Pressemitteilung
Datum: 13.06.2003
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
13.06.2003
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953
"50 Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni gibt es viel
Kritik daran, wie man in Deutschland Ost und West mit diesem Datum
umgegangen ist. Die Kritik ist sicher berechtigt. Da gab es einen
Arbeiteraufstand, der - man könnte sagen: gut
sozialdemokratisch - soziale Forderungen mit demokratischen
verband, aber diese Lesart fand bis heute kaum einen Niederschlag
in den Analysen und Würdigungen. Im Gegenteil ist mir oft eine
Haltung begegnet, die für die sozialen Forderungen
Verständnis zeigt und für die allgemein demokratischen
Forderungen von der SED die These der Fremdsteuerung
übernimmt. Andere bevorzugen eine nationale Interpretation, so
als sei der ostdeutsche Ruf nach Wiedervereinigung nicht vor allem
ein Ruf nach Freiheit, Demokratie und später auch Wohlstand
gewesen.
Der Umgang mit dem Gedenktag in den Jahrzehnten danach ist ähnlich kritikwürdig: im Westen ein ritualisiertes Gedenken, bei dem mehr und mehr frühe DDR-Flüchtlinge und politische Repräsentanten der Bundesrepublik unter sich blieben - ansonsten war es bloß noch ein in den sozialen Besitzstand übergegangener arbeitsfreier Tag - im Osten funktionierte die angstbesetzte Tabuisierung des Aufstandes und seiner Helden und Opfer, wie von der SED gewünscht und erzwungen.
Ich zweifle, ob es weiterhilft, die Ursachen dieses langen Desinteresses als eine Schuld der einen oder der anderen zu kritisieren. Denn man vergisst dabei etwas ganz Menschliches: Niederlagen lassen sich nicht gut feiern. Das ist meine Wahrnehmung des 17. Juni 1953. Es war eine Niederlage der Arbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat; sie war ein erster Schritt in die Resignation von vielen Ostdeutschen und die Niederlage wurde zu einem Baustein für die Festigung der Macht der SED und Ulbrichts persönlich. Dessen Auswechslung war - was damals natürlich niemand wusste - in Moskau praktisch schon beschlossene Sache, unterblieb aber, weil man dem Volk diesen Gefallen nach dem Aufstand nicht mehr tun wollte. Moskau ging es um die Demonstration der Macht. Das hatte die SED-Politik längst deutlich gemacht, was in die Vorgeschichte des 17. Juni gehört. Die Erhöhung der Arbeitsnormen brachte ja nur die sich längst anstauende Empörung der Menschen zum Ausbruch. Sie war Anlass; Gründe gab es noch viele andere.
Wer diese bittere Ironie der Geschichte, diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht sieht, der kann kaum ermessen, welchen Fortschritt in der politischen Kultur es bedeutet hat, dass den DDR-Bürgern 1989 eine friedliche Revolution gelang, richtiger: gelingen konnte. Trotz der sowjetischen Panzer und Soldaten, die ja immer noch im Lande waren.
Etwas Entscheidendes hatte sich 1989 geändert: die sowjetische Führung unter Gorbatschow wagte den Ausstieg aus der Jahrzehnte währenden unseligen Geschichte kommunistischer Gewaltherr-schaft, in der die Niederschlagung der Emanzipationsbestrebungen in den sozialistischen Bruderstaaten auf immer zu den schwärzesten Kapiteln zählt: Denn was 1953 in der DDR passierte, wiederholte sich ähnlich 1956 in Polen, schlimmer noch im selben Jahr in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
1989 bewies Gorbatschow, dass er und die sowjetische Führung es ernst meinten mit dem Neuen Denken, mit dem Ausbrechen aus den tradierten Feindbildern. Die Moskauer Führer hatten ihre historische Lektion gelernt. Das ist meine erste Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Juniaufstandes für die politische Kultur in Deutschland und in Europa. Der 17. Juni hatte eine Langzeitwirkung - sogar in der Sowjetunion. Er prägte dort, wenn auch sehr verzögert, das Denken von Politikern.
Ich halte fest: Wenn wir nach der Bedeutung des 17. Juni 1953 für die politische Kultur fragen, dann lohnt es sich, über den deutschen Tellerrand hinaus zu blicken. Eines jedenfalls ist unbestritten: Ohne Eingreifen der sowjetischen Panzer hätten wir schon 1953 die Einheit bekommen, denn Ulbrichts Regierung, seine SED waren am 17. Juni praktisch entmachtet. Was allerdings passiert wäre, wenn 1989 die Rote Armee ihren Juni-Einsatz wiederholt hätte, mag ich mir nicht wirklich ausmalen.
Dass die Revolution von 1989 anders als die von 1953 friedlich verlief - ohne Blutvergießen, ohne Panzer, ohne Standgerichte - war ein großes Glück, ein Riesenerfolg. Nur eines war es nicht: selbstverständlich. Revolutionen in Deutschland gingen selten gut aus - das sollten wir auch nach 1989 nicht so schnell vergessen.
Wie lässt sich nun die Bedeutung des Juniaufstands für die politische Kultur heute beschreiben? Hier zögere ich mit einer Antwort. Zwar war in den letzten Wochen vieles über dieses Ereignis in den Zeitungen zu lesen. Es gab zahllose politische Veranstaltungen, tägliche Zeitzeugenberichte im Radio, Wettbewerbe in Schulen, einige Fernsehfilme und Dokumentationen, neue Sachbücher. Doch wie lange hält das Interesse an? Laut einer aktuellen Umfrage des ZDF (Mai 2003) kann nur knapp die Hälfte aller Deutschen mit diesem Datum etwas anfangen, ihm das richtige historische Ereignis zuordnen. Der 17. Juni war im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verdrängt worden, fast schon in Vergessenheit geraten. Das ändert sich jetzt hoffentlich. Am 50. Jahrestag und fast 14 Jahre nach der staatlichen Einheit fallen offenbar politische Scheuklappen, die bisher den Blick verstellt hatten. Plötzlich können wir uns die Geschichten der Zeitzeugen anhören, können einfach nacherzählen, was die Forscher aus den Archiven heben: und siehe da, die Nebel des Kalten Krieges lichten sich. Die tatsächlichen Vorgänge, die tatsächliche Wut der Arbeiter und aller, die sich ihnen angeschlossen hatten, übrigens auch die Unlust vieler sowjetischer Soldaten, an diesem Tag ihre Befehle auszuführen, sprechen für sich selbst. Man braucht keine angeblichen Provokateure aus dem Westen, um den Aufstand zu erklären und auch kein nationales Pathos. Was da wirkte, war politischer, sozialer Unmut, er mündete in das, was freie Gewerkschaften ausmachen: die Leute wollten mehr materielle Gerechtigkeit, wollten mehr politische Freiheit und Selbstbestimmung. Die da unten wollten nicht mehr weiter wie bisher! Leider konnten die da oben noch, weil die Sowjetunion noch Machtmittel hatte und anwenden wollte. Die revolutionäre Situation, dass beides zusammenkommt, der Unwille von unten und das Unvermögen von oben, die entstand erst 36 Jahre später.
Also erzählen wir die Geschichte:
Die Vorgeschichte des 17. Juni lässt sich in Stichworte fassen: Gängelung der Menschen durch den Staat, Enteignung des Mittelstandes, Schließung kleiner Privatbetriebe, Vertreibung der Bauern von ihren Höfen, Verfolgung der Jungen Gemeinden, Diffamierung der Kirchen, ideologische Bevormundung in Betrieben, Schulen und Universitäten, Kampf gegen die überall vermuteten Überreste der Sozialdemokratie.
Die SED regiert ihren Staat und "ihre" Bürger, die kaum Bürgerrechte hatten, im stalinistischen Geist und mit brutaler Härte. Schon wegen kleinster Vergehen, etwa wegen des Diebstahls von Nahrungsmitteln aus purer Not, landen damals viele tausend Menschen im Gefängnis. Für so genannte "Staatsverbrechen", wie etwa eine politische Parodie, gibt es hohe Zuchthausstrafen. Kein Wunder, dass schon in den ersten drei Jahren nach Staatsgründung über eine halbe Million Ostdeutsche in den Westen fliehen.
Als die SED-Führung im Juli 1952 den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus" verkündet, hat sie ihren moralischen Kredit, ihre Glaubwürdigkeit schon gründlich verspielt. Der Aufbau der Kasernierten Volkspolizei, der forcierte Ausbau der Schwer- und Grundstoffindustrie, die von oben angeordnete Schaffung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG's) und später von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH's) - all diese Maßnahmen lösen eine ernste Wirtschafts- und Versorgungskrise aus. Die hohen Reparationslieferungen an die Sowjetunion tragen das Ihrige bei. Die Lebensmittel werden immer knapper und teurer. Konsumgüter für den täglichen Bedarf - Kleidung, Stoffe usw. - gibt es kaum noch. Die alten Produktions- und Lieferstrukturen waren zerschlagen worden, ohne dass die neuen, sozialistischen funktionieren.
Und wie reagieren Ulbricht und sein Politbüro? Sie ordnen von oben erhebliche Leistungssteigerungen an. Im Mai 1953 erhöhen sie die für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um zehn Prozent, was kräftige Lohnsenkungen zur Folge hat. Doch mit dem Druck auf die Arbeiter wächst auch ihr Frust, wächst die Unzufriedenheit im ganzen Land. Die innenpolitische Krise spitzt sich bedrohlich zu. Anfang Juni 1953, drei Monate nach Stalins Tod, bestellt die verärgerte Sowjetführung die Spitzenfunktionäre der SED nach Moskau ein und verlangt radikale Kurskorrekturen. Doch der "Neue Kurs" der SED, das Eingeständnis politischer Fehlentscheidungen, die Rücknahme der Normerhöhung, sie kommen zu spät, sind kein Ventil für die aufgestaute Wut der Arbeiter.
Schon seit Tagen hatte es Versammlungen, meist nur kurze Arbeitsniederlegungen gegeben. Die Initiative zu ersten größeren Streiks am 15. Juni 1953 ergreifen die Arbeiter auf den Großbaustellen im Friedrichshain und in anderen Berliner Betrieben. Am 16. Juni streiken die Stahlarbeiter in Hennigsdorf, und in Berlin demonstrieren erst 700, am Ende dann mehrere Tausend Berliner Arbeiter mit Transparenten durch die Stalinallee in die Innenstadt. Ihnen geht es nicht mehr nur um die Normen auf dem Bau. Bei der spontanen Kundgebung am Haus der Ministerien erklingen erste Forderungen nach freien und geheimen Wahlen und nach dem Rücktritt der Regierung. Für den nächsten Tag, den 17. Juni, rufen die Arbeiter den Generalstreik aus.
Dieser Aufruf verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Am Morgen des 17. Juni kommt es in über 700 Ortschaften zu Protestaktionen der Bevölkerung: 600 Betriebe werden bestreikt, Gemeindeämter belagert, Gebäude der SED, der Polizei, der Staatssicherheit gestürmt, knapp 1.400 Häftlinge werden aus Gefängnissen befreit.
Was als Arbeiterprotest, als Arbeiterbewegung begann, mündete an diesem 17. Juni in einen Volksaufstand. Menschen aus allen sozialen Schichten (Arbeiter, Bauern, Angestellte, auch Angehörige der Intelligenz, auch Polizisten) verlangen mehr als nur eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Ihre Forderungen sind grundsätzlicher Natur: Sturz der Regierung, freie Wahlen, Zulassung der westdeutschen Parteien in der DDR. Den Demonstranten geht es um einen politischen Befreiungsprozess, der letztlich auf die Beseitigung der Zonengrenze und damit auf die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates in Demokratie und Freiheit zielt.
Zentren der Erhebung waren neben Berlin, Leipzig, Halle vor allem die Industriestandorte Leuna, Schkopau, Merseburg, aber auch Wolfen, Weißenfels, Eisleben. In jenen industriellen Ballungsräumen, die schon vor 1933 Zentren der deutschen Arbeiterbewegung waren, erreicht die Streikbewegung zum Teil auch einen hohen Grad an Organisation und Geschlossenheit: Streikleitungen werden gewählt und vernetzt, Belegschaften zwingen die Funktionäre, Resolutionen zu unterschreiben. Dennoch krankt der Aufstand von Beginn an daran, dass er ohne deutliche Führung, ohne starke überregionale Koordination bleibt. Ganz abgesehen davon, dass der zeitliche Spielraum begrenzt bleibt.
Am 16. und 17. Juni 1953 verlor die SED die Kontrolle über das Land. Nur durch das Eingreifen der Roten Armee, die 500.000 Soldaten in der DDR hatte, konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Panzer fuhren auf, das Kriegsrecht wurde verhängt, Einheiten der Kasernierten Volkspolizei rückten an. Der 17. Juni fand ein blutiges Ende: über fünfzig Menschen wurden getötet, mindestens zwanzig standrechtlich erschossen. Nach Angaben der Birthler-Behörde wurden dann in der Folgezeit mindestens 2.300 Teilnehmer am Volksaufstand von sowjetischen und DDR-Gerichten zu meist langen Zuchthausstrafen verurteilt.
Dass heute viele Ostdeutsche nur wenig über diese antistalinistische Erhebung wissen, ist Folge des Umgangs mit diesem Ereignis in der DDR. In den Jahren und Jahrzehnten nach 1953 wurde der Aufstand propagandistisch umgedeutet als "Eingriff des faschistischen und monopolistischen Gegners aus dem Westen". Auch wenn sich einige "irregeleitete Arbeiter" zu Protesten hätten verführen lassen, habe doch die überwiegende Mehrzahl der Werktätigen fest zu Partei und Regierung gestanden. Diese verfälschende, verharmlosende Lesart des Juniaufstandes mutierte zur offiziellen Sprachregelung. Gleichwohl blieb der Volksaufstand im historischen Angstkalender der Regierenden präsent: Als sich im Sommer 1989 die innenpolitische Situation dramatisch zuspitzte, stellte der offenbar noch immer traumatisierte Erich Mielke seinen Offizieren im MfS die Frage "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?" Die Offiziere verneinten dies, sie vertrauten weiter auf die Überlegenheit des repressiven Apparats.
Der 50. Jahrestag des 17. Juni bietet Anlass, dieses historische Ereignis für unsere politische Kultur zurückzugewinnen. Dank der guten Archivlage, die sich in zahlreichen Publikationen widerspiegelt, ist es uns heute möglich, diesen Tag neu zu entdecken und gemeinsam, "gesamtdeutsch" zu begehen - ohne ihn für einseitige Zwecke zu instrumentalisieren.
Kritik an der jahrzehntelangen Vernachlässigung dieses Aufstands in der politischen Kultur unseres Landes will ich allerdings nicht so sehr an den von "Amts wegen" Zuständigen, an den Anderen üben. Fangen wir doch einmal bei uns selbst, bei den Ostdeutschen an.
Wir, die wir in der DDR lebten und mit kritischer Distanz das politische Geschehen im Lande verfolgten, haben uns bei unserer eigenen Traditionssuche viel lieber auf den Aufstand in Ungarn, 1956, auf die Helden in Prag, 1968, und später dann auf Solidarnoc berufen, statt auf den 17. Juni. Der Juniaufstand galt uns relativ wenig, wir haben ihn uns nicht wirklich zu eigen gemacht. Das mag mit der wenig rühmlichen Rolle vieler Schriftsteller und Intellektueller 1953 zu tun haben. Manche, die zu den kritischeren, deshalb glaubwürdigeren zählten, unterschieden selbst zwischen den für berechtigt gehaltenen im engeren Sinne gewerkschaftlichen Forderungen und den für unerwünscht erklärten "konterrevolutionären" Forderungen nach Demokratie und Freiheit, die logischerweise in die Forderung nach deutscher Einheit mündeten. Sie unterstützten damit im Ergebnis die offiziellen Darstellungen über diesen Aufstand. Es mag sein, dass viele in der DDR dem erlegen sind. Es mag aber auch sein, dass es die Niederlage war, an die man nur ungern erinnert werden wollte. Die Jüngeren hatten dann ja noch die genannten weiteren Niederlagen zu verkraften: eine davon war der Mauerbau, der durchaus zu den Folgen des 17. Juni gerechnet werden kann: schmerzlich wurde deutlich, dass nicht nur die eigenen Machthaber, sondern auch der Westen über uns in der DDR entschied; dass der Westen im Kalten Krieg als Verbündeter für das Volk ausfiel. Das war ja schon am 17. Juni so.
Mit dieser Verdrängung und Resignation haben wir vor allem jenen Hunderttausenden Unrecht getan, die 1953 den Mut aufbrachten, ihren Protest gegen die Diktatur öffentlich zu machen, in den Streik zu treten, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Diese Menschen verdienen den gleichen Respekt, die gleiche Anerkennung wie die Aufständischen in Budapest und Prag. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass im Zuge der zahlreichen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag diese Akteure endlich aus dem Schatten der Geschichte treten und öffentliche Würdigung erfahren.
Übrigens: Die Tatsache, dass der Aufstand gescheitert ist, nimmt seiner historischen Bedeutung nichts. Festzuhalten ist, dass die ostdeutschen Demonstranten von 1953 die Ersten waren, die sich in Osteuropa gegen das kommunistische System erhoben haben. Der Blick auf die Emanzipationsbewegungen in den sozialistischen Staaten nach 1945 weist dem Juniaufstand diesen exklusiven Platz zu. Das ändert nichts daran, dass es sich auch um die erste in einer langen Reihe von Enttäuschungserfahrungen gehandelt hat, der die niederschmetternden Enttäuschungen in Polen, Ungarn, Mauerbau 1961, dem heutigen Tschechien und die Ausbürgerung Biermanns 1976 folgen sollten. Die Verbindung zu 1989 ist die Idee der Freiheit, die sich für Ostdeutschland nur in der Einheit erreichen ließ, und diese Kette immer neuer Enttäuschungen, die zunächst in Ohnmacht und Resignation und Flucht, am Ende aber zu dem Mut der Verzweiflung führten.
Ein herausgehobener Platz steht dem 17. Juni damit auch innerhalb der deutschen Freiheitsgeschichte zu - einer Geschichte, die nicht allzu viele erfolgreiche Daten aufzuweisen hat. Der 17. Juni ist ein Tag des Kampfes für demokratische Freiheiten in Deutschland. Von hier aus führte der Weg zur friedlichen Revolution von 1989.
Nachdem wir nun über ein Jahrzehnt die Einheit haben, können wir den 17. Juni 1953 auch als gesamtdeutsches Ereignis begreifen lernen, ganz im Sinne von Egon Bahr, der sagte: "Wir können stolz sein auf diesen Tag und das, was die Ostdeutschen gezeigt haben. Ohne ihren Mut hätte es weder den 17. Juni 1953 noch den 9. November 1989 gegeben. Der kleinere, bedrängtere Teil hat für das Ganze Geschichte geschrieben."
Die politische Kultur unseres Landes wäre sehr viel ärmer ohne diesen Aufstand. Doch bei allem Stolz sollten wir uns stets auch der Verpflichtungen bewusst sein, die er uns auferlegt. Zur Verpflichtung des 17. Juni zählt, dass Deutschland ein solidarisches Land bleibt: Solidarisch gegenüber jenen Menschen, die noch immer in Unrechtssystemen leben müssen. Angesichts unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Erfahrungen kann uns die Unfreiheit anderer nicht gleichgültig lassen. Wir haben die Pflicht, auch auf internationaler Ebene für die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte engagiert zu streiten. Zu unserer politischen Kultur gehört nicht zuletzt die Einsicht, dass wir die Feinde der Demokratie bekämpfen müssen, ehe sie stark werden, ehe sie Macht in ihren Händen halten.
Der Volksaufstand mahnt zu Zivilcourage, zu Solidarität gegenüber jenen Menschen, die sich in unserem Land mitunter nicht sicher fühlen können: Einwanderer, Obdachlose, Minderheiten. Wenn wir die innere Einheit sicher und gerecht gestalten wollen, dürfen wir die Verteidigung unserer demokratischen Werte weder dem Zufall noch der Beliebigkeit überlassen. Die Beschäftigung mit diesem Datum der deutschen Geschichte kann das Bewußtsein schärfen für die Kostbarkeit von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie.
Ich wünsche mir, dass die Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag des 17. Juni dazu beitragen, dieses revolutionäre Ereignis wieder in unsere Gedenkkultur einzugliedern und lebendig zu halten. Das wäre ein Gewinn für unsere Demokratie."
Der Umgang mit dem Gedenktag in den Jahrzehnten danach ist ähnlich kritikwürdig: im Westen ein ritualisiertes Gedenken, bei dem mehr und mehr frühe DDR-Flüchtlinge und politische Repräsentanten der Bundesrepublik unter sich blieben - ansonsten war es bloß noch ein in den sozialen Besitzstand übergegangener arbeitsfreier Tag - im Osten funktionierte die angstbesetzte Tabuisierung des Aufstandes und seiner Helden und Opfer, wie von der SED gewünscht und erzwungen.
Ich zweifle, ob es weiterhilft, die Ursachen dieses langen Desinteresses als eine Schuld der einen oder der anderen zu kritisieren. Denn man vergisst dabei etwas ganz Menschliches: Niederlagen lassen sich nicht gut feiern. Das ist meine Wahrnehmung des 17. Juni 1953. Es war eine Niederlage der Arbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat; sie war ein erster Schritt in die Resignation von vielen Ostdeutschen und die Niederlage wurde zu einem Baustein für die Festigung der Macht der SED und Ulbrichts persönlich. Dessen Auswechslung war - was damals natürlich niemand wusste - in Moskau praktisch schon beschlossene Sache, unterblieb aber, weil man dem Volk diesen Gefallen nach dem Aufstand nicht mehr tun wollte. Moskau ging es um die Demonstration der Macht. Das hatte die SED-Politik längst deutlich gemacht, was in die Vorgeschichte des 17. Juni gehört. Die Erhöhung der Arbeitsnormen brachte ja nur die sich längst anstauende Empörung der Menschen zum Ausbruch. Sie war Anlass; Gründe gab es noch viele andere.
Wer diese bittere Ironie der Geschichte, diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht sieht, der kann kaum ermessen, welchen Fortschritt in der politischen Kultur es bedeutet hat, dass den DDR-Bürgern 1989 eine friedliche Revolution gelang, richtiger: gelingen konnte. Trotz der sowjetischen Panzer und Soldaten, die ja immer noch im Lande waren.
Etwas Entscheidendes hatte sich 1989 geändert: die sowjetische Führung unter Gorbatschow wagte den Ausstieg aus der Jahrzehnte währenden unseligen Geschichte kommunistischer Gewaltherr-schaft, in der die Niederschlagung der Emanzipationsbestrebungen in den sozialistischen Bruderstaaten auf immer zu den schwärzesten Kapiteln zählt: Denn was 1953 in der DDR passierte, wiederholte sich ähnlich 1956 in Polen, schlimmer noch im selben Jahr in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
1989 bewies Gorbatschow, dass er und die sowjetische Führung es ernst meinten mit dem Neuen Denken, mit dem Ausbrechen aus den tradierten Feindbildern. Die Moskauer Führer hatten ihre historische Lektion gelernt. Das ist meine erste Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Juniaufstandes für die politische Kultur in Deutschland und in Europa. Der 17. Juni hatte eine Langzeitwirkung - sogar in der Sowjetunion. Er prägte dort, wenn auch sehr verzögert, das Denken von Politikern.
Ich halte fest: Wenn wir nach der Bedeutung des 17. Juni 1953 für die politische Kultur fragen, dann lohnt es sich, über den deutschen Tellerrand hinaus zu blicken. Eines jedenfalls ist unbestritten: Ohne Eingreifen der sowjetischen Panzer hätten wir schon 1953 die Einheit bekommen, denn Ulbrichts Regierung, seine SED waren am 17. Juni praktisch entmachtet. Was allerdings passiert wäre, wenn 1989 die Rote Armee ihren Juni-Einsatz wiederholt hätte, mag ich mir nicht wirklich ausmalen.
Dass die Revolution von 1989 anders als die von 1953 friedlich verlief - ohne Blutvergießen, ohne Panzer, ohne Standgerichte - war ein großes Glück, ein Riesenerfolg. Nur eines war es nicht: selbstverständlich. Revolutionen in Deutschland gingen selten gut aus - das sollten wir auch nach 1989 nicht so schnell vergessen.
Wie lässt sich nun die Bedeutung des Juniaufstands für die politische Kultur heute beschreiben? Hier zögere ich mit einer Antwort. Zwar war in den letzten Wochen vieles über dieses Ereignis in den Zeitungen zu lesen. Es gab zahllose politische Veranstaltungen, tägliche Zeitzeugenberichte im Radio, Wettbewerbe in Schulen, einige Fernsehfilme und Dokumentationen, neue Sachbücher. Doch wie lange hält das Interesse an? Laut einer aktuellen Umfrage des ZDF (Mai 2003) kann nur knapp die Hälfte aller Deutschen mit diesem Datum etwas anfangen, ihm das richtige historische Ereignis zuordnen. Der 17. Juni war im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verdrängt worden, fast schon in Vergessenheit geraten. Das ändert sich jetzt hoffentlich. Am 50. Jahrestag und fast 14 Jahre nach der staatlichen Einheit fallen offenbar politische Scheuklappen, die bisher den Blick verstellt hatten. Plötzlich können wir uns die Geschichten der Zeitzeugen anhören, können einfach nacherzählen, was die Forscher aus den Archiven heben: und siehe da, die Nebel des Kalten Krieges lichten sich. Die tatsächlichen Vorgänge, die tatsächliche Wut der Arbeiter und aller, die sich ihnen angeschlossen hatten, übrigens auch die Unlust vieler sowjetischer Soldaten, an diesem Tag ihre Befehle auszuführen, sprechen für sich selbst. Man braucht keine angeblichen Provokateure aus dem Westen, um den Aufstand zu erklären und auch kein nationales Pathos. Was da wirkte, war politischer, sozialer Unmut, er mündete in das, was freie Gewerkschaften ausmachen: die Leute wollten mehr materielle Gerechtigkeit, wollten mehr politische Freiheit und Selbstbestimmung. Die da unten wollten nicht mehr weiter wie bisher! Leider konnten die da oben noch, weil die Sowjetunion noch Machtmittel hatte und anwenden wollte. Die revolutionäre Situation, dass beides zusammenkommt, der Unwille von unten und das Unvermögen von oben, die entstand erst 36 Jahre später.
Also erzählen wir die Geschichte:
Die Vorgeschichte des 17. Juni lässt sich in Stichworte fassen: Gängelung der Menschen durch den Staat, Enteignung des Mittelstandes, Schließung kleiner Privatbetriebe, Vertreibung der Bauern von ihren Höfen, Verfolgung der Jungen Gemeinden, Diffamierung der Kirchen, ideologische Bevormundung in Betrieben, Schulen und Universitäten, Kampf gegen die überall vermuteten Überreste der Sozialdemokratie.
Die SED regiert ihren Staat und "ihre" Bürger, die kaum Bürgerrechte hatten, im stalinistischen Geist und mit brutaler Härte. Schon wegen kleinster Vergehen, etwa wegen des Diebstahls von Nahrungsmitteln aus purer Not, landen damals viele tausend Menschen im Gefängnis. Für so genannte "Staatsverbrechen", wie etwa eine politische Parodie, gibt es hohe Zuchthausstrafen. Kein Wunder, dass schon in den ersten drei Jahren nach Staatsgründung über eine halbe Million Ostdeutsche in den Westen fliehen.
Als die SED-Führung im Juli 1952 den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus" verkündet, hat sie ihren moralischen Kredit, ihre Glaubwürdigkeit schon gründlich verspielt. Der Aufbau der Kasernierten Volkspolizei, der forcierte Ausbau der Schwer- und Grundstoffindustrie, die von oben angeordnete Schaffung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG's) und später von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH's) - all diese Maßnahmen lösen eine ernste Wirtschafts- und Versorgungskrise aus. Die hohen Reparationslieferungen an die Sowjetunion tragen das Ihrige bei. Die Lebensmittel werden immer knapper und teurer. Konsumgüter für den täglichen Bedarf - Kleidung, Stoffe usw. - gibt es kaum noch. Die alten Produktions- und Lieferstrukturen waren zerschlagen worden, ohne dass die neuen, sozialistischen funktionieren.
Und wie reagieren Ulbricht und sein Politbüro? Sie ordnen von oben erhebliche Leistungssteigerungen an. Im Mai 1953 erhöhen sie die für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um zehn Prozent, was kräftige Lohnsenkungen zur Folge hat. Doch mit dem Druck auf die Arbeiter wächst auch ihr Frust, wächst die Unzufriedenheit im ganzen Land. Die innenpolitische Krise spitzt sich bedrohlich zu. Anfang Juni 1953, drei Monate nach Stalins Tod, bestellt die verärgerte Sowjetführung die Spitzenfunktionäre der SED nach Moskau ein und verlangt radikale Kurskorrekturen. Doch der "Neue Kurs" der SED, das Eingeständnis politischer Fehlentscheidungen, die Rücknahme der Normerhöhung, sie kommen zu spät, sind kein Ventil für die aufgestaute Wut der Arbeiter.
Schon seit Tagen hatte es Versammlungen, meist nur kurze Arbeitsniederlegungen gegeben. Die Initiative zu ersten größeren Streiks am 15. Juni 1953 ergreifen die Arbeiter auf den Großbaustellen im Friedrichshain und in anderen Berliner Betrieben. Am 16. Juni streiken die Stahlarbeiter in Hennigsdorf, und in Berlin demonstrieren erst 700, am Ende dann mehrere Tausend Berliner Arbeiter mit Transparenten durch die Stalinallee in die Innenstadt. Ihnen geht es nicht mehr nur um die Normen auf dem Bau. Bei der spontanen Kundgebung am Haus der Ministerien erklingen erste Forderungen nach freien und geheimen Wahlen und nach dem Rücktritt der Regierung. Für den nächsten Tag, den 17. Juni, rufen die Arbeiter den Generalstreik aus.
Dieser Aufruf verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Am Morgen des 17. Juni kommt es in über 700 Ortschaften zu Protestaktionen der Bevölkerung: 600 Betriebe werden bestreikt, Gemeindeämter belagert, Gebäude der SED, der Polizei, der Staatssicherheit gestürmt, knapp 1.400 Häftlinge werden aus Gefängnissen befreit.
Was als Arbeiterprotest, als Arbeiterbewegung begann, mündete an diesem 17. Juni in einen Volksaufstand. Menschen aus allen sozialen Schichten (Arbeiter, Bauern, Angestellte, auch Angehörige der Intelligenz, auch Polizisten) verlangen mehr als nur eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Ihre Forderungen sind grundsätzlicher Natur: Sturz der Regierung, freie Wahlen, Zulassung der westdeutschen Parteien in der DDR. Den Demonstranten geht es um einen politischen Befreiungsprozess, der letztlich auf die Beseitigung der Zonengrenze und damit auf die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates in Demokratie und Freiheit zielt.
Zentren der Erhebung waren neben Berlin, Leipzig, Halle vor allem die Industriestandorte Leuna, Schkopau, Merseburg, aber auch Wolfen, Weißenfels, Eisleben. In jenen industriellen Ballungsräumen, die schon vor 1933 Zentren der deutschen Arbeiterbewegung waren, erreicht die Streikbewegung zum Teil auch einen hohen Grad an Organisation und Geschlossenheit: Streikleitungen werden gewählt und vernetzt, Belegschaften zwingen die Funktionäre, Resolutionen zu unterschreiben. Dennoch krankt der Aufstand von Beginn an daran, dass er ohne deutliche Führung, ohne starke überregionale Koordination bleibt. Ganz abgesehen davon, dass der zeitliche Spielraum begrenzt bleibt.
Am 16. und 17. Juni 1953 verlor die SED die Kontrolle über das Land. Nur durch das Eingreifen der Roten Armee, die 500.000 Soldaten in der DDR hatte, konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Panzer fuhren auf, das Kriegsrecht wurde verhängt, Einheiten der Kasernierten Volkspolizei rückten an. Der 17. Juni fand ein blutiges Ende: über fünfzig Menschen wurden getötet, mindestens zwanzig standrechtlich erschossen. Nach Angaben der Birthler-Behörde wurden dann in der Folgezeit mindestens 2.300 Teilnehmer am Volksaufstand von sowjetischen und DDR-Gerichten zu meist langen Zuchthausstrafen verurteilt.
Dass heute viele Ostdeutsche nur wenig über diese antistalinistische Erhebung wissen, ist Folge des Umgangs mit diesem Ereignis in der DDR. In den Jahren und Jahrzehnten nach 1953 wurde der Aufstand propagandistisch umgedeutet als "Eingriff des faschistischen und monopolistischen Gegners aus dem Westen". Auch wenn sich einige "irregeleitete Arbeiter" zu Protesten hätten verführen lassen, habe doch die überwiegende Mehrzahl der Werktätigen fest zu Partei und Regierung gestanden. Diese verfälschende, verharmlosende Lesart des Juniaufstandes mutierte zur offiziellen Sprachregelung. Gleichwohl blieb der Volksaufstand im historischen Angstkalender der Regierenden präsent: Als sich im Sommer 1989 die innenpolitische Situation dramatisch zuspitzte, stellte der offenbar noch immer traumatisierte Erich Mielke seinen Offizieren im MfS die Frage "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?" Die Offiziere verneinten dies, sie vertrauten weiter auf die Überlegenheit des repressiven Apparats.
Der 50. Jahrestag des 17. Juni bietet Anlass, dieses historische Ereignis für unsere politische Kultur zurückzugewinnen. Dank der guten Archivlage, die sich in zahlreichen Publikationen widerspiegelt, ist es uns heute möglich, diesen Tag neu zu entdecken und gemeinsam, "gesamtdeutsch" zu begehen - ohne ihn für einseitige Zwecke zu instrumentalisieren.
Kritik an der jahrzehntelangen Vernachlässigung dieses Aufstands in der politischen Kultur unseres Landes will ich allerdings nicht so sehr an den von "Amts wegen" Zuständigen, an den Anderen üben. Fangen wir doch einmal bei uns selbst, bei den Ostdeutschen an.
Wir, die wir in der DDR lebten und mit kritischer Distanz das politische Geschehen im Lande verfolgten, haben uns bei unserer eigenen Traditionssuche viel lieber auf den Aufstand in Ungarn, 1956, auf die Helden in Prag, 1968, und später dann auf Solidarnoc berufen, statt auf den 17. Juni. Der Juniaufstand galt uns relativ wenig, wir haben ihn uns nicht wirklich zu eigen gemacht. Das mag mit der wenig rühmlichen Rolle vieler Schriftsteller und Intellektueller 1953 zu tun haben. Manche, die zu den kritischeren, deshalb glaubwürdigeren zählten, unterschieden selbst zwischen den für berechtigt gehaltenen im engeren Sinne gewerkschaftlichen Forderungen und den für unerwünscht erklärten "konterrevolutionären" Forderungen nach Demokratie und Freiheit, die logischerweise in die Forderung nach deutscher Einheit mündeten. Sie unterstützten damit im Ergebnis die offiziellen Darstellungen über diesen Aufstand. Es mag sein, dass viele in der DDR dem erlegen sind. Es mag aber auch sein, dass es die Niederlage war, an die man nur ungern erinnert werden wollte. Die Jüngeren hatten dann ja noch die genannten weiteren Niederlagen zu verkraften: eine davon war der Mauerbau, der durchaus zu den Folgen des 17. Juni gerechnet werden kann: schmerzlich wurde deutlich, dass nicht nur die eigenen Machthaber, sondern auch der Westen über uns in der DDR entschied; dass der Westen im Kalten Krieg als Verbündeter für das Volk ausfiel. Das war ja schon am 17. Juni so.
Mit dieser Verdrängung und Resignation haben wir vor allem jenen Hunderttausenden Unrecht getan, die 1953 den Mut aufbrachten, ihren Protest gegen die Diktatur öffentlich zu machen, in den Streik zu treten, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Diese Menschen verdienen den gleichen Respekt, die gleiche Anerkennung wie die Aufständischen in Budapest und Prag. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass im Zuge der zahlreichen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag diese Akteure endlich aus dem Schatten der Geschichte treten und öffentliche Würdigung erfahren.
Übrigens: Die Tatsache, dass der Aufstand gescheitert ist, nimmt seiner historischen Bedeutung nichts. Festzuhalten ist, dass die ostdeutschen Demonstranten von 1953 die Ersten waren, die sich in Osteuropa gegen das kommunistische System erhoben haben. Der Blick auf die Emanzipationsbewegungen in den sozialistischen Staaten nach 1945 weist dem Juniaufstand diesen exklusiven Platz zu. Das ändert nichts daran, dass es sich auch um die erste in einer langen Reihe von Enttäuschungserfahrungen gehandelt hat, der die niederschmetternden Enttäuschungen in Polen, Ungarn, Mauerbau 1961, dem heutigen Tschechien und die Ausbürgerung Biermanns 1976 folgen sollten. Die Verbindung zu 1989 ist die Idee der Freiheit, die sich für Ostdeutschland nur in der Einheit erreichen ließ, und diese Kette immer neuer Enttäuschungen, die zunächst in Ohnmacht und Resignation und Flucht, am Ende aber zu dem Mut der Verzweiflung führten.
Ein herausgehobener Platz steht dem 17. Juni damit auch innerhalb der deutschen Freiheitsgeschichte zu - einer Geschichte, die nicht allzu viele erfolgreiche Daten aufzuweisen hat. Der 17. Juni ist ein Tag des Kampfes für demokratische Freiheiten in Deutschland. Von hier aus führte der Weg zur friedlichen Revolution von 1989.
Nachdem wir nun über ein Jahrzehnt die Einheit haben, können wir den 17. Juni 1953 auch als gesamtdeutsches Ereignis begreifen lernen, ganz im Sinne von Egon Bahr, der sagte: "Wir können stolz sein auf diesen Tag und das, was die Ostdeutschen gezeigt haben. Ohne ihren Mut hätte es weder den 17. Juni 1953 noch den 9. November 1989 gegeben. Der kleinere, bedrängtere Teil hat für das Ganze Geschichte geschrieben."
Die politische Kultur unseres Landes wäre sehr viel ärmer ohne diesen Aufstand. Doch bei allem Stolz sollten wir uns stets auch der Verpflichtungen bewusst sein, die er uns auferlegt. Zur Verpflichtung des 17. Juni zählt, dass Deutschland ein solidarisches Land bleibt: Solidarisch gegenüber jenen Menschen, die noch immer in Unrechtssystemen leben müssen. Angesichts unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Erfahrungen kann uns die Unfreiheit anderer nicht gleichgültig lassen. Wir haben die Pflicht, auch auf internationaler Ebene für die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte engagiert zu streiten. Zu unserer politischen Kultur gehört nicht zuletzt die Einsicht, dass wir die Feinde der Demokratie bekämpfen müssen, ehe sie stark werden, ehe sie Macht in ihren Händen halten.
Der Volksaufstand mahnt zu Zivilcourage, zu Solidarität gegenüber jenen Menschen, die sich in unserem Land mitunter nicht sicher fühlen können: Einwanderer, Obdachlose, Minderheiten. Wenn wir die innere Einheit sicher und gerecht gestalten wollen, dürfen wir die Verteidigung unserer demokratischen Werte weder dem Zufall noch der Beliebigkeit überlassen. Die Beschäftigung mit diesem Datum der deutschen Geschichte kann das Bewußtsein schärfen für die Kostbarkeit von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie.
Ich wünsche mir, dass die Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag des 17. Juni dazu beitragen, dieses revolutionäre Ereignis wieder in unsere Gedenkkultur einzugliedern und lebendig zu halten. Das wäre ein Gewinn für unsere Demokratie."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2003/pz_0306131