispiele außerhalb der eigenen Region zurückgreifen.
Auf die friedliche Überwindung des Kalten Krieges und der kommunistischen Diktaturen auf der Grundlage eines Vertragssystems mit dem Kern des Gewaltverzichts etwa, oder auf die Aussöhnung zwischen den europäischen "Erbfeinden" Frankreich und Deutschland. Diese Aussöhnung erschien noch vor 50 Jahren als utopisch. Zu groß waren die Lasten und Demütigungen der Vergangenheit. Genau so zu groß erscheinen heute die Lasten und Demütigungen im Verhältnis zwischen Israel und Palästina. Schon dieser Vergleich begründet Hoffnung. Hoffnung allein genügt aber nicht. Konkrete Anstrengungen sind nötig, damit sie sich erfüllt.
In den Bereich der Entwicklungen, denen man nur dankbar gegenüberstehen kann, gehört auch das rege jüdische Leben, wie es heute in Deutschland wieder exisitiert. Nach der Shoa schien es undenkbar, dass jüdische Kultur, jüdisches Leben, jüdische Mitgestaltung der Gesellschaft in Deutschland jemals wieder möglich sein würden. Niemand hätte sich gewundert, wenn Juden Deutsche und Deutschland fortan gemieden hätten wie die sprichwörtliche Pest. Inzwischen aber gibt es wieder über 80 jüdische Gemeinden in Deutschland und über 100.000 Deutsche jüdischen Glaubens können wir zählen. Wir können auf sie zählen, denn ihr Wirken ist kulturell und wirtschaftlich unschätzbar, ihre Stimme ist in der Öffentlichkeit unüberhörbar. Unübersehbar ist auch der Wille der Deutschen, Normalität in dieses Zusammenleben zu bringen. Diese Normalität haben wir noch nicht erreicht. Solange jüdische Einrichtungen besonderen Schutzes bedürfen, wird man davon nicht sprechen können.
Diese wunderbaren Erfahrungen nach dem Krieg und nach den deutschen Verbrechen an den europäischen Juden machen Mut zum Frieden. Frieden wird gelingen, wenn Gemeinsamkeiten, Interessenausgleich, Respekt und Toleranz in eine Ordnung des Rechts münden, die von den Menschen als gerecht und fair akzeptiert wird. Nur dann wird für Gewalt, Terrorismus, Krieg kein Platz mehr sein. Hinter dem politischen Streit über den Krieg gegen den Irak ist die Gemeinsamkeit dieser Vorstellung erkennbar. Sie handelt von einer Zivilisation, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können. Diese Vision wird nicht sterben, solange es Initiativen wie die Friedensschule gibt. Es ist deren große Leistung, lastende Erinnerungen, konkrete Gegensätze und daraus entstandene Emotionen in ein ziviles, gewaltfreies Projekt der Verständigung münden zu lassen. Die Friedensschule Neve Shalom/Wahal al Salam arbeitet an diesem Projekt, jeden Tag. Das ist vorbildlich, das nötigt uns Respekt und Hochachtung ab, dafür sind wir dankbar. In diesen Tagen des Krieges erst Recht."
Deutschland und eine große Mehrheit der Menschen in ganz Europa lehnen diesen Krieg ab, weil sie weitaus größere, globale Destabilisierungen als Folgen dieses Krieges befürchten, weil sie das Völkerrecht an entscheidender Stelle verletzt sehen und damit auch ihre Hoffnungen auf eine Ordnung des Rechts für die ganze Welt. Ein Krieg der Kulturen wird befürchtet, der keine Grenzen mehr kennen wird und sich den herkömmlichen Vorstellungen von Kriegen zwischen Staaten entzieht. Während die Einen also fürchten, selbst erfahren zu müssen, worunter Israel während der Intifada leidet, hoffen die Anderen, dieses terroristische Morden mit einer letzten großen Gewaltanstrengung endlich los werden zu können.
Wenn man weiß, dass der irakische Diktator trotz der Sanktionen gegen sein Land, trotz der Versorgungsprobleme und der wachsenden Armut der irakischen Bevölkerung erhebliche finanzielle Mittel aufwendet, um die grausamen und heimtückischen Selbstmordattentate gegen die israelische Zivilbevölkerung zu belohnen und zu solchen Attentaten aufzustacheln, wird sich hüten, die israelischen Hoffnungen auf die Entmachtung dieses Mannes zu verurteilen.
Wenn Gewalt zum Alltag gehört, der Tod von an den Ursachen eines Konfliktes völlig unbeteiligten Menschen jederzeit an jeder Straßenecke lauert, bleiben Frieden und Freiheit von Gewalt zweifellos moralische Ziele, aber da sie konkrete politische Handlungsanweisungen für den Tag, für den nächsten Schritt hin zu größerer Sicherheit in der Gefahr nicht bereit halten, fühlt man sich gezwungen, sie allenfalls noch langfristig für erreichbar zu halten.
Die Spirale von Gewalt, Gegengewalt und wieder neuer Gewalt, die Europa fürchtet, ist in Israel und Palästina scheinbar endlose, nicht enden wollende grausame Realität. Jede Hoffnung auf Linderung dieses Zustands ist zutiefst menschlich, jeder Strohhalm, der Rettung auch nur ahnen lässt, wird dann ergriffen. Und die Entmachtung Saddams könnte ein solcher Strohhalm sein. Moralurteile von der Art, dass Gegner dieses Krieges die "Guten" und seine Befürworter die "Bösen" wären, verbieten sich also offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen: Bei denjenigen, die diesen Krieg ablehnen, antisemitische Motive zu vermuten, ist genau so abwegig, wie es abwegig ist, die israelischen Hoffnungen auf weniger Gewalt als Folge dieses Krieges moralisch zu verurteilen.
Für Frieden und Verständigung einzutreten, ist im Allgemeinen eine offenbar schwierige und nicht so selbstverständliche Haltung. Dem Zorn, der Wut, dem Bedürfnis nach Rache und Genugtuung nachzugeben und Macht durchsetzen zu wollen, erscheinen oft nahe zu liegen. Zu den Mühen, das umzukehren, zählen auch die Stiftung und die Verleihung von Friedenspreisen. Sie ziehen die Konsequenz aus der Beobachtung, dass Gewaltverzicht eine nicht selbstverständliche Leistung ist, in dem sie Menschen belohnen, die sich gewaltfreien Konfliktlösungen widmen und auf einen Weg des Friedens setzen, der tatsächlich oft langwieriger ist, größere Beharrlichkeit verlangt und uns zumutet, der Gewaltfreiheit zu liebe Spannungen und Unentschiedenheit auszuhalten, was - wer will das bestreiten - nicht einfach ist. Wenn Frieden stiften und bewahren, wenn Verständigung befördern ohnehin schon besondere Mühe kostet, wie aufwändig und bewundernswert ist das dann erst, wenn es in einer Umwelt unternommen wird, die von der Spirale der Gewalt geprägt ist?
Die Friedensschule Neve Shalom/Wahat al Salam unternimmt konkrete Verständigungsarbeit in gewaltgeprägter Umgebung. Das Gemeinschaftsdorf NeveShalom/Wahat al Salam erbringt seit 25 Jahren den konkreten Beweis, dass friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern auf der Grundlage von Toleranz und gegenseitiger Achtung möglich ist. Seit 1979 trägt die Schule diese Botschaft, diese Erfahrung über die Dorfgrenzen hinaus, fördert die persönliche Begegnung zwischen Juden und Arabern, lehrt den zivilen Umgang mit Konflikten, historischen Lasten und kulturellen Unterschieden. Die Arbeit der Friedensschule zeigt: die Vision einer humanen, egalitären, pluralen und gerechten Gesellschaft ist keine Illusion sondern sie ist realistisch, sie ist Menschen möglich.
Wer also hätte den Friedenspreis der deutsch-israelischen Gesellschaft verdient, wenn nicht dieses herausragende, Hoffnung begründende Projekt!
Über 25.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben bislang die Seminare, Kurse und Begegnungen der Schule besucht, wurden zu Wortführern der Verständigung ausgebildet. In anderen Konfliktregionen wird der Rat der Schule gesucht; Ihre Dozenten haben schon in Nordirland und auf Zypern gewirkt.
Mit der Friedensschule macht Frieden Schule.
Frieden macht Arbeit, kostet Mühe, bedarf konkreten Engagements und auch kluger Politik. Europa hat eine kriegerische Geschichte, Jahrhunderte waren von Krieg und Gewalt geprägt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulminierte diese Geschichte der Kriege in die beiden Weltkriege, beide von Deutschland ausgegangen, beide schrecklicher, zerstörerischer, blutiger, opferreicher als alle Kriege zuvor. Europa hat keinen Grund, sich mit dieser Geschichte moralisch über andere zu erheben, die heute Kriege führen. Der letzte dieser Kriege endete vor noch nicht ganz 60 Jahren. Seither erst ist es gelungen, in Europa eine Ordnung zu etablieren, die Frieden stiften und bewahren kann. Seit nicht einmal 60 Jahren ziehen wir Europäer Konsequenzen aus unserer leidvollen Erfahrung mit dem Krieg als Mittel der Politik. Wo Krieg als Mittel der Politik akzeptiert ist, wird Krieg stattfinden. Erst wenn Politik gemacht wird, um Krieg zu vermeiden, können wir Frieden erreichen. In diesem Sinne haben diejenigen Recht, die mit dem Papst sagen, dass Krieg immer eine Niederlage der Politik, eine Niederlage für die Menschheit ist. Aus dieser praktisch-pragmatischen Lebenserfahrung heraus denken die meisten Europäer, dass man Frieden und gute Nachbarschaft nicht - oder jedenfalls nicht ausschließlich - auf Bajonette gründen kann. Eine höhere moralische Einsicht, die bessere Menschen macht, ist das nicht. Ich warne jedenfalls vor solchem Pharisäerglauben.
Aus Israel und Palästina habe ich den bedrückenden Eindruck mitgenommen, dass Ohnmacht und Ratlosigkeit Wurzeln von Gewalt sind. Die noch immer andauernde zweite Intifada verursacht Gefühle der Ohnmacht und Sehnsucht nach rascher Sicherheit in Israel. Die israelische Siedlungspolitik und viele andere, als schikanös empfundene und tatsächlich ja auch opferreiche Maßnahmen gegenüber den Palästinensern verursachen dieselben Gefühle auf deren Seite. Im Ergebnis ist auf beiden Seiten die Unfähigkeit zum Frieden gewachsen.
Tragisch ist daran auch, dass ich weder in Israel noch in Palästina Menschen angetroffen habe, die diesen Zustand wollen. Im Gegenteil, alle hoffen auf Frieden, alle können sagen, was benötigt wird, um Frieden zu erreichen und zu sichern. Die Gemeinsamkeiten dieser Ansichten ist so groß, dass der Frieden immer zum Greifen nahe erscheint. Aber die Ängste und die Verletzungen, das gegenseitige Unverständnis und Misstrauen sind so groß, dass bisher jede Chance oft im letzten Moment verpasst wurde. Die israelische Regierung hat bekräftigt, dass es einen unabhängigen Staat Palästina geben wird. Es ist unübersehbar, dass die Nachbarschaft zwischen Israel und Palästina nicht nur gut, sondern auf vielen Gebieten besser und enger wird sein müssen, als es sonst üblich ist. Die Palästinenser haben sich einen Ministerpräsidenten ausgesucht, der selbstkritisch die Intifada als zerstörerisches Unternehmen bezeichnet. Das sind Ansätze, die dem "Fahrplan" zum Frieden, den die USA, die EU, Russland und die UN bis 2005 erreicht haben möchten, neue Erfolgsaussichten bescheren. Ohne internationale Unterstützung wäre der Erfolg des Fahrplans - zumal in seiner relativ kurzen Frist - sicher fraglich. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass er durch die derzeitigen internationalen Meinungsverschiedenheiten oder durch die Kriegsfolgen im Irak gefährdet wird. Aber ohne dieselben Menschen, die bisher die Verständigungschancen verpasst haben, wird der Konflikt auch nicht beendet werden können. Dazu brauchen sie den Mut und das Wissen, wie sie aus der Spirale von Gewalt und verpassten Chancen heraustreten und Vertrauen bilden, Zusammenarbeit verwirklichen können.
In diesem Zusammenhang sind Projekte wie die Friedensschule unverzichtbar. Neve Shalom/Wahat al Salam zeigt, das Frieden und Verständigung möglich sind. Die Schule kann nicht nur auf die eigene Dorfgemeinschaft sondern auch auf viele Beispiele außerhalb der eigenen Region zurückgreifen.
Auf die friedliche Überwindung des Kalten Krieges und der kommunistischen Diktaturen auf der Grundlage eines Vertragssystems mit dem Kern des Gewaltverzichts etwa, oder auf die Aussöhnung zwischen den europäischen "Erbfeinden" Frankreich und Deutschland. Diese Aussöhnung erschien noch vor 50 Jahren als utopisch. Zu groß waren die Lasten und Demütigungen der Vergangenheit. Genau so zu groß erscheinen heute die Lasten und Demütigungen im Verhältnis zwischen Israel und Palästina. Schon dieser Vergleich begründet Hoffnung. Hoffnung allein genügt aber nicht. Konkrete Anstrengungen sind nötig, damit sie sich erfüllt.
In den Bereich der Entwicklungen, denen man nur dankbar gegenüberstehen kann, gehört auch das rege jüdische Leben, wie es heute in Deutschland wieder exisitiert. Nach der Shoa schien es undenkbar, dass jüdische Kultur, jüdisches Leben, jüdische Mitgestaltung der Gesellschaft in Deutschland jemals wieder möglich sein würden. Niemand hätte sich gewundert, wenn Juden Deutsche und Deutschland fortan gemieden hätten wie die sprichwörtliche Pest. Inzwischen aber gibt es wieder über 80 jüdische Gemeinden in Deutschland und über 100.000 Deutsche jüdischen Glaubens können wir zählen. Wir können auf sie zählen, denn ihr Wirken ist kulturell und wirtschaftlich unschätzbar, ihre Stimme ist in der Öffentlichkeit unüberhörbar. Unübersehbar ist auch der Wille der Deutschen, Normalität in dieses Zusammenleben zu bringen. Diese Normalität haben wir noch nicht erreicht. Solange jüdische Einrichtungen besonderen Schutzes bedürfen, wird man davon nicht sprechen können.
Diese wunderbaren Erfahrungen nach dem Krieg und nach den deutschen Verbrechen an den europäischen Juden machen Mut zum Frieden. Frieden wird gelingen, wenn Gemeinsamkeiten, Interessenausgleich, Respekt und Toleranz in eine Ordnung des Rechts münden, die von den Menschen als gerecht und fair akzeptiert wird. Nur dann wird für Gewalt, Terrorismus, Krieg kein Platz mehr sein. Hinter dem politischen Streit über den Krieg gegen den Irak ist die Gemeinsamkeit dieser Vorstellung erkennbar. Sie handelt von einer Zivilisation, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können. Diese Vision wird nicht sterben, solange es Initiativen wie die Friedensschule gibt. Es ist deren große Leistung, lastende Erinnerungen, konkrete Gegensätze und daraus entstandene Emotionen in ein ziviles, gewaltfreies Projekt der Verständigung münden zu lassen. Die Friedensschule Neve Shalom/Wahal al Salam arbeitet an diesem Projekt, jeden Tag. Das ist vorbildlich, das nötigt uns Respekt und Hochachtung ab, dafür sind wir dankbar. In diesen Tagen des Krieges erst Recht."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2003/pz_0304021