67. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 23. November 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zur Fortsetzung unserer Beratungen zum Bundeshaushalt 2007.
Zunächst möchte ich einige Vorbemerkungen machen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführten Überweisungen im vereinfachten Verfahren zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP III)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Petra Hinz (Essen), Lothar Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept
- Drucksache 16/3502 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbraucher beim Telemediengesetz nicht übergehen
- Drucksache 16/3499 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Eine europäische Perspektive für das Kosovo
- Drucksache 16/3520 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2003 bis 2006 (20. Subventionsbericht)
- Drucksache 16/1020 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 57. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz)
- Drucksache 16/2950 -
überwiesen:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
Der in der 64. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) gemäß § 96 GO überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes
- Drucksache 16/3269 -
überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96
GO
Die in der 57. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss), dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) sowie dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für einen zukunftsfähigen europäischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste - den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten
- Drucksachen 16/2675 -
überwiesen:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste
- Drucksachen 16/2977 -
überwiesen:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Reinhard Grindel, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Monika Griefahn, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Schaffung eines kohärenten europäischen Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikationspolitik in Europa machen
- Drucksachen 16/3297 -
überwiesen:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Wir setzen nun die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt I - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2007
(Haushaltsgesetz 2007)
- Drucksachen 16/2300, 16/2302 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010
- Drucksachen 16/2301, 16/2302, 16/3126 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Ich rufe Tagesordnungspunkt I.12 auf:
Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
- Drucksachen 16/3111, 16/3123 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Zu dem Einzelplan liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir später namentlich abstimmen werden. Außerdem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Claudia Winterstein das Wort.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Etat des Arbeitsministers ist der größte Einzeletat und umfasst 124,4 Milliarden Euro. Das sind 5 Milliarden Euro mehr als im Jahr 2006. Der Haushalt des Arbeitsministers leistet also keinen Beitrag zur Konsolidierung, im Gegenteil.
Dieser Etat ist auch das größte Risiko für den Bundeshaushalt 2007.
Denn Sie, Herr Minister, wiederholen im Etat 2007 Fehler, die Sie schon im Jahr 2006 gemacht haben. Sie arbeiten mit geschönten Zahlen. Sie haben in den Haushaltsplanberatungen 2006 immer wieder behauptet, 24,4 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II würden ausreichen. Wir haben Sie damals gewarnt, dass der Haushaltsansatz bei weitem nicht reichen wird. Nun stellen wir fest: Wir hatten Recht, die Zahlen waren geschönt. Die Kosten werden nämlich bei mindestens 26,4 Milliarden Euro liegen, das sind 2 Milliarden Euro mehr.
Jetzt, für 2007, behaupten Sie, 21,4 Milliarden Euro würden für das Arbeitslosengeld II ausreichen. Wir warnen Sie: Es wird wieder nicht reichen. Diese Zahlen sind ebenfalls geschönt. Es wird erheblich teurer.
Auch in anderen Bereichen haben die Zahlen 2006 nicht gestimmt und stimmen 2007 wieder nicht. Was mussten wir uns für Beschimpfungen anhören, als wir Ihnen in den Beratungen 2006 erklärten, dass der Titel ?Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ mit 6,5 Milliarden Euro zu hoch angesetzt ist! Auch Sie hätten schon damals erkennen können, dass eine so hohe Summe für Fördermaßnahmen bei den Langzeitarbeitslosen nicht sinnvoll ausgegeben werden kann. Stattdessen haben Sie uns vorgeworfen, wir wollten gezielt zulasten der Arbeitslosen sparen.
Dass diese Vorwürfe nicht zutreffen, beweisen die Zahlen. Bis zum 31. Oktober sind 3,3 Milliarden Euro abgeflossen. Hochgerechnet auf das ganze Jahr werden es also etwa 4 Milliarden Euro sein. Sie haben aber 6,5 Milliarden Euro angesetzt. Beim Haushalt 2007 spielen Sie dennoch das gleiche Spiel und setzen wieder 6,5 Milliarden Euro im Haushalt an.
Herr Minister, die Lösung der Probleme besteht nicht darin, beim Eingliederungstitel möglichst viel Geld zu verteilen; nötig sind vielmehr Reformen am Arbeitsmarkt und eine Straffung der Arbeitsmarktinstrumente.
Der Bundesrechnungshof hat erst gerade wieder aufgezeigt, wie viel hier im Argen liegt. Er hat sich den Vollzug von Hartz IV angeschaut und beispielsweise festgestellt, dass die Förderungsvoraussetzungen bei einem Viertel der 1-Euro-Jobs überhaupt nicht vorliegen und bei weiteren 50 Prozent die Förderfähigkeit zweifelhaft ist. Sie haben zwar viele Expertenrunden tagen lassen, Konsequenzen daraus sind aber nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, dass es erheblichen Streit in der Koalition gibt: Die CDU spricht sich gegen Mindestlöhne und für Kombilöhne aus, die SPD macht es umgekehrt. Derzeit versucht wieder eine Arbeitsgruppe, völlig unvereinbare Konzepte der beiden Koalitionspartner unter einen Hut zu bringen.
Was dabei herauskommt, kann man bei der so genannten Gesundheitsreform sehen, nämlich nichts Gutes. Die ?Süddeutsche Zeitung“ hat das ?die nächste Nicht-Reform“ genannt.
Herr Minister, im Zusammenhang mit Ihrem Haushalt haben Sie stolz darauf verwiesen, der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung würde nun um insgesamt 2,3 Prozentpunkte sinken. Der Ordnung halber muss man aber hinzufügen, dass 1,3 Prozentpunkte davon mit Ihrem Etat überhaupt nichts zu tun haben. Diese Senkung wird allein aus den Mitteln der Beitragszahler finanziert, die zu viel gezahlt haben.
Im Übrigen bleibt es trotz dieser Senkung bei dem, was die ?FAZ“ am 8. November 2006 kurz und, wie ich finde, sehr treffend formuliert hat:
Der Staat wird ... den Bürgern nach dem Jahreswechsel
- also 2007 -
... mehr und nicht weniger Geld aus der Tasche ziehen, weil die Steuererhöhungen größer sind als die aufgepeppte Beitragsentlastung.
Herr Minister, auch bei Ihrem Umgang mit den aktuellen Arbeitsmarktdaten kehren Sie unliebsame Zahlen unter den Tisch. Es ist nämlich nur die halbe Wahrheit, wenn Sie darauf verweisen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen gegenüber dem Vorjahr gesunken ist. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist; denn man muss all diejenigen hinzuzählen, die einen 1-Euro-Job haben, die an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen, die zum Beispiel wegen Kinderbetreuung dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, und diejenigen, die zusätzlich zu ihrem Lohn Arbeitslosengeld II erhalten. Insgesamt erhielten in Deutschland im Oktober 2006 über 5 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II. Das sind 187 000 Menschen mehr als im Oktober des letzten Jahres. Das müssen Sie aus Ihrem Etat bezahlen. Gesunkene statistische Arbeitslosenzahlen helfen Ihnen dabei überhaupt nicht weiter.
Herr Müntefering, es scheint Ihr Arbeitsstil zu sein, unangenehme Zahlen erst in allerletzter Minute auf den Tisch zu legen. Wir wussten doch schon lange, dass der Aussteuerungsbetrag nicht in der im Entwurf veranschlagten Höhe fließen würde. Aber nicht einmal in dem Berichterstattergespräch sind Sie von Ihrem unseriösen Zahlenwerk abgewichen. Erst drei Tage vor der abschließenden Sitzung im Haushaltsausschuss haben Sie die Zahlen korrigiert: von den illusorischen 5,1 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro. Das ist wahrscheinlich immer noch zu hoch; denn wir wissen jetzt, dass dieser Betrag 2006 bei 3,3 Milliarden Euro liegt. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit kommen bei Ihnen erst an sehr später Stelle.
Dieser Etat enthält unrealistische Ansätze und ist deshalb ein Risiko für die Finanzen des Bundes 2007 insgesamt. Das könnte anders aussehen. In dem liberalen Sparbuch, das die FDP auch in diesem Jahr wieder vorgelegt hat, haben wir für den Etat des Arbeitsministers ein Sparvolumen von insgesamt knapp 3,6 Milliarden Euro ausgewiesen. Unsere Kürzungsvorschläge betreffen beispielsweise die Ressortforschung, die Initiative ?Neue Qualität der Arbeit“, die Verwaltungskosten für die Umsetzung von Hartz IV und den Eingliederungstitel.
Einen Kürzungsvorschlag will ich hier gesondert erwähnen. Herr Müntefering, Sie planen 30 neue Stellen, um die Optionskommunen und die Arbeitsgemeinschaften stärker kontrollieren zu können. Wir lehnen das ab. Wir sind der Meinung, dass Neueinstellungen hier nicht zu vertreten sind, wenn gleichzeitig etwa bei der Telekom Menschen teuer in die Frühpension geschickt werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, schon bei den Beratungen für den Haushalt 2006 haben Sie unsere Sparvorschläge in Bausch und Bogen abgelehnt.
Aber wie sieht jetzt die Realität aus? Der Haushaltsvollzug hat uns und unsere Anträge bestätigt. Etliche Etats werden nach dem aktuellen Stand unseren Kürzungsvorschlägen entsprechen oder sogar noch darunter liegen. Herr Müntefering, in der ersten Lesung zu diesem Etat haben Sie gesagt:
Wir wollen den Haushalt konsolidieren. Dazu muss auch dieser Einzelplan seinen Teil beitragen.
Dieses Versprechen haben Sie nicht erfüllt.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Waltraud Lehn für die SPD-Fraktion.
Waltraud Lehn (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Politik bestimmt sehr weitgehend den Alltag der Menschen in unserem Land. Der Einzelplan, über den wir heute reden, tut das in ganz besonderer Weise, weil er sich mit der Rente beschäftigt, weil er sich mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt, weil er sich mit der Kriegsopferfürsorge und dem ganzen sozialen Feld, das die Lebenswirklichkeit von Menschen ausmacht, auseinander setzt und hier Rahmenbedingungen setzt.
Frau Kollegin Winterstein, manchmal ist die Politik sehr alltäglich. Ich sage zu Ihnen persönlich, aber auch zur FDP im Allgemeinen: Sie erinnern mich an meine Tante Käthe.
Tante Käthe kam zum ersten Geburtstag meines Sohnes. Alle dort waren guter Stimmung; es ging auch allen ganz ordentlich. Was macht Tante Käthe? Tante Käthe erzählt, dass ihre Tochter im Alter von fünf Jahren bei einer Geburtstagsfeier beinahe ertrunken wäre.
Ein anderes Beispiel: Tante Käthe ist auf einer Familienfeier. Die Sonne scheint, allen ist warm und alle sind zufrieden. Was macht Tante Käthe? Tante Käthe erzählt, wie schrecklich Gewitter sind.
Tante Käthe war der Schrecken der Familie, ein Stimmungskiller und ein Nährer von Angst, obwohl wir alle dies nicht wollten. Im Übrigen hat sie überhaupt nichts verändert, auch nichts zum Besseren.
Frau Kollegin Winterstein, ich will Sie nicht mit Tante Käthe gleichsetzen; gleichwohl ist aufgrund Ihres Verhaltens die Erinnerung an Tante Käthe ausgesprochen präsent.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen, wie man sich auf Situationen einstellen kann. Ich könnte hier jetzt sagen: Sie haben völlig Recht, es geht abwärts.
Es geht wirklich abwärts. Es geht abwärts mit der Zahl der Arbeitslosen.
Es geht abwärts mit den Beiträgen zur Sozialversicherung. Es geht abwärts mit der Neuverschuldung. Erinnern wir uns einmal: Als ich vor wenigen Monaten hier stand, konnte ich noch nicht verkünden, dass 500 000 Menschen mehr in Beschäftigung und weniger arbeitslos sind. Die Arbeitslosenquote liegt erstmals seit fünf Jahren wieder unter 10 Prozent.
Noch erfreulicher ist, dass dieser Rückgang vor allem durch ein starkes Wachstum sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zustande kommt.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass dieser Aufschwung bei den Langzeitarbeitslosen angekommen ist. Es sind bald schon 100 000 ehemalige Langzeitarbeitslose, die endlich wieder eine Perspektive bekommen haben.
Wir können nach einem Jahr großer Koalition mit Recht sagen: Wir haben den Arbeitsmarkt durch mutige Schritte vorangebracht.
Die Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt hat geringere Ausgaben und höhere Einnahmen zur Folge. Das macht sich natürlich insbesondere bei der Bundesagentur für Arbeit bemerkbar. Sie wird in diesem Jahr einen Überschuss von mehr als 10 Milliarden Euro erwirtschaften. Deswegen können wir es uns leisten, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung stärker als geplant zu senken. Wir geben den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in diesem Land etwas von ihrem schwer verdienten Geld zurück. Ich finde, das gehört sich so.
- Da Sie sich noch immer nicht beruhigen können, sage ich Ihnen: Wenn Sie darauf hinweisen, dass es abwärts geht, haben Sie Recht. Es geht abwärts, beispielsweise mit der Neuverschuldung.
Noch vor wenigen Monaten sind wir davon ausgegangen, dass wir in diesem Jahr eine Neuverschuldung in Höhe von 36 Milliarden Euro benötigen werden, um die Ausgaben schultern zu können. Nun wissen wir, dass wir in diesem Jahr ?nur“ 30 Milliarden Euro brauchen.
Im nächsten Jahr werden es dann weniger als 20 Milliarden Euro sein.
- Natürlich ist das immer noch zu viel. Auch ich würde mir wünschen, dass keine Neuverschuldung notwendig wäre oder wir sogar ein Plus zu verzeichnen hätten, das wir zum Abbau der Schulden verwenden könnten. Aber ich sage Ihnen: Machen wir doch bitte einen Schritt nach dem anderen. Man muss den Erfolg, den man nachweislich hat,
zunächst einmal benennen und sich dann überlegen, wie man diesen Erfolg ausbauen kann. Wer so schnell läuft, wie er kann, der wird verdammt schnell müde und erreicht das Ziel nicht. Besser ist es, sich die Kraft auf die gesamte Strecke einzuteilen. Dann kommt man dem Ziel langsam immer näher.
Nun möchte ich etwas zur Rente sagen. Das Verhältnis von Beitragszahlern und Beitragsempfängern, also das Verhältnis von Beschäftigten auf der einen Seite und Rentnerinnen und Rentnern auf der anderen Seite, wird uns in Zukunft vor große Herausforderungen stellen. Wer will das schon bezweifeln? Daran ändert auch das derzeitige Beschäftigungswachstum nichts Wesentliches.
Die große Koalition wird angesichts der bergigen Landschaft, in der wir uns bewegen, darauf Acht geben, dass wir immer genug Schwung haben, um all die Berge, die auf unserem Weg liegen, überwinden zu können. Deswegen haben wir auch im Hinblick auf die Rente wichtige Änderungen vorgenommen.
Natürlich hätten wir einen Anstieg des Beitrags zur Rentenversicherung auf nur 19,7 Prozent beschließen können. Für uns ist aber langfristiges Handeln im Sinne von Verlässlichkeit und Stabilität über dieses Jahrzehnt hinaus wichtig. Durch die beschlossene Erhöhung des Beitrags zur Rentenversicherung auf 19,9 Prozent gewährleisten wir diese Stabilität. Dadurch sichern wir die Liquidität der Rentenversicherung. Wir sorgen dafür, dass die gesetzliche Schwankungsreserve stabil bleibt, und verhindern, dass laufende Rentenzahlungen etwa durch Darlehen des Bundes gestützt werden müssen. Das schafft für die 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in diesem Land Verlässlichkeit.
Nun möchte ich noch etwas zum schwierigen Thema Rente mit 67 sagen. Kein Mensch hat Spaß daran, wenn die Lebensarbeitszeit erhöht wird. Kein Mensch findet es toll, dass die Menschen zukünftig länger arbeiten müssen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl derjenigen, die dem Arbeitmarkt in Zukunft zur Verfügung stehen, immer geringer wird. Die Zahl der Menschen, die in das Erwerbsleben eintreten, geht immer weiter zurück, während sich die Zahl derjenigen, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden und die Gott sei Dank eine immer höhere Lebenserwartung haben - sie steigt stetig -, erhöht.
Auch das Leben im Alter muss finanziert werden. Unser System ist nicht darauf angelegt, dass man 30 oder 40 Jahre lang arbeitet und anschließend 30 Jahre lang Rente bezieht. Das kann nicht funktionieren. Wer soll das denn bezahlen? Von daher glaube ich, dass es gut und richtig ist, diese Last gerecht zu verteilen. Deswegen müssen wir eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ins Auge fassen.
Nun bin ich außerordentlich froh, dass nach dem Entwurf, der zur Beratung vorliegt, derjenige, der 45 Jahre gearbeitet hat, weiter mit 65 Jahren ohne Abschlag in Rente gehen kann.
- Ich finde, dass auch Frauen ausreichend und gut berücksichtigt sind, weil Kindererziehungszeiten angerechnet werden. Frauen sind in ihrer Erwerbsbiografie ja nicht per se in einer schlechteren Situation, sondern dann, wenn sie Kinder bekommen und erzogen haben.
Das wird im Entwurf berücksichtigt und ich finde es auch gut, dass das so ist.
Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bleibt allerdings theoretisch, wenn die Menschen nicht tatsächlich länger beschäftigt sind. Im Augenblick stehen weniger als 45 Prozent der Menschen im Alter von 55 plus überhaupt noch im Erwerbsleben. Unser Ziel ist es, dass in absehbarer Zeit, nämlich bis 2010, zumindest 50 Prozent der Menschen im Alter von 55 plus einen Job haben. Eine ganz wichtige Etappe auf diesem Weg ist die Initiative ?50 plus“, mit der wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Beschäftigung Älterer zu fördern. Mit speziellen Lohnzuschüssen wollen wir zum Beispiel erreichen, dass ältere Empfänger von Arbeitslosengeld I auch eine Beschäftigung annehmen können, die geringer vergütet wird als ihre letzte.
Das heißt nicht, dass sie für einen Appel und ein Ei arbeiten sollen oder dass wir hier einen Ausbeutungsbereich für Arbeitgeber schaffen wollten. Deswegen darf man in diesem Zusammenhang die Diskussion über Mindestlöhne auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Ein Alter über 50 ist derzeit ein deutliches Vermittlungshemmnis. Dass dies so ist, das müssen wir erkennen.
Dass dies so bleibt, werden wir jedoch nicht tatenlos hinnehmen.
Auch die Entwicklung bei den unter 25-Jährigen ist oft ein Problem gewesen. Wir investieren weiter in diesen Bereich, wir investieren erfolgreich in diesen Bereich, und die Zahl der Betroffenen geht deutlich zurück. Wir stellen über 100 Millionen Euro für die Einstiegsqualifizierung von Jugendlichen zur Verfügung. Wir investieren 200 Millionen Euro in den Beschäftigungspakt für arbeitslose Ältere. Wir stellen den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen insgesamt 10 Milliarden Euro zur Verfügung.
Ich sage eins zum Schluss: Nun ist es an den Städten und Gemeinden, an den Argen genauso wie an den Optionskommunen, dieses Geld sinnvoll einzusetzen. Ich finde, es ist ein Hohn für die heute Arbeitslosen, zu wissen, dass auch in diesem Jahr relativ hohe Summen nicht verausgabt werden. Das ist im Land insgesamt sicherlich unterschiedlich. Aber ich finde, es kann nicht sein, dass die Bereitschaft vor Ort darüber entscheidet, ob jemand eine Chance bekommt.
Ich glaube, wir sind als Gesetzgeber aufgerufen, dafür zu sorgen, dass die Mittel wirtschaftlich und effizient tatsächlich eingesetzt werden.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kornelia Möller für die Fraktion Die Linke.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommen wir jetzt nach Tante Käthes Märchenstunde wieder zu unserem Thema.
- Nein, Herr Brandner, das überlasse ich gerne Ihnen; das können Sie besser als ich.
Circa 2,9 Millionen Menschen sind langzeitarbeitslos in diesem Land. Statt ihnen eine Perspektive zu geben, lobte Frau Merkel in ihrer gestrigen Rede ausdrücklich die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung.
Mein Fraktionskollege Gregor Gysi erklärte ihr und Ihnen gestern, dass die Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland schon jetzt um 5 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegen.
- Nein, auch das können Sie besser, Herr Kollege: Sie erzählen uns ständig, die Erde sei eine Scheibe.
Frau Merkel, ich sage Ihnen: Bei der derzeitigen Situation ist es geradezu verantwortungslos, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter zu senken;
denn das geht gerade zulasten langzeitarbeitsloser Menschen. Da Sie die Langzeitarbeitslosigkeit augenscheinlich ausgeblendet haben, wundert es nicht, dass in Ihrem Haushaltsentwurf ein Konzept zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit fehlt. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie kommentieren lediglich die Entwicklung, dass trotz Ihrer schlechten Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr allein aus konjunkturellen Gründen und auch nur zeitweilig mehr Arbeitsplätze entstanden sind.
In den ostdeutschen Ländern beträgt die Arbeitslosigkeit durchschnittlich 15,7 Prozent. In den westdeutschen Ländern beträgt die Arbeitslosigkeit durchschnittlich 8,2 Prozent. Trotzdem ist die Koalition nicht in der Lage, auf die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern gesondert einzugehen. Statt guter Konzepte finde ich in Ihrem Gesetzentwurf, dass Sie die Eingliederungsleistungen mit einem einseitigen Deckungsvermerk versehen haben. Das bedeutet, dass die Finanzierung der Erwerbslosigkeit auch im nächsten Jahr Vorrang vor einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und vor der Finanzierung von Arbeit erhalten soll. So sieht schwarz-rote Politik aus. Sie sind ignorant und beratungsresistent.
Reicht es Ihnen nicht, dass die Argen, die eine aktive Arbeitsmarktpolitik umsetzen wollten, durch die Haushaltssperre in diesem Jahr bis in die Handlungsunfähigkeit getrieben wurden? Brauchen Sie wirklich eine Neuauflage im nächsten Jahr?
Kommen wir jetzt zur christlich-sozialen Rosstäuscherei der Herren Rüttgers, Stoiber, Söder und Co. Wir, die Linke, haben Ihnen in unserem Rahmenantrag zur Überwindung von Hartz IV bereits Anfang dieses Jahres ein Konzept vorgelegt, mit dem vorgesehen ist, die Bezugsdauer des ALG I zu verlängern, ohne andere arbeitslose Menschen dafür die Zeche zahlen zu lassen, wie das die christlich-sozialen Linksblinker vorschlagen. Nach Schätzung des BMAS kostet unser Vorschlag 2,5 Milliarden Euro. Er soll durch eine entsprechende Verringerung des Aussteuerungsbeitrages gegenfinanziert werden. Einen gesonderten Antrag werden wir Ihnen vorlegen.
Nun zur SPD. Die CDU/CSU schickt sich an, Sie links zu überholen, und Kurt Beck sagt: Basta, mit uns gibt es keine Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I! Er begründet das damit - welche Überraschung -, dass angeblich kein Geld da ist. Wenn Geld dafür ausgegeben wird, die Arbeitsplatzvernichtung von Großunternehmen, zum Beispiel von Siemens, zu subventionieren, dann fehlt das Geld natürlich an anderer Stelle, wie hier, bei arbeitslosen Menschen und beim Kampf gegen die Armut.
Die BA freut sich über mehr als 10 Milliarden Euro Überschüsse. Die SPD will das Geld aber nicht dafür einsetzen, die Situation langzeitarbeitsloser Menschen zu verbessern. Das ist weder sozial noch gerecht. Meine Damen und Herren Sozialdemokraten, seien Sie also konsequent und streichen Sie endlich das ?S“ aus Ihrem Parteikürzel.
Wer es wie wir ernst mit den Menschen meint
- ganz genau, Sie können es nicht leiden, dass wir das immer wieder sagen, weil Sie die Menschen längst aufgegeben haben, für die Sie eigentlich in den Bundestag gewählt wurden -,
muss einen Teil der Überschüsse der BA für folgende Programme einsetzen:
Erstens. Wir schließen uns der Forderung des DGB an und fordern ein Sofortprogramm, mit dem 650 Millionen Euro als Anschubfinanzierung bereitgestellt werden,
um für circa 50 000 Jugendliche Ausbildungsplätze zu schaffen.
Zugegeben: Angesichts der aktuellen Situation - ungefähr 140 000 Ausbildungsplätze fehlen - ist das ein Notprogramm. Meine Damen und Herren der Koalition, es ist aber ein Notprogramm, das nötig ist, weil Sie nach wie vor auf einen erfolglosen Ausbildungspakt setzen. Auch hier zeigt sich Schwarz-Rot beratungsresistent.
Wir sagen Ja zur Umlagefinanzierung - ohne Wenn und Aber. Trotzdem darf man junge Menschen nicht im Regen stehen lassen. 50 000 Ausbildungsplätze bedeuten eine Perspektive für 50 000 junge Menschen. Wir legen einen entsprechenden Antrag vor.
Zweitens fordern wir, einen Teil der BA-Überschüsse für eine Anschubfinanzierung zu verwenden, um unseren Antrag auf eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung umzusetzen.
500 000 Menschen bekämen so wieder sozialversicherungspflichtige Arbeit - und zwar mindestens zu einem Mindestlohn von 8 Euro - und damit eine Zukunft, eine Zukunft, die sie mit Hartz IV und den 1-Euro-Jobs nicht haben. Unser Land braucht öffentlich geförderte Beschäftigung. Darin sind sich auch die großen Sozialverbände und der DGB einig, wie aus deren gemeinsamen Erklärung vom 16. November 2006 hervorgeht.
Die Ignoranz der Bundesregierung kann man nur so werten, dass Schwarz-Rot offenbar einen festen Sockel an langzeitarbeitslosen Menschen will, um auch künftig die Löhne und Gehälter zu drücken.
Den Beginn haben Sie schon gemacht. Sie haben ein Heer von 1-Euro-Jobbern geschaffen, mit denen Sie auch noch die Statistik verfälschen.
Die Zeit reicht leider nicht, um noch auf die Praxis einzugehen. Deshalb komme ich zum Schluss und gebe Herrn Straubinger das zu hören, worauf er immer wartet - gell, Herr Straubinger, darin sind wir beide uns mittlerweile einig -: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Hartz IV muss weg.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Joachim Fuchtel für die CDU/CSU-Fraktion.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Auch wenn es die Opposition nicht wahrhaben möchte: In Deutschland geht es bergauf.
Das ist nicht allein das Verdienst der Regierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft, die sich mehr und mehr als fähig erweist, sich auf die Herausforderungen der Globalisierung einzustellen, und der Tarifpartner, die den Ernst der Stunde erkannt haben. Dafür möchte ich mich bei dieser Gelegenheit bedanken.
Ein Verdienst der Bundesregierung ist es allerdings, dass wieder mehr Vertrauen in die Politik entstanden ist.
- Woran ich das ablese? Wenn 500 000 Menschen weniger arbeitslos sind, dann ist das ein erfreuliches Zeichen. Das entspricht der Zahl der Menschen, die in Stuttgart oder Dresden leben. Das ist doch weitaus mehr, als man dieser Regierung im ersten Jahr zugetraut hätte.
Das ist ein positives Zeichen, das gerade Sie anerkennen sollten.
Dass fast 100 000 Menschen wieder den Weg vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt gefunden haben, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich etwas zum Guten bewegt. Wir wollen schließlich den ersten Arbeitsmarkt stärken. Das gelingt zunehmend. Auch das ist ein positives Zeichen, das Sie anerkennen sollten, statt alles mies zu machen. Sie helfen niemand, wenn Sie immer alles negativ darstellen.
Wir entlasten die Arbeitnehmer und Arbeitgeber stärker, als versprochen wurde. Mit 17 Milliarden Euro ist die Entlastung höher als das Volumen des Landeshaushalts von Sachsen. Dass den Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder mehr zur Verfügung steht, wird sich ebenfalls auf den Konsum und die Konjunktur auswirken. Dabei hat der Einzelne die Möglichkeit, selber zu entscheiden, wie er mit seinen Konsumwünschen und seinem Konsumverhalten disponiert.
Für uns als Union ist klar, dass Überschüsse im Bereich der Bundesanstalt zu Beitragsreduzierungen führen müssen. Das ist ein wichtiger Hinweis. Das haben wir eingehalten und das wollen wir fortführen.
Wichtig ist auch, die Beteiligung von jungen und älteren Menschen am Erwerbsleben näher zu beleuchten. Die Erwerbsquote der über 55-Jährigen lag im Jahr 2000 bei 37 Prozent. Im zweiten Halbjahr 2006 liegt sie bei 48,3 Prozent. Das Ziel muss sein, sie im nächsten Jahr auf 50 Prozent zu bringen; das wäre hervorragend. Das zeigt - genauso wie unsere Haushaltsansätze -, dass wir uns um die Gruppen bemühen, die in besonderem Maße der Unterstützung bedürfen. Wir lassen sie nicht im Stich; dazu stehen wir. Dafür haben wir entsprechende Programme aufgelegt und stellen wir Steuergelder in ausreichendem Maße zur Verfügung, sodass der Minister die notwendigen Umsetzungen vornehmen kann.
Wir wollen weiterhin den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Deswegen muss der Kombilohn kommen, damit der Übergang in diesen Arbeitsmarkt gelingt. Er darf aber nicht mehr kosten, als wir momentan für die Arbeitslosigkeit ausgeben. Das ist eine wichtige Bedingung. Angesichts der Art und Weise, wie wir das angehen, bin ich optimistisch, dass wir es schaffen werden. Wir wollen vielen Menschen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen und ihn so weiter beleben; darauf setzen wir. Das ist besser, als am zweiten Arbeitsmarkt herumzudoktern.
Ein Wort zur Bundesagentur für Arbeit. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Spitze der Bundesagentur für Arbeit hervorragende Arbeit geleistet hat, und mich bei Herrn Weise bedanken, der den Mut hatte, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen.
Wir werden die Bundesagentur für Arbeit unterstützen, wenn es darum geht, die Organisationsreform voranzutreiben.
Wir sollten aber darauf achten, dass die künftige Ausgestaltung dieses Verwaltungskörpers nicht zu einer Konzentration in den großen Städten führt. Der ländliche Raum ist genauso geeignet wie die großen Städte. Das sage ich ganz deutlich in Richtung Nürnberg. Daran sollte sich die Organisationsreform orientieren.
Wir wollen das Dickicht der Förderinstrumente lichten. Weniger wird mehr sein.
Auch hier kann man entbürokratisieren.
Das große Risiko für den Haushalt des Bundesarbeitsministers stellt das ALG II dar. Hier handelt es sich um einen Schätzansatz. Die Haushaltspolitiker wissen, dass Schätzansätze schwieriger zu erfassen sind als Investitionsansätze. Wir werden daher nie eine punktgenaue Landung schaffen. Aber wir sind fest entschlossen, durch einen harten Kurs darauf hinzuwirken, dass die in den Haushalt eingestellten Mittel ausreichen.
Herr Minister, Sie haben uns erklärt, dass Sie mehr Stellen brauchen, um mehr Kontrolle auszuüben. Sie haben mir persönlich erklärt, dass Sie keine Stellen frei haben, um diese Aufgabe wahrzunehmen. Wenn dem so ist - es geht hier um 21,4 Milliarden Euro -, dann bekommen Sie als Vizekanzler und Arbeitsminister der großen Koalition aus den Reihen der Haushälter die Zusage von 30 Stellen; das ist ganz klar. Aber Sie tragen dann auch die Verantwortung,
mit diesen Stellen darauf hinzuwirken, dass die festgestellten Auswüchse beseitigt werden, dass mit dem Geld sparsam umgegangen wird und dass alles getan wird, die Haushaltsansätze zu erreichen. Wir statten Sie mit den Instrumenten aus, die notwendig sind, um diese große Aufgabe zu bewältigen. Ich denke, wir sind auf dem Weg, dies in den Griff zu bekommen.
Zur Rente. Wir stehen voll zu einer maßvollen Rentenerhöhung, wenn es gleichzeitig gelingt, eine Schwankungsreserve aufzubauen.
Wir müssen darauf hinwirken, dass die Erhöhung der Beiträge dazu führt, dass eine Schwankungsreserve entsteht. Damit schaffen wir mehr Sicherheit in dem System und bringen die Rente endlich aus der Diskussion. Das muss unbedingt erfolgen.
Wir stehen dazu, dass man dann, wenn man 45 Jahre im Erwerbsleben gestanden hat, eine volle Rente erhalten soll. Das gebietet der Respekt vor einer langen Erwerbsbiografie.
Ich möchte noch etwas zu einem Thema sagen, zu dem sonst nichts gesagt wird, zum Bundessozialgericht. Wir haben darauf hingewirkt, dass das Bundessozialgericht endlich erneuert wird. Auch wenn es sparsam zugehen muss, darf die Rechtspflege nicht zu kurz kommen.
Wir sind dafür, dass dort ein weiterer Senat eingerichtet wird. Es kann nicht sein, dass der Bürger grundsätzlich ein Jahr auf sein Recht warten muss. Es darf auch kürzer sein. Der Bürger gibt genügend Geld für diesen Staat aus. Deshalb muss er wenigstens in absehbarer Zeit zu seinem Recht kommen. Das wird in diesem Haushalt endlich geregelt.
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass es unter Haushältern eine Mehrheit dafür gibt, dass mehr Personal nach Berlin zieht. Der Bundesarbeitsminister hat derzeit 989 Stellen, davon zwei Drittel in Bonn und ein Drittel in Berlin. Es wird an den Haushältern nicht scheitern, wenn man sich hier auf einen neuen Weg begibt. Vielleicht gibt es noch eine Föderalismusreform 1a, in deren Rahmen man so etwas beschließen könnte.
Ich möchte noch ein Letztes ansprechen. Ein neuer Gedanke ist der Investivlohn. Ich möchte die Bundeskanzlerin ausdrücklich auffordern, diesen Gedanken weiter zu entwickeln. Es ist an der Zeit, dass man die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland stärker am Produktivkapital beteiligt. Wir sollten uns auf den Weg machen und gemeinsam nach Lösungen suchen.
Das wird ein wichtiger Beitrag sein, um die soziale Marktwirtschaft weiterzuführen. Wenn dies gelingt, dann haben wir mehr erreicht, als in der Koalitionsvereinbarung zu diesem Thema steht. Auch die Gewerkschaften haben bereits erklärt, dass sie zu Gesprächen bereit sind. Bitte legen Sie Konzepte vor! Wir werden gerne in die Gespräche gehen.
In dem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Anja Hajduk für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das hat nur etwas mit Kombinieren zu tun, Kollege Binding. - Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Etat des Arbeits- und Sozialministeriums von Minister Müntefering beraten wir den größten Etat, der gut 124 Milliarden Euro umfasst. Er ist während der Haushaltsberatungen etwas angewachsen, weil Risiken abgedeckt werden mussten, zum Beispiel die Kosten für die Unterkunft. Es gab ein ziemliches politisches Tauziehen zwischen Bund, Ländern und Kommunen wegen der Frage, wer denn wie viel zu bezahlen habe. Ich will an dieser Stelle für Bündnis 90/Die Grünen sagen: Wir sind bereit, diesen Kompromiss mitzutragen, weil auch wir die finanziellen Nöte der Kommunen kennen. Ich sage Ihnen aber auch: Da ist wieder ein typisch kompliziertes Machwerk entstanden. Das politische Tauziehen prägt das Ergebnis; es ist keine rationale und transparente Lösung. Ich glaube, das ist keine Dauerlösung. Spätestens wenn wir die Hartz-IV-Gesetzgebung evaluiert haben, wird man das noch einmal untersuchen müssen.
Das ist aber keine Kritik an der Höhe des Ansatzes. Ich wollte das nur zur Sache bemerkt haben.
Eine Differenz zwischen uns betrifft die Aufwendungen für das Arbeitslosengeld II. Sie haben dafür 21,4 Milliarden Euro vorgesehen. Die Kollegin Winterstein hat schon sehr plausibel gemacht, dass das weniger als in diesem Jahr ist. Das könnte man noch akzeptieren. Aber dass es so viel weniger ist, ist unplausibel. Ich habe Sie, Herr Müntefering, und die großen Fraktionen so verstanden, dass Sie davon ausgehen, dass für das Arbeitslosengeld II 21,4 Milliarden Euro nicht ausreichen und Sie deshalb 1 Milliarde Euro von den Geldern für die Eingliederungsleistungen dafür zur Verfügung stellen wollen.
Da haben wir eine grundsätzliche Differenz. Denn wir glauben, wenn man letztendlich die Kosten für das Arbeitslosengeld II senken will, dann muss die Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur ausgebaut und gestärkt werden. Es ist kein Erfolg, wenn bei den Eingliederungsleistungen weniger ausgegeben wird. Das zu glauben, ist ein grundsätzlicher Irrtum.
Ich finde, es ist auch eine Täuschung, nur diesen Deckungsvermerk stehen zu lassen. Sie hätten stattdessen ehrlich sagen sollen, auf 5,5 Milliarden Euro abzusenken bei der Hilfe zur Eingliederung und 1 Milliarde Euro - wahrscheinlich braucht man sogar 1,5 Milliarden Euro - beim Arbeitslosengeld II draufzulegen. Dies findet allerdings ausdrücklich nicht unsere Unterstützung. Das möchte ich ganz deutlich sagen.
Unsere Botschaft heißt: Fördern muss endlich in der gebotenen Intensität und Qualität kommen. Wir sind bereit, von den Menschen etwas zu fordern; daher muss die Politik für das Fördern mehr tun. Da setzen Sie leider einen Kontrapunkt.
Ich möchte auch eine zweite Differenz benennen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie einen großen Sparbeitrag für den Haushalt erbringen, indem Sie die Rentenversicherung mit 2 Milliarden Euro belasten, weil Sie die Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher von 78 auf 45 Euro senken. Man kann jetzt sagen: Das ist doch schon alt. - Ja, das stimmt. Wir kennen diese Absicht aus der Koalitionsvereinbarung. Im nächsten Haushalt wird sie als Sparposten wirksam, aber das ist ein Verschiebebahnhof zulasten der Rentenversicherung. Es ist offenkundig: Dass der Rentenbeitragssatz im nächsten Jahr auf 19,9 Prozent steigen muss, hat ursächlich mit genau dieser Entscheidung zu tun. Auch da haben wir eine grundsätzliche Differenz zu Ihrem Politikansatz in diesem Haushalt.
Ich komme jetzt auf das heiß diskutierte Thema Arbeitslosengeld und dessen Bezugsdauer. Ich muss ganz deutlich sagen: Die Politik, die Herr Rüttgers hier betreibt, ist unfair und ungerecht, weil sie Menschen, die eine lange Beschäftigung hatten, gegen Jüngere ausspielt, die mit gebrochenen Erwerbsbiografien kämpfen müssen und in ihrem jüngeren Lebensalter gegebenenfalls auch viel Sicherheit brauchen, weil sie beispielsweise kleine Kinder haben. Diese Staffelung - wer lange eingezahlt hat, soll auch länger Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben - spielt Gruppen gegeneinander aus. Das ist kein gerechter Vorschlag. Ich finde ihn nicht sozial ausgewogen.
Viel schlimmer daran ist aber, mit welcher Bewusstheit Herr Rüttgers perfide argumentiert. Ich erinnere, er hat auch schon einmal ?Kinder statt Inder“ gesagt, das war genauso perfide. Perfide ist, dass er mit den Ängsten von Leuten vor dem sozialen Abstieg spielt und das dann mit einer Gerechtigkeitsphilosophie ummäntelt. Damit richtet er etwas an, von dem ich sage: Er fordert etwas, was nicht der Sozialstaat der Zukunft sein wird. Vielmehr ist das das Sozialstaatsverständnis der Vergangenheit.
Dazu sage ich Ihnen eines, Frau Merkel - vielleicht überraschen Sie uns auch; ich lasse mich gern von Ihnen positiv überraschen -: Sie können an dieser Stelle nicht augenzwinkernd hinnehmen, dass am nächsten Wochenende auf Ihrem Parteitag dieser Antrag beschlossen wird. Die deutsche Bevölkerung kann erwarten, dass eine Kanzlerin Führung zeigt und nicht sagt: In meiner Partei, in der ich Vorsitzende bin, wird etwas beschlossen, was ich dann als Kanzlerin nicht umsetzen werde. - Sie müssten dann auch den Mumm haben, zu sagen: Das, was Rot-Grün unter der Führung von Gerhard Schröder entschieden hat, den Bezug von Arbeitslosengeld auf zwölf bzw. 18 Monate zu begrenzen - 18 Monate sind ja immerhin schon eine Entlastung für die 55-Jährigen und Älteren -, finde ich grundfalsch. - Wenn Sie das nicht akzeptieren, dann stellen Sie sich hier hin und sagen das. Wenn Sie aber im Grunde damit einverstanden sind, dann müssen Sie auf dem Parteitag Führung zeigen und in der CDU dafür werben, dass diese Rüttgers-Perfidie nicht weiter gespielt wird. Denn sie weist nicht in den Sozialstaat der Zukunft, sondern gaukelt den Leuten vermeintliche Sicherheiten vor.
Wir brauchen Aktivierung auch im Alter; wir brauchen keine Frühverrentungsmodelle, wie wir sie früher zugelassen haben.
- Ich freue mich auch über den Beifall aus den Reihen der SPD.
Ich will ganz deutlich sagen: Diese Rüttgers-Politik, dieses Werben um ältere Wähler, seine Art von Gerechtigkeitsphilosophie, die zulasten der Jüngeren geht, passt nicht zu Ihrer Argumentation für die Rente mit 67; sie steht im krassen Widerspruch dazu. Diesen Widerspruch müssen Sie auflösen. Durch das Rüttgers-Gerechtigkeitsmodell werden Anreize zur Schaffung von Vorruhestandsregelungen geschaffen. Von solchen Regelungen müssen wir aber wegkommen, wenn wir Vertrauen dafür schaffen wollen, dass auch Ältere aktiv am Arbeitsleben teilnehmen sollen.
Nur wenn das geschieht, wird die Rente mit 67 kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein Programm, durch das der Lebensstandard in Zukunft stabilisiert wird.
Letzter Punkt. Herr Müntefering, Sie waren hinsichtlich der Rente mit 67 immer sehr taff. Folglich haben Sie keine Kritik von uns erhalten. Als es darum ging, den Post- und Telekommunikationsnachfolgeunternehmen ein Frühverrentungsmodell zu gönnen, haben Sie in diesem Herbst beschlossen: Bis 2010 können die Postnachfolgeunternehmen 15 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den vorzeitigen Ruhestand schicken. Das ist allerdings ein jüngstes Armutszeugnis und ein Widerspruch in Ihrer Politik.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Bundesregierung hat nun Herr Bundesminister Franz Müntefering das Wort.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushalt ist kein Selbstzweck. Durch den Haushalt soll das unterstützt werden, was die Politik sich für das nächste Jahr vornimmt. Vor allen Dingen darüber will ich sprechen. Was nehmen wir uns für das Jahr 2007 vor? Werden die angestrebten Ziele durch den von uns vorgelegten Haushalt unterstützt?
Wir wollen weiter dafür kämpfen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt, dass die Menschen Arbeit haben, dass mehr Menschen in Arbeit sind. Das ist das Ziel Nummer eins im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik.
Wir sind da in diesem Jahr ein ganzes Stück vorangekommen und wir wollen diesen Weg weitergehen. Auch wenn es bereits viele Male gesagt worden ist: Das 25-Milliarden-Euro-Programm, das diese Bundesregierung aufgelegt hat, hilft und es wird im nächsten Jahr fortgeführt. Es ist kein Zufall, dass das Handwerk, die kleinen und mittleren Unternehmen gut ausgelastet sind.
Die Zunahme an Beschäftigung im Verlauf des letzten Jahres erklärt sich in etwa so: Bei den ganz großen Firmen sind - leider - etwa 100 000 Arbeitsplätze verloren gegangen; das war mit manchen Komplikationen verbunden. Bei den kleinen Unternehmen sind 550 000 bis 580 000 neue Arbeitsplätze entstanden. So wird es auch im kommenden Jahr sein. Wir müssen diesen Weg weitergehen. Wir müssen etwas dafür tun, dass die Wettbewerbsfähigkeit und die Investitionsfähigkeit des Handwerks, der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland gestützt werden. Auf diese Art und Weise kann die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland erhöht werden. Das heißt, Menschen, die auf der Straße sind, kommen in Arbeit. Ich wiederhole: Diesen Weg gehen wir auch im nächsten Jahr weiter.
Es gibt 471 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Übrigens sind 101 000 junge Menschen unter 25 weniger arbeitslos. Die Fortsetzung des Ausbildungspakts bleibt ein ganz wichtiger Punkt. Wir werden im Frühjahr ausführlich darüber zu sprechen haben, wie wir dafür sorgen können, dass die Bugwelle bei den jungen Leuten weiter reduziert werden kann. Diese Koalition will in dieser Legislaturperiode erreichen - das ist eine Herausforderung für das Land und für die Politik -, dass diese Bugwelle deutlich kleiner wird. Wir wollen 2009 so weit sein, dass kein junger Mann und keine junge Frau von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit geht. Auch dieses Ziel verbinden wir mit diesem Haushalt.
Beim Arbeitslosengeld I hat es in diesem Jahr eine gute Entwicklung gegeben. Anfang des Jahres lautete die Einschätzung, es werde Überschüsse in Höhe von 1,8 Milliarden Euro geben. Jetzt zeigt sich, es werden voraussichtlich 9,5 bis 9,8 Milliarden Euro sein. Wir haben uns über die Entwicklung in den nächsten Jahren sehr genau informiert. Die Bundesanstalt für Arbeit hat seit 1988 in jedem Jahr Zuschüsse des Bundes bekommen; in diesem Jahr hat sie zum ersten Mal keine erhalten. All diejenigen, die sagen: ?Man muss das Geld zurückgeben“, frage ich: Was ist mit den 40 Milliarden Euro, die wir dieser Einrichtung in den letzten Jahren aus dem Haushalt haben zukommen lassen?
Nun wissen wir verbindlich: Die Bundesagentur wird bis zum Jahr 2010 keinen Zuschuss des Bundes und auch kein Darlehen mehr brauchen. Die Bundesagentur hat den Posten für Eingliederung, also für die aktive Arbeitsmarktpolitik, erhöht. Ich wiederhole: Wir wissen, dass ihr bis 2010 hinreichend Geld für die von ihr zu erfüllenden Aufgaben zur Verfügung stehen wird. Sie wird kein zusätzliches Geld des Bundes brauchen.
Vor diesem Hintergrund haben wir entschieden: Wir senken den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 4,2 Prozent. Das ist verantwortliche Politik. Den Weg werden wir in das nächste Jahr hinein auch so weitergehen und der BA sagen: Macht die Arbeit weiter!
Die BA - das ist eben schon angesprochen worden, ich glaube, von Herrn Fuchtel, von anderen auch - hat sich in den letzten zwei Jahren gut entwickelt. Es war eine ganz komplizierte Sache, eine so große Organisation mit solch einer Tradition, mit hunderttausend Leuten stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts einzustellen. Ich sage: Respekt denen, die da die Arbeit zu verantworten haben. Das heißt nicht, dass man mit allem einverstanden ist. Ich bin dafür, dass wir immer hart messen und kontrollieren: Was läuft da? Das alles kann auch noch besser werden. Aber ich sage deutlich: Die BA ist in einer guten Verfasstheit. Wir wollen weiter gut zusammenarbeiten und dafür sorgen, dass wir den Weg weitergehen können.
Bei den Lohnnebenkosten - das will ich doch noch sagen, weil darüber viel gesprochen wird - erreichen wir im nächsten Jahr, im Jahr 2007, dass der Arbeitgeberanteil unter 20 Prozent sinkt. Wir als Koalition haben immer versprochen: Wir nehmen die 40 Prozent ins Visier. - Wenn man sich den Teil anschaut, der paritätisch finanziert ist, stellt man fest: Man ist unter 20 Prozent für die Arbeitgeber. Das war immer mit dem Ziel ?40 Prozent“ verbunden. Das erreichen wir. Das ist sicherlich ein Pluspunkt. Das muss jetzt aber auch dazu führen, dass das von den Arbeitgebern gewürdigt wird, dass Reaktionen kommen und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Zum Bereich Arbeitslosengeld II/Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist sicherlich der komplizierteste Bereich für die Arbeit des kommenden Jahres. Es ist wahr, dass mehr Menschen Arbeitslosengeld II erhalten. Es ist aber nicht richtig, dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften steigt.
Frau Kollegin Winterstein, Sie haben im Ausschuss eine Information dazu erbeten. Die haben Sie auch bekommen; die haben natürlich alle bekommen. Die hätte man einfach einmal vorlesen sollen. Danach ist es nämlich so, dass von Mai bis Oktober des vergangenen Jahres die Zahl der Bedarfsgemeinschaften um 200 000 gestiegen ist, dass sie von Mai bis Oktober dieses Jahres aber um 300 000 gesunken ist.
Wenn wir beim Arbeitslosengeld II im Augenblick mehr auszahlen, hängt das damit zusammen, dass eine immer größere Zahl von Menschen, die vollzeitbeschäftigt oder teilzeitbeschäftigt sind, ergänzend Arbeitslosengeld II bekommt; inzwischen übrigens auch rund 50 000 Selbstständige. Das ist ein Punkt, den ich hier nicht vertiefen will, über den wir im Augenblick aber sprechen: Kann das eigentlich so sein? Was kann man dagegen tun, dass Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, in die Arbeitsagentur, in die Arge kommen und sagen: ?Jetzt brauchen wir ergänzend Arbeitslosengeld II“? Da stimmt doch offensichtlich mit der Höhe der Löhne, mit der Höhe der Bezahlung etwas nicht.
Deshalb müssen wir an der Stelle in der Koalition für ein Stückchen mehr Klarheit sorgen. Wir sind mitten in der Debatte. Da spielen der Mindestlohn, der tarifliche oder der gesetzliche, und der Kombilohn eine Rolle. Wir müssen uns damit auseinander setzen. Es kann nicht normal sein, dass in einem Land mit einem Wohlstandsniveau, wie wir es haben, eine immer größere Zahl von Menschen von der Arbeit nicht leben kann.
Wer seine Arbeit macht, wer seine Pflicht tut, wer jeden Tag jobben geht, auch wenn er es manchmal vielleicht nicht gern tut, der muss dafür auch so viel Geld bekommen, dass er in der Regel sich und seine Familie davon ernähren kann. Das muss das Ziel in einer mitteleuropäischen Wohlstandsregion wie Deutschland sein; überhaupt keine Frage. Darüber werden wir zu sprechen haben.
Wie viel Geld geben wir aus? Für den Bereich Arbeitsmarkt sind es etwa 42 Milliarden Euro. Es sind 21,4 Milliarden Euro für das eigentliche Arbeitslosengeld II, 10 Milliarden Euro für die Eingliederung, 4,3 Milliarden Euro für den Bereich KdU, 6,5 Milliarden Euro aus der Mehrwertsteuer. Das ist alles Geld, das aus der Bundeskasse dahin fließt.
Nun gebe ich gern zu: Man kann sich lange darüber unterhalten, ob bei den 21,4 Milliarden Euro oder an anderer Stelle etwas erhöht und dafür an anderer Stelle etwas gesenkt werden müsste. Ich verspreche hier nur: Wir werden mit diesem Geld im Jahr 2007 auskommen. Es wird darauf ankommen, im Laufe des Jahres die Instrumente so einzusetzen, dass dies erreicht wird. Es gibt dazu einige Diskussionen, die wir zu Ergebnissen führen werden.
Im Übrigen ist es auch in diesem Jahr schon so gelaufen. Wir haben einen Teil des Eingliederungstitels genommen und für die Zahlung von Arbeitslosengeld II eingesetzt. Das ist von Ihnen, Frau Hajduk, kritisiert worden. Aber ich sage Ihnen: Auch in diesem Jahr werden die Argen und die zkTs wieder unter dem Betrag bleiben, sodass etwas übrig bleiben wird.
Man muss realistisch sein: Im vergangenen Jahr standen 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung; davon wurden 3,5 Milliarden Euro ausgegeben. - In diesem Jahr stehen etwa 5,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Ich sage Ihnen voraus: Davon wird etwas übrig bleiben, und zwar in erheblichem Ausmaß.
Sie können mich natürlich kritisieren; das hat Frau Winterstein ja auch getan. Im Verlauf des Jahres werden wir dann sehen, wo wir die Ausgaben zu hoch und wo wir sie zu niedrig angesetzt haben. Jedenfalls werden wir das Geld, das uns in diesem Haushalt dafür zur Verfügung steht, vernünftig einsetzen. Zugleich werden wir die Ansätze einhalten und an der Stelle nicht mehr ausgeben.
Lassen Sie mich ein paar Worte zum Bereich der Alterssicherung sagen: In den nächsten Tagen und Wochen werden wir darüber noch ausführlicher zu diskutieren haben. Wir machen hier drei Maßnahmen parallel:
Der Gesetzentwurf zur Rente mit 67 wird jetzt in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. In den nächsten Wochen und Monaten wird in diesem Hohen Haus über all die Konsequenzen, die damit verbunden sind, zu sprechen sein. Im Jahre 2029 - so weit planen wir - wird das Zeitfenster für den Renteneintritt zwischen 63 und 67 Jahren liegen; jetzt liegt es zwischen 60 und 65 Jahren. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in unserer Gesellschaft, nachdem im Jahre 1960 noch durchschnittlich zehn Jahre lang Rente gezahlt wurde, nun mittlerweile 17 Jahre lang Rente gezahlt wird und es im Jahre 2030 durchschnittlich 20 Jahre sein würden, kann man, wie ich glaube, eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters verantworten. Wir begleiten dies aber durch zwei weitere Maßnahmen.
Eine dieser Maßnahmen ist die Initiative ?50 plus“. Mittlerweile haben wir 80 000 ältere Arbeitslose weniger als noch vor einem Jahr. Das ist kein schlechtes Resultat. Wir werden mithilfe von Kombilöhnen, Eingliederungszuschüssen und Weiterbildungsangeboten versuchen, dafür zu sorgen, dass sich die Situation für ältere Arbeitslose weiterhin so positiv entwickelt. Die Menschen sollen nicht mehr mit 50, 55 oder 58 Jahren aus dem Arbeitsleben verdrängt werden, sondern sie sollen eine echte Chance auf Arbeit haben. So beantworten wir die Frage der Konsequenzen eines höheren Renteneintrittsalters für ältere Menschen. Wir wollen, dass diese ihre Arbeit behalten oder wieder Arbeit finden.
Dafür investieren wir das Geld. Das ist ein vernünftiger Weg für die Zukunft.
Ergänzend stoßen wir eine Debatte über die Altersvorsorge an. Die gesetzliche Rente bleibt zwar das Kernstück der Alterssicherung, aber sie muss ergänzt werden um eine private Vorsorge in Form von betrieblicher Altersvorsorge, Riesterrente oder Rüruprente. Etwa 20 Millionen Menschen nehmen schon in unterschiedlichster Weise diese Systeme wahr, aber diese Art der Vorsorge muss zu einer Selbstverständlichkeit in Deutschland werden. Die ganze Debatte über die Beteiligung der Arbeitnehmer an Gewinn und Kapital muss auf die Forderung konzentriert werden: Organisiert eine vernünftige Altersvorsorge und fangt damit rechtzeitig an!
Wir haben dafür gesorgt, dass Insolvenzsicherheit gegeben ist. Keiner, der in das System einer Betriebsrente einzahlt, muss Angst haben, dass seine Ansprüche verloren gehen, sollte der Betrieb Pleite gehen. Auch die Portabilität ist gegeben; das heißt, die Ansprüche können mitgenommen werden.
Es muss zu einer Selbstverständlichkeit für die junge Generation in Deutschland werden, dass jemand, sobald er eine Beschäftigung aufnimmt, neben der gesetzlichen Rente in ein Altersvorsorgesystem einzahlt. Wir unterstützen staatlicherseits die Menschen in dem Maße, in dem es uns möglich ist, diesen Weg zu gehen, und machen da eine ganze Menge. So wollen wir Familien mit heranwachsenden Kindern durch Verbesserungen bei der Riesterrente noch stärker unterstützen. Es ist eine gute Idee für die Altersvorsorge, den Kinderzuschlag für diejenigen, die in die Riesterrente einzahlen und heranwachsende Kinder haben, noch zu erhöhen. Das ist eine familienpolitisch vernünftige Maßnahme, die zugleich auch der Altersvorsorge dient. Außerdem wollen wir die Riesterrente um eine Wohneigentums- bzw. Wohnrechtskomponente ergänzen. Das heißt, ein Teil des Geldes, das man ansparen will, soll dafür eingesetzt werden können, dass man eine Wohnung kauft oder Wohnrecht erwirbt, um im Alter günstige Wohnbedingungen zu haben.
Wer also neben der gesetzlichen Rente auf betriebliche Altersvorsorge, Riester- oder Rüruprente setzt, der kann davon ausgehen, dass er gute Voraussetzungen schafft, um auch im Alter finanziell gut ausgestattet zu sein. Gerade die junge Generation erwartet, dass dafür gesorgt wird.
Zwei letzte Punkte zu Europa. Wir werden 2007 die EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr und die G-8-Präsidentschaft für das ganze Jahr haben. Die Erwartungen an Deutschland sind groß. Deshalb dürfen unsere Anforderungen an uns selbst nicht zu schmal bleiben. Wir werden auch die Idee des Sozialmodells Europa forcieren. Das beinhaltet vor allen Dingen die Idee der guten Arbeit. Wir wollen in unserem Land, aber auch in Europa und darüber hinaus für alles werben, was mit Arbeitsschutz, altersgerechter Arbeit, Arbeitsrecht, der Möglichkeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sich als Vertreter ihrer Interessen vernünftig zu treffen und gemeinsam gute Politik zu machen, wie wir das von der Tarifpolitik in Deutschland kennen, sowie mit existenzsichernden Löhnen zusammenhängt. Das wollen wir zum Gegenstand der Debatte machen. Das ist in Europa und auch für uns ein wichtiges Thema. Wir sind weit hinter dem zurück, was in anderen Ländern Beschlusslage zu tariflichen und gesetzlichen Mindestlöhnen ist.
Wir werden in Europa auch - das ist der letzte Punkt - über Chancengleichheit zu sprechen haben, vor allem deshalb, weil Deutschland, was die Chancen der jungen Frauengeneration angeht, weit hinter dem zurückliegt, was in anderen Ländern in Europa üblich ist. Wir brauchen die Kreativität und Fähigkeiten dieser Frauengeneration - auch aus volkswirtschaftlichen Gründen. Aber vor allem wollen wir im Interesse des Rechts jedes einzelnen Menschen, am Arbeitsmarkt und im Beruf erfolgreich zu sein, handeln. Deshalb bleibt die Idee der Chancengleichheit im nächsten Jahr in Europa auch unter dem Gesichtspunkt von Arbeit und Sozialpolitik ganz wichtig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist nun der Herr Kollege Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Müntefering hat den Vorschlag gemacht, dass wir uns auf das konzentrieren, was, auch durch den Haushalt unterstützt, im nächsten Jahr geschehen soll. Ich bin gern bereit, Ihrem Vorschlag zu folgen, will den Blick aber gleichwohl noch einmal auf die Entwicklung in diesem Jahr lenken; denn, Herr Minister Müntefering, auch wenn sich die Stimmung am Arbeitsmarkt etwas aufgehellt hat, warne ich davor, in Euphorie zu verfallen. Das haben Sie hier nicht getan, aber einige Kollegen von der Koalition neigen dazu. Dazu besteht jedoch wirklich kein Anlass.
Ich will das konkret belegen und beziehe mich dabei auf die jahresdurchschnittlichen Zahlen des Sachverständigenrates in seinem aktuellen Gutachten. Die besonders Interessierten können das gerne auf Seite 358 nachvollziehen.
Nach den Zahlen des Sachverständigenrates ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen in 2006 um 329 000 zurückgegangen. Das ist uneingeschränkt erfreulich; Frau Kollegin Lehn, da stimme ich Ihnen zu.
Nun könnte man denken, der Abbau von Arbeitslosigkeit und der Aufbau von Beschäftigung seien kommunizierende Röhren, wenn die Arbeitslosigkeit zurückgehe, müsse sich auch bei der Erwerbstätigkeit, bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung eine entsprechende Bewegung ergeben. Aber weit gefehlt; dem ist keineswegs so. Darüber, Herr Minister Müntefering, sollten Sie zumindest einmal nachdenken. Auch ist es lohnend, nach den Ursachen zu forschen.
Zwar steigt die Zahl der Erwerbstätigen bei einem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um 329 000 immerhin noch um 220 000 an; darin ist jedoch die Zunahme der Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten in der Größenordnung von circa 90 000 enthalten. Viel beunruhigender finde ich aber, Herr Minister, dass der Zuwachs der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, also der Basis der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme, in 2006 jahresdurchschnittlich gerade einmal 90 000 beträgt. Ein Zuwachs um 90 000, nachdem wir in den Jahren 2003, 2004 und 2005 in der Summe 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren haben! Herr Minister, das ist - bei aller Freude über die Trendumkehr - eine immer noch ausgesprochen magere arbeitsmarktpolitische Bilanz eines Jahres,
in dem wir rund 2,3 bis 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum hatten, also eine unerwartet günstige Entwicklung. Deswegen gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit und auch keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen.
Dies gilt umso mehr, als abzusehen ist, dass wir das Wirtschaftswachstum des Jahres 2006 im kommenden Jahr nicht erreichen werden. Der Sachverständige Professor Gustav Horn - er gehörte bis vor kurzem dem DIW an; er ist dort nicht mehr, weil er anscheinend mit unliebsamen Kommentaren aufgefallen ist - hat in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Beginn dieser Woche als Einzelsachverständiger der Koalition darauf hingewiesen, dass der negative Impuls, der sich aus der saldierten Wirkung von Mehrwertsteuererhöhung und Veränderung der Beitragssätze in der Sozialversicherung ergibt, zu einem Wachstumsverlust von über 1 Prozent des Inlandsproduktes führt. Das Wachstum, das er bei einer ungestörten konjunkturellen Entwicklung auch im nächsten Jahr bei 2,5 Prozent plus x gesehen hätte, landet aber im nächsten Jahr bei 1,5 Prozent minus x.
Professor Horn sagte weiter: Wenn wir im kommenden Jahr eine Wachstumsentwicklung von 1,5 Prozent minus x haben, heißt das, dass wir unter die Beschäftigungsschwelle sinken werden. Er weist weiter darauf hin, dass sich die positive Beschäftigungsentwicklung insbesondere bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen im Verlauf des nächsten Jahres wieder umkehren wird und dass als Folge neue Belastungen der Sozialversicherungen entstehen würden. Das, Herr Minister Müntefering, müssen Sie sich für das nächste Jahr ins Stammbuch schreiben lassen.
- Eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß lasse ich gerne zu, Frau Präsidentin.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dann Herr Kollege Weiß, bitte sehr.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Kolb, bei Ihren Ausführungen, die Sie soeben gemacht haben, habe ich mich gefragt, ob die von Frau Kollegin Lehn erwähnte Tante Käthe vielleicht in Ihrer Person gerade am Rednerpult steht.
Zahlenspiele hin oder her: Das bemerkenswerte Faktum am deutschen Arbeitsmarkt ist doch, dass in Deutschland seit dem Jahr 2001 bis in dieses Jahr hinein Jahr für Jahr und Monat für Monat ein Verlust an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu beobachten war. Aber in diesem Jahr gibt es zum ersten Mal eine Trendumkehr. Es ist richtig, dass dieser Prozess langsam verläuft. Aber es geht mit der Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen stetig aufwärts; mehr Menschen zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Ich finde, diese bemerkenswerte Trendumkehr ist eine gute Botschaft. Das sollte auch einmal die FDP anerkennen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Weiß, ich bedanke mich ausdrücklich für die Frage nach Tante Käthe. Ich weiß allerdings nicht, ob ihr Bruder Heinrich hieß. Vielleicht ist Tante Käthe in ihren jungen Jahren - das sollte man vielleicht einmal in Erwägung ziehen, Frau Kollegin Lehn - Seglerin gewesen. Jeder Segler ist gut beraten, den Himmel auch dann nach heranziehenden Gewitterfronten zu beobachten, wenn eitel Sonnenschein herrscht.
Herr Weiß, ich möchte von folgendem Vorkommnis berichten: Bei einem Sommerfest des HDE vor zwei oder drei Jahren, das in Berlin in der Straße Am Weidendamm stattfand, herrschte drückende Hitze bei strahlend blauem Himmel. Aber von fern zog ein schwarzer Streifen am Horizont heran. Zunächst passierte nichts; es fiel erst einmal kein Regentropfen. Die Mehrzahl der Gäste blieb gelassen. Aber die Segler unter den Gästen ahnten schon, was da kommen würde. Die Front zog über den Ort des Sommerfestes und dann brach es schlagartig herein. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Spanferkel durch die Luft fliegen sehen. - Sie müssen sich also schon den Ratschlag gefallen lassen, dass es, wenn man Naturgewalten ausgesetzt ist, notwendig ist, Blicke immer wieder gen Himmel zu richten.
Nun zum zweiten Teil Ihrer Frage. Es ist eine Trendumkehr, die allerdings erst im zweiten Quartal eingesetzt hat. Es ist saisonal durchaus nicht unüblich, dass es in den Sommer- und Herbstmonaten eine erfreuliche Entwicklung gibt. Deswegen habe ich bewusst die durchschnittlichen Jahreszahlen genannt. Aber angesichts der Tatsache, dass in den letzten drei Jahren, also in den Jahren 2003, 2004 und 2005, 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gingen, kann ein Zuwachs von 90 000 wahrlich kein Anlass sein, Entwarnung zu geben.
Es beunruhigt uns schon, dass Sie jetzt dazu neigen, die Hände in den Schoß zu legen,
nach dem Motto, es gebe keinen Handlungsbedarf mehr, alles sei auf einem guten Wege. Ich sehe diese Gefahr; das will ich gleich anhand von Beispielen erläutern. - Die Frage ist damit, denke ich, beantwortet.
Zunächst will ich aber auf ein Faktum hinweisen, das wir auch nicht vernachlässigen dürfen: Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zeigt, Herr Kollege Weiß, dass es einen - leider intakten - Trend zum Rückgang der Vollzeitbeschäftigung bei einem gleichzeitigen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung gibt. Darin sind die Minijobs nicht eingeschlossen. Man kann es auch deutlicher formulieren: Ein nicht unwesentlicher Teil des Anstiegs der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung resultiert daraus, dass Vollzeitbeschäftigung durch Teilzeitbeschäftigung ersetzt wird. Das Arbeitsvolumen bleibt aber laut Sachverständigenrat, Herr Minister Müntefering, trotz Wirtschaftsaufschwungs in 2006 nahezu unverändert bei knapp 57 Millionen Arbeitsstunden. Das ist ein entscheidender Punkt, den wir im Auge behalten müssen.
Warum sage ich das hier? Weil diese Entwicklung dazu führt, dass trotz eines vergleichsweise kräftigen Wachstums in diesem Jahr die Entwicklung der Einnahmen der Sozialversicherung, bereinigt um die Wirkung des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge, sehr bescheiden bleibt. Ich will das am Beispiel der Rentenversicherung erläutern. Dort sind die Beiträge, wenn man die Mehreinnahmen aus dem 13. Monatsbeitrag in Höhe von 10,5 Milliarden Euro herausrechnet, bei einem Gesamtvolumen von 154 Milliarden Euro gerade einmal um 770 Millionen Euro gestiegen. Das ist ein Plus von 0,5 Prozent bei einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent. Das ist nicht gerade berauschend, wie Sie mir sicherlich zustimmen werden. In den anderen Zweigen der Sozialversicherung sieht es ähnlich aus.
Anders ausgedrückt: Die Entspannung in den Kassen der Sozialversicherung, die Sie glauben feststellen zu können, ist fast gänzlich auf den Effekt des 13. Monatsbeitrags zurückzuführen. Ihr Plan war, den mittelständischen Unternehmen in unserem Lande 20 Milliarden Euro aus den Taschen zu ziehen. Am Ende sind es 22 Milliarden Euro geworden, 10 Prozent mehr. Das ist ein Geldsegen, der Sie zwar erfreuen mag, der aber die Wirtschaft in unserem Lande belastet. Das dürfen Sie bitte schön den Menschen in unserem Lande nicht ernsthaft als einen Erfolg Ihrer Arbeit verkaufen.
Der Sachverständigenrat hat Recht, wenn er ausdrücklich ermahnt, die erfreuliche Belebung auf dem Arbeitsmarkt dürfe nicht zu einem Erlahmen der Reformanstrengungen führen. Aber genau das zeichnet sich ab. Änderungen beim Kündigungsschutz bekommen Sie nicht zustande. Dabei muss es Sie, Herr Minister Müntefering, doch nachdenklich stimmen, dass die größte Bewegung auf dem Arbeitsmarkt bei den Minijobs - ich habe es schon gesagt, es ist in 2006 ein Plus von 90 000 festzustellen - und der Zeitarbeit - hier ist in 2005 ein Plus von 60 000 und in 2006 ein wohl noch höheres festzustellen - stattfindet. Der Mittelstand, den Sie nicht müde werden als Jobmotor zu loben, würde gerne mehr Beschäftigte dauerhaft in den eigenen Unternehmen einstellen. Aber Sie verhindern das, weil Sie sich hinter ideologischen Kopfbrettern verstecken. Insbesondere für die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen ist es wichtig, dass es zu Veränderungen beim Kündigungsschutz kommt. Wann kapieren Sie endlich, dass das, was Arbeitsplatzbesitzern nützt, denjenigen schadet, die gerne auf den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren würden?
Ich finde es unsäglich, wenn jetzt der Wirtschaftsminister nach dem Muster eines türkischen Basars antritt: Ich stimme beim Mindestlohn zu, wenn ihr beim Kündigungsschutzgesetz etwas tut. - Wo leben wir eigentlich? Wenn der Kündigungsschutz ein Problem ist - ich bin davon überzeugt -, dann muss diese Regierung ohne Kompensationsgeschäfte handeln. Das ist ein Auftrag, den die große Koalition zu erledigen hat.
Zum Schluss möchte ich feststellen, dass Sie, Herr Minister, dabei sind, einen Paradigmenwechsel bei den Lohnnebenkosten zu vollziehen. Im Koalitionsvertrag las sich das noch recht klar:
CDU, CSU und SPD stellen sicher, dass die Lohnzusatzkosten (Sozialversicherungsbeiträge) dauerhaft unter 40 % gesenkt werden.
Sie werden am Ende dieses Jahres aber immer noch bei 42 Prozent und in 2007 bei 40,6 Prozent liegen, weil Sie bestehende Spielräume zur Absenkung der Gesamtbelastung nicht genutzt haben. Jetzt deuten Sie das Ganze um, indem Sie sagen, das beziehe sich auf den Arbeitgeberanteil von 20 Prozent. Davon war im Koalitionsvertrag keine Rede. Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie hier ähnlich handeln wie bei der Gesundheitsreform, bei der Sie argumentieren: Es wird erstmals nicht zu einer Belastung der Kranken kommen. - Es mag ja sein, dass Sie die Zuzahlungen nicht erhöhen und die Leistungen nicht kürzen. Aber am Ende erhöhen Sie die Beiträge massiv. Das, was Sie hier betreiben, ist eine Form der Volksverdummung. Die Menschen in unserem Lande haben dies längst durchschaut. Dies ist eine Ursache dafür, dass Sie in den Umfragewerten deutlich zurückfallen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie die rhetorischen Tricks, machen Sie sich lieber an die Arbeit! Es gibt viel zu tun: beim Kündigungsschutz, beim Tarifvertragsgesetz und bei der Generalrevision des SGB II. Fangen Sie endlich an! Der schöne Sommer und der schöne Herbst 2006 sind vorbei. Es könnte sein - denken Sie an Tante Käthe -, dass Sie sich dann sehr warm anziehen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort die Kollegin Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist schon viel zu den Schwerpunkten des Einzelplans für Arbeit und Soziales gesagt worden. Zu den richtigen Ansätzen lässt sich sehr viel sagen; zu den vermeintlich falschen Ansätzen wird versucht, vieles zu sagen. Die FDP wird gar nicht müde, immer wieder alle ihre Bedenken vorzutragen. Ich kann mich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass die FDP, wenn sie an der Koalition beteiligt wäre, ganz anders reden würde.
Ich erinnere mich nämlich, dass sie kleine Erfolge gut anerkennen und verkaufen konnte.
Ich will die Geschichte, die sich heute offensichtlich durch die Debatte zieht - angefangen bei Tante Käthe; jetzt sind wir bei den Seglern -, gerne erweitern. Herr Kolb, Sie haben Pech gehabt. Es gibt nämlich noch weitere Aspekte beim Segeln. Ich weiß das, da ich selber segle. Es ist nicht nur so, dass wir den Himmel aufmerksam danach beobachten, ob Unwetter aufziehen, um rechtzeitig die Segel einzuziehen und das Unwetter abzuwettern. Darüber hinaus beobachten wir auch sehr genau, wann Wind aufkommt. Dann setzen wir die Segel, nehmen volle Fahrt auf und nutzen den Wind und jede Gutwetterlage, um voranzukommen und Strecke zu machen. Genau das tun auch die Regierung und die Koalition. Auf diesem Kurs wollen wir mit voller Fahrt weitersegeln.
Zurück zum Haushalt des Arbeits- und Sozialministeriums. Es handelt sich hierbei um den größten Einzeletat des Bundeshaushalts. Wir geben gewaltige Milliardenbeträge für die Sozialpolitik aus. Wir wissen, dass die Beitrags- und Steuerzahler diese Beträge finanzieren; wir stehen diesen Menschen gegenüber deshalb in besonderer Verantwortung.
Es ist erfreulich, dass wir nach einem Jahr großer Koalition unseren Mitbürgern erste sichtbare Erfolge vermelden können. Die Konjunktur läuft gut; das kann man gar nicht oft genug sagen. Es gibt berechtigte Hoffnungen, dass dieser Trend auch 2007 anhalten wird. Die gute Konjunktur im Zusammenspiel mit den von der großen Koalition in Angriff genommenen Maßnahmen hat sich positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt. Ich verstehe, dass Sie das immer wieder kleinreden wollen, aber die Fakten sprechen nun einmal eine eindeutige Sprache.
Die Koalition ist die schwierigen Aufgaben im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik beherzt angegangen und hat bereits eine ganze Reihe von in der Koalitionsvereinbarung vorgesehenen Maßnahmen umgesetzt. Wir sind gut im Plan, werden uns aber natürlich nicht auf den ersten Erfolgen ausruhen, sondern auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranschreiten.
Obwohl die Zahl der Arbeitslosen erfreulicherweise abnimmt und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die der offenen Stellen - das ist ebenso erfreulich - zunimmt, erleben wir im direkten Gespräch in unseren Wahlkreisen, dass ein Großteil der Menschen von Zukunftsängsten geplagt wird. Statt Zuversicht und Optimismus, zu denen die guten Daten Anlass gäben, wachsen Ängste vor Arbeitslosigkeit und in Arbeitslosigkeit. Angst vor Armut, Ausgrenzung, Krankheit und schlechter gesundheitlicher Versorgung werden einerseits in unverantwortlicher Weise geschürt, andererseits aber auch real empfunden. Die Angst, als Versager abgestempelt zu werden - auch von der eigenen Familie - und die gesellschaftliche Anerkennung zu verlieren, lähmen eigene Kräfte. Berichte über diejenigen, die sich jeder Verantwortung entziehen, die keine Bemühungen erkennen lassen, Arbeitsangebote anzunehmen und einzig Aktivitäten entwickeln, wenn es darum geht, den Sozialstaat abzuzocken, verstärken die Ängste, weil wir den Druck auf diese erhöhen müssen und das auch tun werden.
Trotz gewaltiger finanzieller Anstrengungen wird unsere Politik von denen, die sie betrifft, immer häufiger als unsozial empfunden, während die anderen, die diese Leistungen mit ihren Steuern und Abgaben erst ermöglichen, unter der immer größeren Last stöhnen. Sprüche wie ?Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher“ oder ?Kalter Neokapitalismus gegen soziale Hängematte“ verschärfen die gesellschaftlichen Konflikte und befördern soziale Abgrenzungen und Ausgrenzungen.
Ich habe die Sorge, dass uns Verallgemeinerungen und Vorurteile die Menschen, für die wir Politik machen, immer mehr aus dem Blick geraten lassen. In dem Bemühen, Entscheidungen nachweisbar zielgenau und damit gerecht zu gestalten, stellen wir immer mehr Vorschriften und Regelungen auf, die uns den Wald vor lauter Bäumen bzw. die Menschen vor lauter Bürokratie nicht mehr sehen lassen. Deswegen will ich diese Debatte nutzen, um den Blick deutlicher auf diejenigen zu richten, die von Arbeitslosigkeit und damit von Arbeitsmarktpolitik betroffen sind.
Bis heute ist es uns nicht wirklich gelungen, allen die Sinnhaftigkeit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, die Idee des Förderns und Forderns, als Chance zu vermitteln. An den geschaffenen Strukturen kann es eigentlich nicht liegen. Sie ermöglichen Sicherheit und materielles Auskommen, nicht üppig, wenn ich an den allein stehenden ALG-II-Empfänger denke, aber gut auskömmlich, zum Beispiel für Familien. Eine Familie mit drei Kindern erhält zum Beispiel 1 660 Euro netto plus Krankenversicherung, ohne Zuschlag und Erziehungs- bzw. Elterngeld. Das will mit einem Vollzeitjob erst einmal verdient werden.
Meine Sorge gilt daher weniger einer möglichen Unterversorgung. Ich frage mich vielmehr, wie wir die Menschen zu mehr Eigeninitiative ermutigen und sie aus freiwilliger oder unfreiwilliger Isolation herausbringen können. Menschen wollen arbeiten. Deshalb kann es nicht darum gehen, Arbeitslose immer besser zu verwalten. Wir sind viel zu lange davon ausgegangen, dass mehr Geld, das heißt eine bessere Versorgung, die beste Antwort ist; damit haben wir den Begriff des Sozialen verknüpft. Das verkauft sich natürlich leichter. Ist den Menschen aber wirklich geholfen, wenn wir die Versorgung über das Eigentliche, über die Vermittlung in Arbeit, stellen? Jeder hat doch den Wunsch, nützlich zu sein - jedenfalls fast jeder.
Das vorrangige Ziel muss also weiterhin sein, Menschen Arbeit zu geben. Wer Arbeit hat, steht mitten in der Gesellschaft, gehört dazu. Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen; das ist eine Binsenweisheit. Mit guten Rahmenbedingungen und einer wachstumsorientierten Politik kann sie aber sehr wohl die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Unternehmen erfolgreich am Markt behaupten und Arbeitskräfte einstellen. Wir müssen sicherlich noch eine ganze Menge verbessern, damit das geschieht und damit Unternehmen und Arbeitssuchende noch besser zueinander finden. Wir sind dabei.
In der Arbeitsmarktpolitik müssen wir aber auch dafür sorgen, dass diejenigen, die es schwerer haben als andere, eine Chance bekommen. Das gilt zum Beispiel für ältere Menschen, die nach wie vor viel zu früh aus dem Erwerbsleben verdrängt werden, sowie für junge Menschen oder für Menschen mit Handicaps, die häufig gar keine Chance haben, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Mit der Initiative ?50 plus“ oder mit Kombilohnmodellen für unter 25-Jährige können wir diejenigen unterstützen, die bereit sind, sich fortzubilden, neue Aufgaben zu übernehmen, gegebenenfalls auch zu schlechteren Konditionen zu arbeiten.
Wir müssen darauf achten, dass das in der Bevölkerung tief verankerte Prinzip, dass sich Leistung lohnen muss, im Handeln der Politik seinen Ausdruck findet. Anreize müssen so gesetzt sein, dass die Arbeit vor der Transferleistung steht.
Dieses Prinzip liegt unzweifelhaft dem Leitgedanken von Hartz IV, dem Fördern und Fordern, zugrunde. Bereits Ludwig Erhard hat vor dem Wahn des Überversorgungsstaates gewarnt. Auf Hartz IV übertragen, bedeutet das, dass der Staat zwar die Aufgabe hat, das Existenzminimum zu sichern, seine Transferleistungen aber so ausgestalten muss, dass sie nicht kontraproduktiv wirken.
Unzweifelhaft wirkt Hartz IV individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die nach langen Jahren der Berufstätigkeit unverschuldet arbeitslos werden und vor der Situation stehen, ihr Vermögen einsetzen zu müssen, bevor sie staatliche Transferleistungen erhalten.
Wenn wir dies zu Recht im Interesse derjenigen erwarten, die mit ihren Steuergeldern diese staatlichen Leistungen finanzieren, dann müssen wir aber auch darauf achten, dass keine Situationen eintreten, in denen der Verbleib in der Transferleistung aus Sicht des Betroffenen die ökonomisch sinnvollste Lösung ist, weil er auf dem Arbeitsmarkt kein vergleichbares Einkommen erzielen kann.
Was ist aber nun mit denjenigen, die sich verzweifelt um Arbeit bemühen und keine bekommen? Sind sie Versager? Werden sie tatsächlich ausgegrenzt und sind weniger wert? Ich finde, ihnen muss unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Ihretwegen müssen wir über die unterschiedlichen Formen von Arbeit reden, um ihnen - auch in anderen Arbeitsfeldern - Perspektiven zu geben.
An erster Stelle steht natürlich immer die Erwerbsarbeit, die mit Lohn oder Gehalt entgolten wird und deshalb einen klar messbaren Gegenwert hat. Es gibt aber auch wichtige Aufgaben in der Gesellschaft und für die Gemeinschaft, die ehrenamtlich erfüllt werden, deren Gegenwert - zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit - die Grundversorgung sein kann, auf jeden Fall aber Anerkennung und menschliche Nähe. Außerdem denke ich - wie sollte es anders sein - an die Familienarbeit, nicht nur in der jungen Familie, sondern gerade auch in der Fürsorge für diejenigen, die nicht mehr so gut für sich selber sorgen können. Jede Art von Arbeit ist ein wichtiger Beitrag für unsere Gemeinschaft. Jede Arbeit kann Menschen Lebensmut, ein besseres Selbstwertgefühl, Selbstbestätigung und damit Lebenssinn geben.
Ich denke, wir müssen viel mehr darüber reden, dass Arbeit in allen Bereichen Freude macht und gegenseitige Anerkennung verdient, ob bezahlte oder unbezahlte, ob im so genannten 1-Euro-Job oder einem, der der Ergänzung durch Transferleistungen bedarf.
Vielleicht sollten wir auch einmal kritisch über unsere Wortwahl nachdenken. Wenn wir zum Beispiel von zumutbarer Arbeit sprechen, vermittelt das den Eindruck, Arbeit sei eine Zumutung.
Menschen erfahren Anerkennung in der Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz genauso wie durch gemeinnützige Arbeit. Eines ist allen gemeinsam: Sie erfahren Anerkennung durch Menschen. Damit das gelingen kann, bedarf es einiger Voraussetzungen. Ich freue mich deshalb, dass sich die Koalition und die Bundesregierung ihrer Verantwortung bewusst sind und die Menschen in ihren Lebenszusammenhängen in den Blick nehmen.
Wir fordern den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Wir stärken die Familien und trauen Menschen etwas zu. Wir haben Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Die Vermittlung von Lebenskompetenzen und die Eröffnung von Bildungschancen für alle Altersgruppen sind uns ebenso wichtig wie die Stärkung des Bewusstseins ethischer Verantwortung von Führungseliten.
Unser Ziel muss es sein, die Leistung des Einzelnen und die Erfahrung gemeinsamer Leistung als Freude zu vermitteln. Es ist nicht einzusehen, warum wir die Begeisterung und Freude über die Fußballweltmeisterschaft nicht in eine gemeinsame, fröhliche Kraftanstrengung für unser Land verwandeln können. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Segeln wir los!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wo viel Licht ist, da ist auch Schatten. Wer hier nur über eitel Sonnenschein berichtet, der zeigt, dass leider immer noch gilt, was Brecht einst schrieb:
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Wie man mit 345 Euro über die Runden kommen soll, können sicherlich nur die wenigsten von uns nachempfinden.
Stellen Sie sich vor, Sie müssen zum Zahnarzt und eine neue Zahnfüllung ist notwendig. Die gibt es heute nicht zum Nulltarif. Für uns wäre eine solche Behandlung sicherlich nicht angenehm, aber zumindest finanziell kein Problem. Für Arbeitslosengeld-II-Bezieher hingegen ist eine solche Zahnbehandlung ein enormes finanzielles Problem. Versuchen Sie einmal, von monatlich 345 Euro die entsprechende Summe beiseite zu legen. Die Erwerbslose Anja F. zum Beispiel konnte sich die notwendige Zahnbehandlung nur leisten, indem sie wochenlang extrem beim Essen sparte und eigentlich nur von Brot und Butter lebte.
Die Probleme, die mit einem Leben in Armut verbunden sind, sind vielfältig. Ich nenne ein weiteres Beispiel. Vor mehreren Wochen berichtete mir die 23-jährige Kati K. aus Chemnitz von folgendem Problem: Nach ihrer Ausbildung hat sie sich ein ums andere Mal beworben. Da sie aber keinen Führerschein hat, wollte sie niemand einstellen. Nun befindet sie sich in einem Teufelskreis: ohne Führerschein keine Arbeit, ohne Arbeit aber kein Geld und ohne Geld kein Führerschein. Sie fragte mich: Wie soll ich aus diesem Teufelskreis herauskommen? Meine Damen und Herren, was antwortet man einer jungen Frau, die in dieser Situation ist?
Solche und ähnliche Fälle kennt sicherlich jeder von uns aus dem eigenen Wahlkreis. Ich glaube, der Umgang damit fällt niemandem richtig leicht. Aber ich frage mich: Wie kompliziert muss diese Situation insbesondere für Sie sein? Denn Sie müssen den Leuten erklären, dass Ihrer Meinung nach 345 Euro im Monat ausreichend sind. Sie müssen den Leuten erklären, warum Sie immer wieder gegen eine Erhöhung der Regelsätze stimmen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Sie sich dabei gut fühlen. Auch kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die vielen Betroffenen, von denen Sie in Ihrem Wahlkreis erfahren, in dem Moment vergessen, in dem Sie durch die Pforte des Bundestages gehen.
Deswegen appelliere ich an Sie: Stellen wir heute genug Geld in den Haushalt ein, um eine Erhöhung der Regelsätze auf mindestens 420 Euro zu ermöglichen!
Wie Sie wissen, bin ich der Überzeugung: Das, was wir eigentlich brauchen, ist eine soziale Grundsicherung, die jedem Menschen ein Leben jenseits von Armut ermöglicht. 420 Euro sind wirklich das Mindeste, was ein Mensch im Monat braucht.
Einige von Ihnen werden einwenden, unsere Forderung sei erstens populistisch und zweitens nicht finanzierbar. Den Vorwurf des Populismus kennen wir; er ist nicht besonders originell.
Interessanter hingegen ist die Frage der Finanzierbarkeit. Der Bundesrechnungshof hat erst vor kurzem kritisiert, dass nur 15 Prozent der Einkommensmillionäre überhaupt überprüft werden, und das, obwohl jede Überprüfung für den Staat Mehreinnahmen in Höhe von mehr als 100 000 Euro bringt. So großzügig und nachsichtig sind wir, wenn es um die wirklich Reichen in diesem Land geht.
Können Sie den Leuten angesichts solcher Meldungen eigentlich noch in die Augen schauen, wenn Sie behaupten, dass eine Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II nicht finanzierbar ist?
Wenn wir als Linksfraktion mehr Geld für die Armen fordern, dann sagen Sie immer, das sei nicht finanzierbar. Gleichzeitig arbeiten Sie jedoch an einer Unternehmensteuerreform, die unseren Staat in Zukunft jedes Jahr 10 Milliarden Euro kosten wird.
Was heißt das? Das bedeutet, dass wir uns in Zukunft jedes Jahr Geschenke an die Unternehmen in einer Größenordnung von 10 Milliarden Euro leisten. An dieser Stelle haben Sie allerdings noch nie die Frage gestellt: Wie soll man die Unternehmensteuerreform finanzieren? Ich schlage Ihnen vor: Verzichten wir auf die Unternehmensteuerreform - sie führt sowieso nicht zu mehr Arbeitsplätzen - und finanzieren wir mit dem dadurch frei werdenden Geld die Aufstockung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II.
Vielleicht werden einige von Ihnen gegen unsere Forderung einwenden, man könne die Regelsätze nicht anheben, weil sich die Leute dann in der Arbeitslosigkeit einrichten.
Ich allerdings denke: Solange wir als Bundespolitiker nicht in der Lage sind, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jeder, der verzweifelt einen Arbeitsplatz sucht, einen Arbeitsplatz bekommt, dürfen wir nicht mit dem Finger auf Leute zeigen, die vielleicht resigniert haben, weil sie sich schon oft erfolglos beworben haben.
Da ich aber glaube, dass Sie tatsächlich der Überzeugung sind, die Leute würden es genießen, den ganzen Tag Feierabend zu haben, möchte ich Sie mit der Aussage einer jungen Erwerbslosen konfrontieren. Sie sagte: Das glaubt uns Arbeitslosen zwar niemand, aber keinen Job zu haben, ist verdammt anstrengend. Man will raus aus dieser Situation, kann es aber nicht. Man spürt, was die anderen über einen denken, und das tut weh. Wer einen Job hat, hat wenigstens irgendwann Feierabend. Wer aber verzweifelt einen Job sucht, der wird diesen Druck nie los. In dieser Situation hat man faktisch niemals Feierabend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Sie Anträgen der Linksfraktion eher selten zustimmen. Aber ich finde, in diesem Fall sollten Sie einmal über Ihren Schatten springen. Wenn Sie dem Änderungsantrag meiner Fraktion, mehr Geld für das Arbeitslosengeld II in den Haushalt einzustellen, heute zustimmen, dann machen Sie das nicht, weil Sie uns einen Gefallen tun wollen. Wenn wir heute die Voraussetzungen für eine Anhebung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II schaffen, dann tun wir das nur, um die Arbeitslosigkeit und Armut für Menschen wie Anja F. und Kati K. etwas erträglicher zu machen. Es geht nicht um Luxus. Es geht nur darum, die Situation für die Betroffenen etwas erträglicher zu gestalten. Dazu sollten wir alle gemeinsam Ja sagen.
Besten Dank.
Nach ihrer Ausbildung hat sie sich ein ums andere Mal beworben. Da sie aber keinen Führerschein hat, wollte sie niemand einstellen. Nun befindet sie sich in einem Teufelskreis: ohne Führerschein keine Arbeit, ohne Arbeit aber kein Geld und ohne Geld kein Führerschein. Sie fragte mich: Wie soll ich aus diesem Teufelskreis herauskommen? Meine Damen und Herren, was antwortet man einer jungen Frau, die in dieser Situation ist?
Solche und ähnliche Fälle kennt sicherlich jeder von uns aus dem eigenen Wahlkreis. Ich glaube, der Umgang damit fällt niemandem richtig leicht. Aber ich frage mich: Wie kompliziert muss diese Situation insbesondere für Sie sein? Denn Sie müssen den Leuten erklären, dass Ihrer Meinung nach 345 Euro im Monat ausreichend sind. Sie müssen den Leuten erklären, warum Sie immer wieder gegen eine Erhöhung der Regelsätze stimmen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Sie sich dabei gut fühlen. Auch kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die vielen Betroffenen, von denen Sie in Ihrem Wahlkreis erfahren, in dem Moment vergessen, in dem Sie durch die Pforte des Bundestages gehen.
Deswegen appelliere ich an Sie: Stellen wir heute genug Geld in den Haushalt ein, um eine Erhöhung der Regelsätze auf mindestens 420 Euro zu ermöglichen!
Wie Sie wissen, bin ich der Überzeugung: Das, was wir eigentlich brauchen, ist eine soziale Grundsicherung, die jedem Menschen ein Leben jenseits von Armut ermöglicht. 420 Euro sind wirklich das Mindeste, was ein Mensch im Monat braucht.
Einige von Ihnen werden einwenden, unsere Forderung sei erstens populistisch und zweitens nicht finanzierbar. Den Vorwurf des Populismus kennen wir; er ist nicht besonders originell.
Interessanter hingegen ist die Frage der Finanzierbarkeit. Der Bundesrechnungshof hat erst vor kurzem kritisiert, dass nur 15 Prozent der Einkommensmillionäre überhaupt überprüft werden, und das, obwohl jede Überprüfung für den Staat Mehreinnahmen in Höhe von mehr als 100 000 Euro bringt. So großzügig und nachsichtig sind wir, wenn es um die wirklich Reichen in diesem Land geht.
Können Sie den Leuten angesichts solcher Meldungen eigentlich noch in die Augen schauen, wenn Sie behaupten, dass eine Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II nicht finanzierbar ist?
Wenn wir als Linksfraktion mehr Geld für die Armen fordern, dann sagen Sie immer, das sei nicht finanzierbar. Gleichzeitig arbeiten Sie jedoch an einer Unternehmensteuerreform, die unseren Staat in Zukunft jedes Jahr 10 Milliarden Euro kosten wird.
Was heißt das? Das bedeutet, dass wir uns in Zukunft jedes Jahr Geschenke an die Unternehmen in einer Größenordnung von 10 Milliarden Euro leisten. An dieser Stelle haben Sie allerdings noch nie die Frage gestellt: Wie soll man die Unternehmensteuerreform finanzieren? Ich schlage Ihnen vor: Verzichten wir auf die Unternehmensteuerreform - sie führt sowieso nicht zu mehr Arbeitsplätzen - und finanzieren wir mit dem dadurch frei werdenden Geld die Aufstockung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II.
Vielleicht werden einige von Ihnen gegen unsere Forderung einwenden, man könne die Regelsätze nicht anheben, weil sich die Leute dann in der Arbeitslosigkeit einrichten.
Ich allerdings denke: Solange wir als Bundespolitiker nicht in der Lage sind, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jeder, der verzweifelt einen Arbeitsplatz sucht, einen Arbeitsplatz bekommt, dürfen wir nicht mit dem Finger auf Leute zeigen, die vielleicht resigniert haben, weil sie sich schon oft erfolglos beworben haben.
Da ich aber glaube, dass Sie tatsächlich der Überzeugung sind, die Leute würden es genießen, den ganzen Tag Feierabend zu haben, möchte ich Sie mit der Aussage einer jungen Erwerbslosen konfrontieren. Sie sagte: Das glaubt uns Arbeitslosen zwar niemand, aber keinen Job zu haben, ist verdammt anstrengend. Man will raus aus dieser Situation, kann es aber nicht. Man spürt, was die anderen über einen denken, und das tut weh. Wer einen Job hat, hat wenigstens irgendwann Feierabend. Wer aber verzweifelt einen Job sucht, der wird diesen Druck nie los. In dieser Situation hat man faktisch niemals Feierabend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Sie Anträgen der Linksfraktion eher selten zustimmen. Aber ich finde, in diesem Fall sollten Sie einmal über Ihren Schatten springen. Wenn Sie dem Änderungsantrag meiner Fraktion, mehr Geld für das Arbeitslosengeld II in den Haushalt einzustellen, heute zustimmen, dann machen Sie das nicht, weil Sie uns einen Gefallen tun wollen. Wenn wir heute die Voraussetzungen für eine Anhebung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II schaffen, dann tun wir das nur, um die Arbeitslosigkeit und Armut für Menschen wie Anja F. und Kati K. etwas erträglicher zu machen. Es geht nicht um Luxus. Es geht nur darum, die Situation für die Betroffenen etwas erträglicher zu gestalten. Dazu sollten wir alle gemeinsam Ja sagen.
Besten Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lehn, ich will Ihnen zum Anfang meiner Rede mitteilen: Meine Tante heißt nicht Käthe, sondern Gerda. Deswegen kann ich hier ganz neidlos feststellen: Ja, es ist richtig, dass die Situation in diesem Jahr besser ist als vor einem Jahr,
dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse zugenommen hat und dass sich die Situation bei der Bundesagentur für Arbeit, wie Herr Müntefering zu Recht bemerkt hat, schon seit zwei Jahren zunehmend entspannt hat. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist gut für die Betroffenen. Die Entspannung bei der Bundesagentur für Arbeit hat aber sicherlich auch etwas mit den schwierigen Reformen der letzten Jahre, den Hartz-Reformen, zu tun.
Man sollte aber auch feststellen, dass Sie dazu neigen, diesen Aufschwung als Alibi fürs Nichtstun zu benutzen. Mit der beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung beschwören Sie die große Gefahr einer Delle in der Konjunkturkurve herauf, die Sie zu verantworten haben werden. Zudem wird dann möglicherweise auch die Beschäftigungsschwelle wieder sinken, worauf Herr Kolb zu Recht hingewiesen hat. Das ist eine vertane Chance für Deutschland.
Ich weiß, dass Sie so etwas nicht gerne hören - das ist ja klar -, weder die Kritik vom Sachverständigenrat noch die Kritik aus der Opposition. Vielleicht sollten Sie im Nebel des Eigenlobs und vielleicht auch des Hochmutes zumindest darauf hören, was die Wählerinnen und Wähler sagen: Die große Koalition befindet sich im Stimmungstief. Vor einem Jahr haben 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler gesagt: Eine große Koalition ist gut. Heute sagen das gerade einmal 36 Prozent. Das ist kein Zeugnis von der Zunahme von Vertrauen, sondern von dem Verspielen von Vertrauen in diesem Land.
Sie reden sich hier vieles schön; doch Sie setzen sich mit den realen Problemen nicht auseinander. Deshalb verwundert die Enttäuschung der Wählerinnen und Wähler nicht.
In der Arbeitsmarktpolitik haben wir einen weiteren Geburtstag zu feiern: den Geburtstag einer Arbeitsgruppe, die sich seit einem Jahr mit der Arbeitsmarktpolitik beschäftigt. Vorgelegt hat sie noch nichts. Ich verstehe das auch. Denn diese Arbeitsgruppe hat genau das zu bewältigen, was der Sachverständigenrat mit ?widerstreitenden Interessen“ beschreibt. Was wird denn kommen? Sie, Herr Minister, sprachen vom Mindestlohn. Ich kann Sie da nur unterstützen.
Was wird kommen? Der Mindestlohn von flächendeckend 7,50 Euro, den die Gewerkschaften fordern, oder der branchenbezogene Mindestlohn, den wir vernünftig finden, oder gar keiner, wie es Ihr Koalitionspartner will? Was wird denn für die Geringqualifizierten mit niedrigem Einkommen kommen? Ein Kombilohn, flächendeckend? Wissen Sie, Herr Müntefering, wovor ich Angst habe? Dass Sie in diesem Konflikt der widerstreitenden Interessen, bei dem die Ansätze der Sozial- und der Arbeitsmarktpolitik nicht zusammenpassen, über diese Arbeitsgruppe letzten Endes so etwas wie ein Gesundheitsfondue vorbereiten.
Sie verschleiern die Gefährlichkeit der Problematik, die man hier zu lösen hat. Mit den Konzepten, die Ihr Koalitionspartner präsentiert, laufen Sie Gefahr, ein Lohndumping zu finanzieren. Unser Problem in Deutschland ist nicht die Lohnhöhe, sondern sind die Lohnnebenkosten.
Deswegen: Nehmen Sie das, was erwirtschaftet ist, zur Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung! Konzentrieren Sie es auf die Bezieher kleiner, niedriger Einkommen! Setzen Sie das Progressivmodell um, das wir Ihnen vorschlagen. Denn durch die Senkung der Beiträge für Bezieher kleiner Einkommen und damit der Lohnnebenkosten erzielt man den größten Beschäftigungseffekt.
Im gesamten Bereich der Arbeitsmarktpolitik bleiben Sie Antworten schuldig, obwohl Sie im Moment große Reformchancen haben. Was machen Sie stattdessen? Frau Hajduk hat darauf hingewiesen: Sie führen hier eine unselige Debatte. Sie ist unselig vor dem Hintergrund, dass wir in Deutschland eine Fortführung der Sozialreformen brauchen, bei denen der Generationenkonflikt und die demografische Entwicklung wirklich berücksichtigt werden.
Sie lassen Robin Rüttgers durch die Lande reiten
und verbreiten hier ein Modell, das letzten Endes nicht zur Verankerung von mehr Gerechtigkeit, sondern erstens zur Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme - ich spreche hiermit die Arbeitslosenversicherung an, die eine Risikoversicherung darstellt - und zweitens zu Regelungen führen wird, die gegen die Jungen, die Frauen und die Menschen aus den neuen Bundesländern gerichtet sind.
Das ist das Gegenteil von Gerechtigkeit und einer klugen Arbeitsmarktpolitik, mit der Konzepte gegen und nicht für die Frühverrentung entwickelt werden müssen. Im Übrigen empfehle ich Ihnen, die sehr interessante Rede von Herrn Köhler zum Sozialstaat nachzulesen. Dann werden Ihnen vielleicht einige Schuppen von den Augen fallen.
Herr Müntefering, zum Abschluss möchte ich noch zwei Dinge erwähnen, die mich aufgrund Ihrer sozialdemokratischen Brille sehr gewundert haben:
Erster Punkt. Herr Glos hat gesagt, die Glaubwürdigkeit der Regierung werde daran gemessen, ob die Sozialabgaben unter 40 Prozent sinken. Im nächsten Jahr werden sie wahrscheinlich bei 40,6 Prozent liegen. Diese Hürde wird also deutlich gerissen. So viel zur Glaubwürdigkeit. Herr Müntefering, interessant ist aber, dass ein sozialdemokratischer Arbeitsminister hier stolz darauf verweist, dass die Arbeitnehmer den größeren Batzen dieser 40,6 Prozent zu tragen haben werden und dass der Anteil der Arbeitgeber bei unter 20 Prozent liegen wird. Das verwundert mich sehr.
Zweiter Punkt. Sie haben offensichtlich vergessen, wie die Überschrift einer guten Arbeitsmarktreform lauten muss. Es muss nämlich einen Gleichklang zwischen Fördern und Fordern geben. Sie haben hier stolz darauf verwiesen, dass im Eingliederungstitel veranschlagte Mittel nicht nur gesperrt, sondern ganz eingespart werden, dass also das Fördern zu kurz kommt und diese Mittel für die Langzeitarbeitslosen nicht ausgegeben werden.
Ich möchte insbesondere Sie Sozialdemokraten an eine Sache erinnern: Es war immer richtig, als Ziel zu formulieren,
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren zu wollen. Deswegen ist es grottenfalsch, dass Sie den Eingliederungstitel mit diesem Haushalt nicht zum Fördern nutzen, sondern für passive Leistungen nutzbar machen. Kehren Sie an dieser Stelle um und unterstützen Sie unseren Antrag, mit dem wir genau den anderen Weg gehen wollen, nämlich das Fördern von Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. - Wenn Sie dies beherzigen und nicht auch noch die Zuverdienstmöglichkeiten streichen, dann werden Sie, Herr Müntefering, mehr Arbeit schaffen und nicht zum König der Schwarzarbeit werden.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir heute bei der Beratung des Haushalts des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales feststellen können, dass die soziale Sicherung der Menschen bei dieser Bundesregierung unter Angela Merkel und Franz Müntefering in guten Händen liegt.
Der heute zu beratende Einzelplan hat den größten Anteil am Gesamthaushalt. Ich glaube, bei dieser Gelegenheit sollte man durchaus auch vermerken, dass Sozialpolitik in Deutschland nicht nur mit dem Haushalt dieses Ministeriums, sondern auch mit dem Haushalt des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und mit dem Haushalt des Ministeriums für Gesundheit betrieben wird. Das bedeutet, dass der sozialen Sicherung der Menschen in Deutschland auf unterschiedlichste Art und Weise über 50 Prozent der 270 Milliarden Euro zugute kommen. Dies ist meines Erachtens eine großartige und gute Nachricht, die vor allen Dingen durch die gute gemeinsame Politik der CDU/CSU und der SPD untermauert wird.
Wenn wir uns heute über viele gute Zahlen freuen können - was die Oppositionsparteien als Schönreden bezeichnen, weil sie sich über positive Zahlen offensichtlich nicht freuen können;
dabei kann nicht alles in einem Jahr erreicht werden, was im Regierungsprogramm auf vier Jahre angelegt ist -, so bedeutet dies für die Menschen in Deutschland auch, dass sie mit Mut und Zuversicht in die Zukunft blicken können, weil es mehr Arbeit geben wird. Die wirtschaftliche Lage und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich unter dieser Regierung verbessert und werden sich noch weiter verbessern, wozu auch dieser Bundeshaushalt und insbesondere der Haushalt für Arbeit und Soziales beitragen wird.
Deshalb ist es für mich durchaus bemerkenswert, dass wir mit den Arbeitsmarktreformen, die wir im vergangenen Jahr eingeleitet haben - dazu zählen das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz, die Änderungen der Hartz-IV-Gesetze und dergleichen mehr -, positive Wegmarken für mehr Arbeit und Beschäftigung und bessere Zukunftschancen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gesetzt haben.
Das heißt aber nicht - Bundesminister Franz Müntefering hat bereits darauf hingewiesen -, dass wir uns auf den Erfolgen ausruhen sollten; wir müssen vielmehr neue Aufgaben angehen. Besonders entscheidend bei den Arbeitsmarktreformen ist, dass Menschen wieder in Arbeit kommen. Einen Teil der von den beiden Koalitionsfraktionen getragenen Regelungen werden wir überprüfen und sicherlich ändern müssen, weil viele ALG-II-Empfänger für sich entschieden haben, dass das ALG II für ihr persönliches Auskommen ausreichend ist, wenn sie noch ein bisschen hinzuverdienen. Es muss aber die umgekehrte Reihenfolge gelten: Zuerst kommt die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger, selbst für Arbeit und Brot zu sorgen. Erst dann kommt die soziale Unterstützung in unserem Land. Das bedeutet, dass wir im Bereich der Hinzuverdienstregelungen neue Wege beschreiten müssen.
Dieser Haushalt ist auch hinsichtlich der Unterstützung für die Kommunen - darüber freue ich mich besonders, weil ich auch Kommunalpolitiker bin - etwas Besonderes. Dass der Bund die Kommunen mit 4,3 Milliarden Euro für Kosten der Unterkunft unterstützt, bedeutet letztlich, dass die Haushalte in unseren Kommunen wieder zukunftsfest gestaltet werden können
- das gilt jedenfalls für die bayerischen Kommunen, lieber Kollege Kampeter - und damit die kommunalen Haushalte in die Lage versetzt werden, Zukunftsaufgaben wahrzunehmen und Zukunftsinvestitionen zu tätigen, die mehr Arbeit und Beschäftigung für die Menschen in Deutschland bedeuten.
Unter diesem Gesichtspunkt schätze ich die Unterstützung des Bundes hoch ein. Ich glaube, das ist ein Erfolg für alle Kommunalpolitiker in unserem Lande und vor allen Dingen auch für die Bundestagsabgeordneten, die sich besonders der Kommunalpolitik annehmen und ihr verpflichtet fühlen.
Gleichwohl gibt es in diesem Bereich auch eine zukünftige Verantwortung für den Bund und den Bundeshaushalt. Was die Entwicklung bei der Grundsicherung angeht - seit 2003 hat die Zahl der Fälle um 43 Prozent zugenommen; die Unterstützungsleistungen im Bereich der Kosten der Unterkunft sind aber seitdem unverändert geblieben -, ist es aufgrund der getroffenen Vereinbarungen durchaus auch die Aufgabe der Bundesregierung, Herr Bundesminister, zusätzliche Unterstützung bei der Wahrnehmung der kommunalen Aufgaben zu leisten. Ich bin überzeugt, dass wir zu verantwortungsvollen Lösungen kommen werden.
Ein Bereich, der sicherlich auch zukünftig große Bedeutung hat, ist die Rentenpolitik. Eines der großen und wichtigen Ziele in der Rentenpolitik dieser großen Koalition ist die Verlässlichkeit, damit sich die Bürgerinnen und Bürger auf die Rentenzahlungen und auch auf die Höhe der Renten verlassen können. Wir sorgen dafür, dass die Renten nicht gekürzt werden. Ich danke dem Bundesminister, dass wir heuer das Gesetz verabschiedet haben, das den Rentnern und Rentnerinnen Sicherheit bietet. Darüber hinaus schaffen wir mit der geplanten Anhebung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung auf 19,9 Prozent Planungssicherheit bis 2010 insbesondere für die Betriebe.
Es ist entscheidend, das Projekt ?Rente mit 67“ mit Fortune anzugehen. Sicherlich sehen die Bürgerinnen und Bürger darin eine Belastung. Aber wir müssen der demografischen Entwicklung positiv gegenüberstehen. Wenn die Lebenserwartung in Deutschland ständig steigt, dann ist das positiv für die Menschen in unserem Land und ein Zeichen für Leistungsfähigkeit. Das beste Beispiel dafür ist unser Bundesminister Franz Müntefering, der nächstes Jahr, wenn er 67 wird, nicht in Rente gehen wird, sondern die Bundesregierung weiterhin tatkräftig unterstützen wird.
Wenn wir bis 2029 das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anheben, betreiben wir eine verantwortungsbewusste Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Sie können sich aufgrund dieses langen Übergangszeitraums mit Zusatzversorgungen wie Riesterrente, betrieblicher Altersvorsorge und Rürup-Rente darauf einstellen. Eine unserer Aufgaben ist aber auch, bewusst zu machen, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr für die Absicherung von Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit aufwenden müssen. Das müssen wir vielleicht stärker in das Blickfeld rücken, wenn es darum geht, die privaten Sicherungssysteme zu stärken.
Vielfach wurde insbesondere von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, zum Ausdruck gebracht, dass die sozialen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger angeblich zu gering seien. Sie haben den Änderungsantrag gestellt, das Arbeitslosengeld II auf 420 Euro zu erhöhen, nach dem Motto ?Wer bietet mehr? Wer ist der Sozialste in unserem Land?“.
Das darf nicht so stehen bleiben. Wir betreiben - das ist das Entscheidende - eine Sozialpolitik nach der Leistungsfähigkeit unserer Bürgerinnen und Bürger, die tagtäglich die Beiträge bzw. die Steuermittel zu erarbeiten haben. Hier dürfen wir die Generationengerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren.
Es ist sicherlich einfach, mehr Leistungen zu versprechen und die Kosten den zukünftigen Generationen aufzubürden. Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihre Politik würde letztendlich dazu führen, dass die Belastungen in die Zukunft verschoben werden. Unsere Kinder sollen nach Ihren Vorstellungen für die Lasten zahlen, die wir ihnen heute auferlegen. Das ist keine verantwortungsbewusste Politik im Sinne der Generationengerechtigkeit.
Sie fordern zudem eine Aussetzung der geplanten Unternehmensteuerreform. Dies ist nichts anderes, als ob man einem Bauern empfehlen würde, sein Saatgut zu verbrauchen; denn die Unternehmensteuerreform, die der Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland dient, ist letztendlich die Saat dafür, dass wir mehr Arbeitsplätze in unserem Land haben und damit den Menschen mehr Zukunftschancen geben und - darauf aufbauend - soziale Sicherheit für die Menschen schaffen, die sich selbst nicht helfen können. In diesem Sinne werden wir unsere Arbeit fortsetzen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte muss offenbar jeder den Namen seiner Tante mitteilen. Meine Tante hieß Elli. Sie hätte sich sehr gefreut, wenn sie die Daten, über die wir heute sprechen, zur Kenntnis genommen hätte:
zurückgehende Arbeitslosigkeit, höhere Steuereinnahmen, ein gutes wirtschaftliches Wachstum, Zunahme der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Der Bundesminister Müntefering und andere haben auf diese guten Daten und Nachrichten hingewiesen.
- Herr Kolb, wir haben entsprechende Erfolge aufzuweisen. Das sollten Sie sich merken. Wir reden heute nichts schön, sondern wir sagen ganz deutlich, wie die Verhältnisse sind und wo wir noch Bedarf sehen, etwas zu ändern.
Wir ruhen uns nicht aus. Wir freuen uns natürlich, dass wir endlich einen Haushalt haben, der nicht auf Kante genäht ist. Das ist gerade für die Sozialversicherung wichtig, die in unserem Haushalt den größten Ausgabeposten darstellt. Deshalb sage ich ganz deutlich mit Richtung auf die FDP: Der Haushalt ist kein Haushalt der Risiken, sondern ein Haushalt der Chancen. Die Rentenversicherung hat Mehreinnahmen aufgrund höherer Einkommen. Sie könnten noch höher sein, Herr Kolb, wenn Leute wie Sie nicht dauernd sagen würden, die Löhne in diesem Land seien zu hoch. Die Rentenversicherung hat auch deshalb Mehreinnahmen, weil die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist.
Die Arbeitslosenversicherung verzeichnet ebenfalls höhere Einnahmen, weil die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist und die Löhne gestiegen sind. Wir haben deutlich weniger Ausgaben, weil weniger für den Bezug von Arbeitslosengeld ausgegeben werden musste. Insgesamt gesehen haben wir also eine überaus positive Situation, die das Ergebnis einer verlässlichen Politik ist und die deutlich macht, dass sich die Reformen, die mit Mut angegangen worden sind und die in die Zukunft gerichtet sind, ausgezahlt haben.
Das kann uns freuen, weil sich damit Kontinuität auszahlt. Ich bin froh darüber, dass die Verunsicherung in den sozialen Sicherungssystemen endlich beendet ist. Stabilität und Vertrauen sind die Basis für mehr Sicherheit und das brauchen wir.
Die Sozialabgaben sind - Herr Kolb, da sollten Sie sich an Ihre eigene Nase fassen - während der Zeit, als Sie mitregiert haben, deutlich in die Höhe geschossen.
Sie haben allen Grund dazu, ganz still zu sein, sich hinzusetzen und zuzuhören.
- Nein, Herr Kolb, ich möchte den Sachverhalt vortragen.
- Gar nicht schade, Sie hatten Gelegenheit genug, zu dem Thema zu sprechen. - Die Senkung der Sozialabgaben auf 40 Prozent, die wir in unserem Koalitionsvertrag angestrebt haben, ist erreicht. Im nächsten Jahr wird der Rentenversicherungsbeitrag bei 19,9 Prozent
und der Arbeitslosenversicherungsbeitrag bei 4,2 Prozent liegen. Selbst dann, wenn eine Erhöhung des Beitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung um 0,6 Prozentpunkte einkalkuliert wird, bleiben wir unter 40 Prozent. Ich beispielsweise bin gesetzlich krankenversichert bei der IKK, einer handwerklichen Krankenversicherung. Ich werde einen Beitrag von 13,9 Prozent zahlen müssen und zusätzlich 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung. In der Summe komme ich damit auf 39,7 Prozent. Das ist weniger als 40 Prozent, was keiner in diesem Hause bestreiten kann. Insofern sind wir ein entscheidendes Stück vorangekommen. Das ist ein wichtiges Signal und das bedeutet auch, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land mehr Geld in ihren Taschen haben. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass auch bei einer Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um 2,3 Prozentpunkte die Finanzierung der Bundesagentur für Arbeit aus unserer Sicht längerfristig gesichert ist. Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet einen Überschuss von über 10 Milliarden Euro. Herr Kolb hat gerade gesagt - da sieht man, wie er in der Debatte mit Daten umgeht -, dieser Überschuss sei nur wegen des gravierenden Vorzieheffekts zustande gekommen.
3,4 Milliarden Euro gründen sich auf den Vorzieheffekt, da hat er Recht. Der Überschuss aber wird mehr als 10 Milliarden Euro betragen. Für jeden ist offensichtlich, was mehr Gewicht hat. Der Überschuss ist so bedeutend, dass auch Herr Kolb wissen sollte: Hier ist ein guter Weg beschritten worden; die Arbeitslosenversicherung wird langfristig entlastet. Das ist eine Gewähr für eine langfristige Beitragssatzsenkung. Das ist ein Erfolg für die Bundesagentur für Arbeit.
An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen, dass ich dabei nicht nur dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur danken möchte. Ich glaube, wir haben allen Grund, für diesen erfolgreichen Umbau der Bundesagentur für Arbeit den Mitarbeitern, dem Vorstand, dem Personalrat - allen aus diesem Haus, die mitgeholfen haben, eine fast totgesagte Mammutbehörde zu einer modernen leistungsfähigen Dienstleistungseinrichtung umzubauen -, einen großen Dank auszusprechen. Nur mit ihrer Mithilfe ist es gelungen, dass die Bundesagentur wieder in einem guten Licht dasteht und auf einem guten Weg ist, Dienstleistungen für diejenigen zeitnah und qualifiziert zur Verfügung zu stellen, die dieser Dienstleistung bedürfen.
In dem Zusammenhang möchte ich einen kritischen Hinweis anbringen: Die Bundesagentur hat ohne Frage auch einen sozialpolitischen Auftrag. Dieser zeigt sich insbesondere in der Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen. Ja, wir sind für mehr Effizienz, aber über dem betriebswirtschaftlichen Denken darf nicht der sozialpolitische Auftrag der Bundesagentur vernachlässigt werden. Beitragssatzsenkungen dürfen nicht zulasten der Weiterbildung gehen. Wir sind deshalb ganz deutlich der Meinung, dass hier noch ein Stück nachgesteuert werden muss. Als Gesetzgeber können wir durch eine bessere Systematisierung des Aussteuerungsbetrages unseren Beitrag leisten. Denn die Forderung muss sein: Wir müssen mehr Anreize für mehr Weiterbildung setzen.
Wir jedenfalls wollen den Aussteuerungsbetrag qualitativ weiterentwickeln. Wir wollen, dass potenzielle Langzeitarbeitslose - ich spreche hier ganz bewusst nicht von Betreuungskunden, sondern von potenziellen Langzeitarbeitslosen - frühzeitig längerfristige Maßnahmen erhalten können.
Meine Damen und Herren, dieser Vorschlag ist wichtig, weil er zu einer besseren Vernetzung von Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung zugunsten der Arbeitsuchenden beiträgt. Ich meine konkret, der Bund sollte bei den Teilnehmern von Umschulungen im Rahmen der Förderung beruflicher Weiterbildung auf die Zahlung des Aussteuerungsbetrages immer dann verzichten, wenn es um eine komplett abgeschlossene Weiterbildungsmaßnahme geht. Ich finde, das wäre zeitgemäß und angebracht.
Die Chancen potenzieller Arbeitsloser auf dem Arbeitsmarkt sind natürlich umso besser, je früher sie in eine gute Ausbildung oder eine gute Qualifizierung kommen.
In diesem Zusammenhang hat Kollegin Falk das Stichwort ?Arbeitsmarkt für Leistungsgeminderte“ gebracht; manche sprechen auch vom dritten Arbeitsmarkt. Ich möchte bewusst nicht vom dritten Arbeitsmarkt sprechen, weil das Bild des dritten Arbeitsmarktes diese Personengruppe, die wir auch mit den besten arbeitsmarktpolitischen Instrumenten zurzeit nicht erreichen, nichts anderes als stigmatisieren würde. Ich sage deshalb ganz offen: Wir brauchen eine Jobperspektive, wir brauchen Arbeit für Langzeitarbeitslose ohne Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt. Das ist eine Angelegenheit, der wir uns jetzt annehmen, weil es ein Herzensanliegen von uns ist.
Ich habe dieses Thema systematisch angesprochen, weil ich davon überzeugt bin, dass wir nicht hinnehmen dürfen, dass der Personenkreis, der ohne eine gesonderte Aktivität keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, einfach links liegen gelassen wird. Wir müssen für diesen Personenkreis Chancen organisieren.
Wer damit begonnen hat - wir haben damit systematisch begonnen,
andere haben anschließend unsere Anträge abgeschrieben -,
ist mir völlig wurscht. Wir meinen, es sollte ein Rennen um die bessere Perspektive stattfinden. Wichtig ist, dass sich auf diesem Gebiet etwas tut. Der Bundesminister hat das in der entsprechenden Arbeitsgruppe zum Thema gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass wir eine angemessene Lösung finden werden.
Meine Damen und Herren, nun zu der Debatte über die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Ich meine, wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Ich finde, Frau Falk hat dazu mit eindrucksvollen Worten die Thematik noch einmal aus einer anderen Sicht beleuchtet. Sie hat davon gesprochen, welche Ängste und Sorgen um den Arbeitsplatz bei vielen Älteren einfach vorhanden sind. Sie hat auch Recht, dass wir hierfür nachhaltige Konzepte brauchen, keine Vorschläge, die diese Zukunftsängste der Menschen noch mehr schüren. Was wir schon gar nicht brauchen, sind Vorschläge, die die Gesellschaft spalten.
Ein Spalten in Jung und Alt, in gute und schlechte Arbeitslose, in Ost und West, in Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien und ohne gebrochene Erwerbsbiografien, das brauchen wir nicht. Was wir brauchen, ist ein solidarisches Miteinander und kein Gegeneinander. Deswegen lehnen wir die Vorschläge nach Aufspaltung der Arbeitslosenversicherung in eine Ansparversicherung ab.
Wenn in diesem Zusammenhang von Verunsicherung die Rede ist, will ich klar sagen: Diese Verunsicherung ist durch die Globalisierung - ich verweise auf die gesamte bisherige Arbeitsmarktsituation - real vorhanden. Ich glaube nicht, dass wir den Menschen die Angst vor dieser Verunsicherung dadurch nehmen, dass wir für weniger Kündigungsschutz, weniger Betriebsräte, weniger Mitbestimmung und mehr betriebliche Bündnisse sorgen. Wir nehmen den Menschen die Angst, wenn wir es schaffen, ihnen eine berufliche Perspektive zu geben. Das muss unser Ziel sein.
Man darf es wohl als einen ganz besonderen Vorgang bezeichnen, wenn sich der Bundespräsident in eine so aktuelle Angelegenheit einmischt. Da, wo er Recht hat, hat er nun einmal Recht. Er hat festgestellt, das Arbeitslosengeld sei eine Risikoversicherung und damit ?ein Bollwerk gegen Notfälle“.
Der Bundespräsident sagte weiter:
Der Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach Einzahlungszeit zu staffeln, schwächt das Versicherungsprinzip und damit eine zentrale zivilisatorische und soziale Errungenschaft zur Schaffung von Sicherheit in modernen Gesellschaften.
Dies ist eine im Kern völlig korrekte Aussage, der wir uns voll anschließen können.
Er fügt hinzu:
Wir müssen uns auf die eigentliche Hauptaufgabe konzentrieren: Arbeit schaffen, das ist die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit.
Das kann man, so meine ich, nur unterstreichen.
Mir tun diejenigen Leid, die in dieser Situation im Geleitzug von einigen, die Sozialspaltung und Populismus betreiben, ihr Süppchen kochen wollen. Ich bin noch nie vor der Verantwortung weggelaufen und sage ganz deutlich: Wir haben eine Risikoversicherung, die im Falle eines Arbeitsplatzverlustes eine umfassende Leistung darstellt. Diese Leistung sollten wir den Jüngeren und denen, die größeren Risiken ausgesetzt sind, nicht einfach nehmen oder kürzen. Da können wir nicht mitmachen. Deshalb lehnen wir eine solche Regelung eindeutig ab.
Wir bevorzugen eine nachhaltige und verlässliche Politik anstelle eines einfachen Sozialpopulismus.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Brandner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Klaus Brandner (SPD):
Wir müssen erkennen, wie wir mit den Ängsten der Menschen am besten umgehen. Das ist nicht durch einzelne Maßnahmen, zum Beispiel mit der Verlängerung der Bezugsdauer um sechs Monate, getan. Was wir dringend brauchen, ist mehr Beschäftigung, insbesondere für die Älteren.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Brandner, ich hatte mich zu einer Zwischenfrage gemeldet - Sie haben sie leider nicht zugelassen -, weil ich die Frage nach Ihrer Glaubwürdigkeit stellen wollte. Was die Zukunft der Rentenversicherungsbeiträge anbelangt, sind Sie ganz eindeutig in der Verantwortung. Auch heute haben Sie wieder gesagt: Der Beitragssatz in der Rentenversicherung steigt auf 19,9 Prozent und das war?s; es werden mittelfristig keine weiteren Erhöhungen erforderlich sein. Wer soll Ihnen das glauben?
Sie haben bei der Verabschiedung des Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetzes im Jahre 2004 gesagt: Der Rentenversicherungsbeitrag wird bis zum Jahre 2010 bei 18,6 Prozent verharren. - Im Sommer 2005, als es um die Einführung des 13. Monatsbeitrages ging, haben Sie gesagt: Es wird 2006/2007 bei einem Beitrag von 19,5 Prozent bleiben können; danach werden es 19,6 Prozent sein.
Jetzt erhöhen Sie trotz guter Kassenlage der Rentenversicherung den Beitragssatz auf 19,9 Prozent. Wer soll Ihnen glauben, dass es in absehbarer Zeit nicht zu weiteren Erhöhungen kommt, zumal im Rentenversicherungsbericht 2006 vier von neun beschriebene Szenarien für die Entwicklung bis 2010 von der Notwendigkeit einer weiteren Beitragserhöhung ausgehen?
Der zweite Punkt, den ich Ihnen ins Stammbuch schreiben muss: Sie bereiten hier einen Paradigmenwechsel vor. Sie wollen von der Politik der Senkung der Lohnnebenkosten Abstand nehmen. Klartext: Das war?s. Mit weniger als 20 Prozent für die Arbeitgeber soll es sein Bewenden haben, weiterer Handlungsbedarf besteht nicht.
Dazu muss man Ihnen sagen: Hier verstoßen Sie klar gegen Ihren Koalitionsvertrag, in dem es heißt: dauerhafte Senkung der Lohnnebenkosten - in Klammern steht da: Sozialversicherungsbeiträge - unter 40 Prozent! Zu den Sozialversicherungsbeiträgen muss man alles zählen; das ist nicht, wie Sie uns neulich im Ausschuss erzählen wollten, unter Ausschluss des Pflegeversicherungsbeitrags und unter Vernachlässigung des Zusatzbeitrags, den die Arbeitnehmer zur Krankenversicherung allein zu zahlen haben, zu verstehen. Das können Sie doch einräumen. Geben Sie hier wenigstens offen zu, dass Sie diesen Paradigmenwechsel betreiben, und reden Sie nicht um den heißen Brei herum!
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Brandner, bitte.
Klaus Brandner (SPD):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was Herr Kolb gerade gesagt hat, ist ein typisches Beispiel von Tante Käthe. Im Grunde genommen ist es so, dass das, was wir erreicht haben - aus unserer Sicht ist das natürlich eine Freude; Sie macht das eher besorgt -, Ihnen nicht vergönnt war.
Sie haben während Ihrer Mitregierungszeit die Sozialversicherungsbeiträge regelmäßig ganz erheblich erhöht. Sie haben die Sozialkassen zur Finanzierung der deutschen Einheit missbraucht, insbesondere was die Rentenversicherung betrifft. Schließlich waren Sie bei einer Quote von über 42 Prozent. Wir sind jetzt dabei, genau das zurückzuentwickeln, und trotzdem nörgeln Sie herum.
Über die Höhe des Sozialversicherungsbeitrags werden wir immer streiten können. Der erste Punkt für Sozialdemokraten ist: Welche Leistungen müssen wir zur Verfügung stellen? Wir wollen die notwendigen Leistungen zur Verfügung stellen. Es kann durchaus sein, dass es eine Zeit gibt, in der die Sozialversicherungsbeiträge verändert werden müssen, weil Aufgabenstellungen auftreten, die am sinnvollsten darüber finanziert werden. Den Beitragssatz haben wir nie zum Fetisch erklärt. Aber wir sind jetzt in der Lage, etwas Gutes zu tun. Anstatt mitzuhelfen und das Erreichen dessen, was Sie sich immer vorgenommen, aber nicht erreicht haben, zu begrüßen, nörgeln Sie herum. Das finden wir nicht in Ordnung und das sagen wir Ihnen auch so deutlich.
Nun zur Rentenversicherung. Die Situation ist momentan so günstig - auch Sie wissen das -, dass wir den Beitragssatz zur Rentenversicherung gar nicht auf 19,9 Prozent erhöhen müssten. Sie haben im Ausschuss seitens des Staatssekretärs aufgrund der Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung dazu klare Aussagen erhalten.
Richtig ist aber auch, dass wir auf Sicherheit setzen, dass wir, wie ich es gesagt habe, die Sozialversicherung nicht auf Kante nähen wollen und dass wir Debatten, die Sie sonst führen würden, nämlich mit dem Ziel, weitere Sozialleistungen zurückzuschrauben, nicht zulassen wollen. Deshalb haben wir auf Sicherheit gebaut. Das ist mit der Festlegung dieses Beitragssatzes geschehen. Bei dem, was mittelfristig zu übersehen ist, wird der Beitragssatz bei 19,9 Prozent bleiben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner zum Einzelplan 11 - Arbeit und Soziales - und vor einer namentlichen Abstimmung ist es nicht ganz so einfach, den Sack noch einmal zuzubinden. Ich möchte zunächst den Verwandtensack zubinden, nachdem Frau Kollegin Lehn die Tante Käthe und der Kollege Brandner die Tante Elli erwähnt haben. Es gibt einen Spruch, der da heißt: Eine Tante, die etwas mitbringt, ist immer besser als eine Tante, die nur Klavier spielt. - Diese Bundesregierung spielt nicht Klavier. Nach einem Jahr bringt sie etwas mit.
Der Einzelplan 11 - Arbeit und Soziales - hat eine besondere Bedeutung, und zwar vom Volumen her - er ist der größte des Gesamtetats mit fast 50 Prozent der Ausgaben -, aber auch von den Themenfeldern her. Es sind nämlich die Themen Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit und Rente, die die Menschen in diesem Land bewegen. Deswegen ist dies auch der Platz, wo sich vor allem die Opposition tummelt.
Lassen Sie mich zum Schluss drei Schwerpunkte setzen. Ich möchte Ihnen zunächst einmal sagen, was die Bundesregierung statt des Klavierspielens mitbringt, und danach möchte ich noch zwei Bemerkungen zur Opposition machen.
Was wir in einem Jahr geschafft haben, ist viel mehr als das, was die Menschen erwartet haben. Wir sind in einem Jahr riesige Schritte vorangekommen.
Erstens. Erstmals seit November 2002, also seit langer Zeit, liegt die Arbeitslosenquote wieder unter 10 Prozent.
Zweitens. Bei der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verzeichnen wir erstmals seit September 2000, also erstmals seit sechs Jahren, wieder einen Aufwärtstrend. Statt Monat für Monat weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt es nun eine Trendwende: Es gibt nämlich ein Plus von 250 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Drittens. Mit dem prognostizierten Wirtschaftswachstum erleben wir den stärksten Konjunkturaufschwung seit sechs Jahren und haben mit einer Neuverschuldung von 19,5 Milliarden Euro den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht.
Viertens senken wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,2 Prozent. Indem wir so die Belastung des Faktors Arbeit senken, führen wir die Belastung auf ein Niveau zurück, das es zuletzt in den 80er-Jahren gab.
Das sind die riesigen Entwicklungen, die diese Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt vor einem Jahr angestoßen hat.
Wir machen aber auch weiter: Es gibt viele Themen, die zurzeit intern intensiv beraten werden. Wir wollen nämlich keine Schnellschüsse machen. Minister Müntefering hat heute Morgen die Themen genannt, an denen wir arbeiten. Deswegen erspare ich mir hier eine Aufzählung. Stattdessen möchte ich ein paar kritische Bemerkungen zu dem eher populistischen und einfachen Auftreten der Oppositionsfraktionen hier im Bundestag machen.
Ich fange mit den Hauptmatadoren der PDS an, die hier ständig auftreten, nämlich Gysi und Lafontaine. Herr Gysi und Herr Lafontaine hatten politische Gestaltungsämter inne. Sie hätten also etwas bewegen können, weil sie in ein politisches Amt gewählt waren. Aber als sie die konkrete Möglichkeit dazu hatten, haben sie kalte Füße bekommen und sind abgehauen.
Vor diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage, warum Sie hier Woche für Woche als sozialistisches Doppelpackkombinat auftreten und der Menschheit glorreich alles Mögliche versprechen. Sie hatten die Möglichkeit, haben sie aber nicht genutzt. Nun wollen Sie uns zurückführen zu Zuständen, wie sie zum Teil in der DDR bestanden, die wir aber nicht wollen. Das sage ich mit aller Deutlichkeit.
Das, was die Opposition hier immer wieder vorträgt, ähnelt stark einer Populismusolympiade: möglichst noch mehr ausgeben und so viel wie möglich von dem eingenommenen Geld den Bürgern zurückgeben - besser, schneller, höher -, anstatt sich zu fragen, wie man die Probleme der Menschen lösen kann!
Ich mache es Ihnen einmal an einigen Beispielen deutlich, warum Sie das mit Ihren Vorschlägen auch gar nicht schaffen können. Ihr Vorschlag, den Regelsatz für das Arbeitslosengeld II von 345 auf 420 Euro zu erhöhen, hört sich zwar sehr schön an, aber mit einem solchen Vorhaben ziehen Sie Mauern um den Arbeitsmarkt herum, weil nämlich dann viele, die einen so hohen Satz bekommen, kein Interesse mehr haben, eine Arbeit aufzunehmen. Das ist eine Tatsache. Wenn Sie die bestreiten, leben Sie an der Realität vorbei.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Ja, gerne.
- Das muss sein.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Wie erklären Sie, wenn Sie tatsächlich der Überzeugung sind, dass jemand, der 420 Euro im Monat bekommt, nicht mehr bereit ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, den Umstand, dass es trotz des derzeit niedrigen Arbeitslosengeld-II-Satzes schon 900 000 Aufstocker gibt, also Leute, die zum Teil sogar Vollzeit arbeiten, obwohl ihr Verdienst geringer ist als der Arbeitslosengeld-II-Satz?
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Liebe Frau Kipping, mit Ihrer Frage setzen Sie das kleine Welttheater der Katja Kipping fort, das Sie eben schon in Ihrer Rede aufgeführt haben. Sie müssen nur einmal ernsthaft über das hinausdenken, was Sie gerade gesagt haben: Wenn der Satz tatsächlich auf 420 Euro angehoben würde, dann würde das dazu führen, dass auch die Zahl der Aufstocker noch einmal deutlich höher würde. Mit jeder Erhöhung würde sich natürlich auch die Zahl derjenigen vermehren, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten.
Weil Sie das nicht vertreten wollen, machen Sie einen zweiten Quatsch, indem Sie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes von 8 Euro fordern.
Das ist die Antwort, die die Linken immer geben; völlig klar. Sie belasten die Wirtschaft und sorgen so dafür, dass durch diese Belastung keiner mehr Arbeitsplätze schafft und dadurch die Arbeitslosigkeit steigt. Das ist der völlig falsche Weg. Das können Sie noch so häufig erzählen; es ist bewiesen, dass das nicht läuft.
Es geht nicht um mehr Sozialleistungen für die Menschen, sondern die Frage muss lauten: Wie können wir Arbeitsplätze schaffen, die dazu führen, dass die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt hinein- und aus der Grundsicherung herauskommen? Das ist die Kernfrage und vor dieser drücken Sie sich.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zusatzfrage der Kollegin Kipping?
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Wir führen dieses leninistisch-marxistische Seminar vielleicht besser im Ausschuss weiter. Ich finde, die Kollegen haben einen Anspruch darauf, gleich zur Abstimmung zu kommen.
Lassen Sie mich zwei, drei kritische Sätze zur FDP sagen. Auch das muss sein. Was die FDP hier in den letzten Wochen vorgetragen hat, war
die Forderung nach einer möglichst spitzen Abrechnung bei den Sozialversicherungsbeiträgen. Sie wollen, dass die Rentenversicherungsbeiträge im nächsten Jahr nicht auf 19,9 Prozent erhöht werden, sondern, weil wir mehr nicht brauchen, nur auf 19,7 Prozent. Sie nehmen in Kauf, dass die Beiträge im darauf folgenden Jahr auf 20 und mehr Prozent steigen. Zu den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen haben Sie einen Antrag eingebracht, in dem Sie - genau wie in Ihren Beiträgen an diesem Pult - eine Senkung über die von uns vorgesehene hinaus, von 6,5 auf 4,2 Prozent, gefordert haben. Sie wollen also auch hier spitz abrechnen, selbst auf die Gefahr hin, dass das zu gut berechnet ist und im darauf folgenden Jahr wieder zu einer Erhöhung führt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, das ist eine Politik, die nichts mit Verlässlichkeit und Beständigkeit zu tun hat. Das ist eine liberale Achterbahnfahrt, mal rauf, mal runter. Was wir brauchen, sind Verlässlichkeit und Beständigkeit. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass ein Beitrag über einen längeren Zeitraum stabil bleibt. Eine solche Politik machen wir.
Zur Mehrwertsteuer. Inzwischen glaubt kein Mensch mehr, dass Sie ohne eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auskommen würden, wenn Sie all die Vorschläge, die Sie machen, realisieren müssten.
Bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen - das ist in der Anhörung am Montag bestätigt worden - kämen Sie ohne die Zuführung des Geldes aus 1 Prozentpunkt Mehrwertsteuererhöhung nicht einmal zu der Senkung, die jetzt vorgesehen ist. Also, bleiben Sie ehrlich und kehren Sie auf den Pfad der liberalen Tugenden zurück, statt den Weg des Populismus zu gehen!
Ein letzter Satz zu den Grünen - zu Ihnen fällt mir nicht so viel ein, auch wenn man natürlich auch über Sie lange sprechen könnte -: Was mich wirklich stört, ist, dass Ihre Debatten rückwärts gewandt sind. Sie sind die Verteidiger von Rot-Grün. Ich weiß nicht, ob Sie nicht gemerkt haben, dass die SPD längst mit einem neuen Partner sehr zufrieden ist und neue und gute Politik macht.
Weil das so ist, machen wir auf diesem Weg weiter. Ich hoffe, dass das zweite Jahr ein ebenso erfolgreiches wird wie das erste.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich zuerst der Kollegin Kipping und anschließend dem Kollegen Dr. Gregor Gysi. - Herr Kollege Meckelburg, ich denke, Sie können dann auf beide antworten.
Bitte schön, Frau Kipping.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Ich möchte gerne einen Irrtum von Herrn Meckelburg aufklären. Wenn ich ihn hier mit Zahlen aus der Realität konfrontiere, dann hat das relativ wenig mit Marxismus zu tun - abgesehen davon, dass es vielleicht auch Herrn Meckelburg nicht schaden würde, dort nachzulesen. Es stünde uns gut zu Gesicht, wenn wir nicht nur im Fachausschuss, sondern auch hier neben der betriebswirtschaftlichen Brille manchmal auch die volkswirtschaftliche Brille aufsetzten.
Zum Zweiten möchte ich mich bei Herrn Meckelburg bedanken; denn je mehr Sie über Menschen berichten, die, obwohl sie Vollzeit arbeiten, in extremer Armut leben, umso mehr reift in der Bevölkerung das Wissen darum, wie notwendig es ist, innerhalb des Lohngefüges ein letztes Sicherheitsnetz zu schaffen. Ich danke Ihnen deswegen für dieses vielleicht nicht ganz überzeugende, aber immerhin einen Anfang darstellende Plädoyer für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Gysi, bitte.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Lieber Herr Kollege Oberstudienrat Meckelburg,
Sie haben mir vorgeworfen, dass ich erstens zurückgetreten bin und dass ich zweitens zusammen mit Oskar Lafontaine jede Woche hier dasselbe erzähle, wobei Sie nicht verstünden, warum. Gestatten Sie mir dazu drei kurze Bemerkungen.
Erstens. Die Berliner CDU hat damals meinen Rücktritt gefordert. Ich entnehme Ihrer Äußerung, dass es falsch ist, auf die CDU zu hören.
Zweitens. Dem Beifall der Unionsfraktion, den es bei Ihrer Kritik an meinem Rücktritt gab, entnehme ich, dass Sie sich wünschen, dass ich immer noch Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin wäre. Das nehme ich interessiert zur Kenntnis.
Drittens. Ich kann Ihnen erklären, warum Oskar Lafontaine und ich hier jede Woche dasselbe sagen: Sie haben es nämlich immer noch nicht verstanden. Wir machen so lange weiter, bis das der Fall ist.
Danke.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Meckelburg, bitte.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Ich erspare mir, auf den ersten Beitrag von Frau Katja Kipping zu antworten. Denn auf das, was Tante Katja mit ihrer rosaroten Brille gesagt hat, muss ich nicht noch einmal eingehen.
Zu Ihren Ausführungen, Herr Rechtsanwalt und Oberlehrer Gysi,
will ich Folgendes sagen. Ich weiß seit heute - Sie haben es gerade gesagt -, dass Sie auf Ratschläge der CDU/CSU hören. Das finde ich gut. Es schafft die Basis für eine inhaltliche Auseinandersetzung. Vielleicht können wir Sie an manchen Stellen davon überzeugen, dass Sie sich stärker auf die politischen Sachfelder und weniger auf die ideologischen Felder konzentrieren sollten.
Zu dem, was Sie ansonsten noch zur Begründung Ihres Verhaltens gesagt haben: Die Menschen haben schon den Eindruck, dass Lafontaine und Gysi abgehauen sind, als sie die Möglichkeit hatten, politisch zu gestalten. Dieser Eindruck bleibt; den können Sie nicht wegkriegen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, in der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zuerst namentlich abstimmen.
Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache 16/3467. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat?
- Dann bitte schnell zu den Urnen. - Ich frage noch einmal: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Wir kommen nun zum Änderungsantrag auf Drucksache 16/3468. Auch hier hat die Fraktion Die Linke namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. Sind die Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. - Die Urne vorne am Präsidentenpult ist defekt. Ich bitte die Kollegen, an die anderen Urnen zu gehen.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme in der zweiten namentlichen Abstimmung noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3467 bekannt: Abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben gestimmt 51, mit Nein haben gestimmt 504. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3468 lautet: Abgegebene Stimmen 543. Mit Ja haben gestimmt 49, mit Nein haben gestimmt 494. Der Änderungsantrag ist deshalb ebenfalls abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 11 ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.13 auf:
Einzelplan 06
Bundesministerium des Innern
- Drucksachen 16/3106, 16/3123 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Dr. Michael Luther
Norbert Barthle
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. Außerdem liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie der Fraktion Die Linke vor, über die wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Herr Körper, wenn ich Ihnen eine Freude machen darf, immer gerne. - Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der letzten Beratungen des Einzelplans 06 möchte ich etwas Nettes sagen. Ich möchte mich bei den Haushältern, beim Bundesinnenminister, aber auch bei Ihren Beamten und Ihrem Haus bedanken. Ich weiß, ich habe Sie oft mit meinen Fragen herausgefordert.
Sie haben sich immer alle Mühe gegeben, sie zu beantworten. Das geschah nicht immer zu meiner Zufriedenheit; das liegt aber wahrscheinlich in der Natur der Sache. Trotzdem gilt mein herzlicher Dank allen Beteiligten. Sie werden es nicht anders vermuten: Das waren mehr oder weniger die letzten netten Worte, die ich heute finden kann.
Im Sommer habe ich mit der mir eigenen Nettigkeit einer Oppositionspolitikerin die Politik im Innenbereich der großen Koalition als Dreiklang bezeichnet: mehr Ankündigungen als Taten, Zerstrittenheit in den meisten Themen und Fortsetzung des Abbaus der Bürgerrechte.
Das kann ich heute immer noch unterstreichen. Es hat sich aus meiner Sicht nicht erledigt. Ich habe festgestellt, dass ein neuer Dreiklang hinzugekommen ist, Herr Innenminister, der Folgendes beinhaltet: am Haushalt vorbei,
an den Betroffenen und am Parlament vorbei, allein gelassen und allein entscheiden.
Zuerst zum Punkt: alleine entscheiden und ein wenig am Parlament vorbei. Das betrifft das Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit. Ich möchte das Verfahren formal rügen. Es ist sicher richtig, wenn Sie sich darauf beziehen, dass dieses Thema formal in den Haushaltsausschuss gehört.
Aber Sie haben versucht, an den Kollegen im Innenausschuss vorbei zu entscheiden, und haben es erst auf Druck der FDP im Haushaltsausschuss dann doch in den Innenausschuss geschoben. Ich finde, so kann man mit dem Parlament und seinen Fachpolitkern nicht umgehen.
Ich muss das kritisieren. Es ist schon bedenklich - ich bin Innenpolitikerin und zufällig stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss und darf deshalb dort Fragen stellen -, dass die Fragen, die man zu diesem Thema hat, erst im Haushaltsausschuss beantwortet werden, aber nicht im zuständigen Innenausschuss. So ist es passiert. Das ist kein ordentlicher Umgang mit dem Parlament.
Mit den Maßnahmen, Herr Innenminister, die Sie in der ersten Lesung angekündigt haben - Sprengstoffhunde und Wärmebildkameras für den Schutz von Bahnanlagen -, haben wir überhaupt kein Problem. Man könnte höchstens fragen, warum es erst jetzt mehr Geld dafür gibt. Aber dabei haben Sie unsere Unterstützung. Genauso haben Sie unsere Unterstützung, wenn es darum geht, mehr Personal einzustellen, das sich mit Islamismus und islamistischer Bedrohung beschäftigt.
Wir brauchen Dolmetscher und Personal, das sich auskennt. Das ist überhaupt keine Frage.
Aber die weiteren Maßnahmen, die sich dahinter verbergen, sind aus unserer Sicht mehr als bedenklich.
Zum Beispiel soll es mehr Geld für die Entwicklung von Programmen geben, die es ermöglichen, die Bilder von Überwachungskameras mit biometrischen Daten abzugleichen. Das sind nicht nur Fahndungsdaten, sondern es geht - Ihr Staatssekretär Hahlen hat es mir erläutert - um Personen, die sich auf Bahnhöfen auffällig benehmen. Ich möchte einmal sehen, wie Sie das genau definieren. Aus unserer Sicht gibt es dafür keine Rechtsgrundlage. Das ist ein unzulässiger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dies wurde ohne jede Diskussion hier im Haus geplant.
Das nächste Beispiel: die geplante Kommunikationsinfrastruktur. Warum brauchen wir parallel zum BOS-Digitalfunk, der teuer genug sein wird, eine neue Kommunikationsinfrastruktur?
Herr Innenminister, Sie haben auf diese Frage geantwortet, dass es sicherer sein muss. Diese Prioritätensetzung kann ich nicht verstehen. Entweder ist der BOS-Digitalfunk sicher oder er ist nicht sicher. In dem Fall müssten wir die Ausschreibung verändern. Aber so, wie Sie das hier machen, geht es sicher nicht.
Zu diesen Punkten haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt. Denn wir finden, das Parlament muss sich mit diesen Fragen beschäftigen und nicht der Flurfunk des Bundesinnenministeriums.
Zum nächsten Punkt: alleine entscheiden und an den Betroffenen vorbei. Dazu fallen mir zwei Sachen ein, zum einen der geplante Umzug der Abteilung 6 des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Aus unserer Sicht ist das weder aus fachlichen noch aus finanziellen Gründen geboten. Es gibt in Berlin noch keinen Ersatzstandort für diese Abteilung. Die Kommunikation im Haus wird dadurch sicher nicht verbessert. Es gibt aus unserer Sicht nur eine logische Erklärung dafür: Sie bereiten damit den Gesamtumzug vor. Interessant ist hierbei übrigens, dass Herr Bosbach Sie kritisiert, während Herr Wiefelspütz Sie lobt. Interessant ist auch, dass sich CDU- und CSU-Abgeordnete, als sie noch in der Opposition waren, gegen eine weitere Zentralisierung ausgesprochen haben. Die entsprechende Pressemitteilung wurde allerdings von der Homepage der Kollegen gelöscht. Ich weiß jetzt auch, warum. Man kann sicherlich umstrukturieren, wenn man es für nötig hält. Aber ich finde, die Mitarbeiter haben es verdient, von Ihren Plänen nicht erst aus der Zeitung zu erfahren.
Genauso geht es den Mitarbeitern der Bundespolizei. Veränderungen, die diesen Bereich berühren - dies betrifft fast die Hälfte Ihres Etats -, sind sicherlich klug und richtig. Aber wenn sie diejenigen, die für unsere Sicherheit sorgen und sie garantieren sollen, in so hohem Maße verunsichern, dann ist das kontraproduktiv für die Sicherheit in unserem Land.
Noch eine kurze Bemerkung zur Antiterrordatei. Die Anhörung, die zu diesem Thema durchgeführt wurde, hat die meisten Zweifel der Opposition voll bestätigt.
Es ist offensichtlich so, dass dann, wenn man versucht, eine Entscheidung zu treffen und daran Bund und Länder, sozusagen eine ganz große Koalition, zu beteiligen, letztlich nicht mehr viel Kluges übrig bleibt.
Wir stellen fest: Offensichtlich ist die große Koalition sich selbst gut genug, weil sie Opposition und Regierung in einem ist.
Anders können wir es uns nicht erklären, dass es nach dieser Anhörung noch kein Berichterstattergespräch gegeben hat. Wenn wir Glück haben, findet ein solches Gespräch am kommenden Dienstag statt, also einen Tag bevor dieses Thema im Ausschuss behandelt wird. Ich finde, so sollte man nicht mit der Opposition umgehen.
Nun komme ich noch einmal darauf zu sprechen, was ich mit ?allein gelassen“ meine. In der letzten Woche konnten wir erleben, dass der Bundesinnenminister und die innenpolitischen Sprecher der Koalition von den CDU-Innenministern der Länder ganz en passant beschädigt worden sind. Es ging um die Frage, wie wir das Bleiberecht regeln. Dazu haben Sie einen Vorschlag gemacht. Aufgrund der Bedenken, die wir vorgetragen haben, dass es doch nicht richtig sein kann, dass die Innenminister der Länder hierzu Regelungen im Rahmen der IMK treffen und wir ihre Entscheidungen nur noch umsetzen dürfen, haben Sie sich Mühe gegeben, einmal andersherum vorzugehen. Doch was ist passiert? Sie liefen bei ihren Länderkollegen voll auf. Das sollte für Sie ein Alarmzeichen sein. Ich bin mir nicht sicher, wie Sie in den kommenden Jahren noch ernsthaft Politik für die Sicherheit in diesem Lande machen wollen, wenn ihre Kollegen aus den Ländern Sie immer wieder zurückpfeifen.
Sie wissen, dass wir den Beschluss zum Bleiberecht begrüßt haben. Aber im Interesse der Beteiligten hoffen wir, dass nun auch die Frage der Vorrangregelung aufgegriffen wird und die entsprechenden Rechtsgrundlagen geschaffen werden, damit die Betroffenen hier bleiben können. Ansonsten wäre das ein Muster ohne Wert, was ich für noch viel schlimmer halten würde als die Tatsache, dass Ihre eigenen Leute Sie ziemlich stark beschädigt haben.
Dieser Kompromiss ist ohne weitere Änderungen nur eine leere Hülle.
Wir Liberalen hoffen, dass aus dem Dreiklang ?allein gelassen, allein entscheiden und am Parlament und den Betroffenen vorbei“ in den nächsten Jahren eine rechtsstaatliche Innenpolitik wird. Wenn das so ist, dann sind wir an Ihrer Seite.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Michael Luther (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die große Koalition bringt unser Land voran.
Das wird auch daran deutlich, dass sie nun ein Jahr lang erfolgreich im Bereich der Innenpolitik gearbeitet hat. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, unserem Innenminister Wolfgang Schäuble für dieses eine Jahr erfolgreicher Arbeit zu danken.
Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei meinen Mitberichterstattern, ganz besonders natürlich bei meiner Koalitionskollegin Bettina Hagedorn, für die gute Zusammenarbeit. Ich denke, wir sind im Interesse einer qualifizierten Innenpolitik aus der Sicht der Haushälter im letzten Jahr ein gutes Team geworden.
Unsere Politik ist geprägt von Haushaltskonsolidierung und von Haushaltswahrheit und -klarheit. So haben wir uns zum Beispiel vorgenommen, die globale Minderausgabe in zwei Schritten aufzulösen: Akt eins fand in diesem Jahr statt, Akt zwei wird im Jahre 2008 stattfinden. Dabei verlieren wir allerdings nicht aus den Augen, dass das Bundesinnenministerium eine ganz besondere politische Verantwortung für dieses Land hat.
So kommt es im Jahre 2007 aufgrund der besonderen Aufgaben und trotz aller Konsolidierungsbemühungen zu einem leichten Aufwuchs des Haushaltsansatzes. Zurückzuführen ist das unter anderem auf die Sonderkosten im Zusammenhang mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und der G-8-Präsidentschaft. Auch die Übernahme der Versorgungstitel in die Einzelpläne kostet leider Geld. Eine wesentliche Zusatzausgabe verursacht jedoch die reale Gefährdungslage in Deutschland. Zur Gewährleistung der inneren Sicherheit muss also mehr getan werden.
Wie nötig das ist, zeigten die versuchten Kofferbombenanschläge auf Regionalzüge in Koblenz und Dortmund im Sommer dieses Jahres. Ich nenne auch den in dieser Woche bekannt gewordenen und verhinderten Sprengstoffanschlag, den fünf mutmaßliche Terroristen aus dem Rhein-Main-Gebiet auf ein Flugzeug verüben wollten. Er konnte durch Telefonüberwachung verhindert werden. Dieser Anschlagsversuch zeigt allerdings auch den Ernst der Lage.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass auch wir im Fadenkreuz des Terrorismus stehen. Ich zitiere: Und alle, die bislang darauf spekulierten, das deutsche Nein zum Irakfeldzug wäre eine Art Garantieschein für ein Leben ohne terroristische Bedrohung, werden ihre Hoffnung jetzt korrigieren müssen. So lautet ein Kommentar in der ?FAZ“ aus dieser Woche. - Wir müssen also vorbereitet sein.
Um Brände zu verhindern bzw. deren Folgen einzudämmen, sind wir präventiv tätig: Wir bauen zum Beispiel Brandmeldeanlagen und Fluchttreppen in Gebäude ein, wir schaffen moderne Feuerwehrautos und Ausrüstung für die Feuerwehrleute an. Wir hoffen natürlich, dass das Material nicht gebraucht wird. Aber wir wissen, dass es irgendwann einmal brennen kann. Deshalb halten wir die Vorsorge für absolut wichtig.
Genauso notwendig ist die Sicherheitsvorsorge durch das Bundesinnenministerium. Wir müssen alles tun, um die terroristischen Gefahren abzuwehren. Wir wissen zwar, wir werden nicht alles verhindern können. Aber es wäre fahrlässig, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun würden. Deshalb und wegen der neuen Erkenntnisse über die Sicherheitslage in Deutschland, die erst nach der Aufstellung des Haushaltes durch die Bundesregierung gewonnen wurden, haben wir im Haushaltsausschuss das ?Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“ aufgelegt.
Frau Piltz, ich will zu dem, was Sie ausgeführt haben, klar sagen: Wir haben unter den Berichterstattern im Haushaltsausschuss sehr umfangreich - viele Stunden - darüber debattiert.
Wir haben auch darum gebeten, dass der Fachausschuss darüber diskutiert.
Es kam lediglich aus Geschäftsordnungsgründen zu keinem Beschluss im Innenausschuss. Aber die positive Meinungsbildung des Innenausschusses hat der Haushaltsausschuss sehr wohl zur Kenntnis genommen.
Bei diesem Programm geht es beispielsweise um zusätzliche Sprengstoffspürhunde und um luftgestützte Wärmebildkameras. Es geht aber auch um die Antiterrordatei, die voraussichtlich noch in diesem Jahr Gesetzeskraft erlangt und für die wir Vorsorge im Haushalt treffen müssen. Insoweit sind die Formulierungen im Entschließungsantrag der FDP falsch: Es geht um die Onlinedurchsuchung entfernter PCs, nicht um die Onlineüberwachung, wie Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, meine Damen und Herren von der FDP.
Im Übrigen hat das eine rechtliche Grundlage, was in den Gesprächen auch deutlich geworden ist.
Es geht ferner um die Entwicklung biometrischer Identifizierungsmethoden, ebenfalls ein wichtiges sicherheitspolitisches Thema. Es handelt sich also um ein ganzes Bündel von sicherheitspolitischen Maßnahmen, um der terroristischen Gefahr wirksamer entgegentreten zu können.
Leider muss ich feststellen, dass die FDP mit ihrem Entschließungsantrag zeigt, dass sie bei der Sicherheitspolitik für die Bürger in unserem Land auf der Bremse steht.
An dieser Stelle möchte ich ganz besonders unseren Sicherheitsbehörden, insbesondere dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Dank sagen für ihre gute Arbeit.
Die Einführung des bundesweiten digitalen Sprechfunkdatennetzes für die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben war auch in diesen Haushaltsberatungen ein wichtiges Thema.
Die Einführung des BOS-Digitalfunks ist überfällig. Wir Haushälter haben die nötigen Weichen für den Haushalt 2007 und folgende gestellt. Positiv für dieses Jahr ist zu vermerken, dass im Sommer der Bund-Länder-Vertrag über die Errichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben unterzeichnet wurde.
Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern beim Digitalfunk ist damit für die Zukunft sichergestellt. Den Zuschlag für die Systemtechnik haben im Zuge eines Ausschreibungsverfahrens EADS und Siemens bekommen. Das Sorgenkind ist noch der Vertrag über den Aufbau und Unterhalt der notwendigen Infrastruktur. Die Verhandlungen mit der DB Telematik laufen leider immer noch,
auch wenn in den letzten Wochen endlich Bewegung in die Verhandlungen gekommen ist. Dieser Zustand ist absolut unbefriedigend. Ich sage an dieser Stelle ganz klar: Die Bahn muss wissen, dass sich der Bund nicht ewig auf der Nase herumtanzen lassen kann.
Ich setze aber darauf, dass wir bis Ende dieses Jahres mit der Bahn zu Potte kommen.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein anderes wichtiges Thema ansprechen, das die Öffentlichkeit bewegt hat und bei dem wir ebenfalls Haushaltsvorsorge betrieben haben. Wir Berichterstatter des BMI beschäftigen uns zurzeit mit der zukünftigen Unterbringung des Ministeriums. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: erstens der Verbleib in Alt-Moabit, zweitens ein Neubau und drittens die Nutzung anderer Standorte. Die Entscheidung soll 2007 fallen, und zwar - das will ich an dieser Stelle klar betonen - für die kostengünstigste Variante.
Obwohl also noch keine Entscheidung gefallen ist, müssen wir im Haushalt Vorsorge für den Fall treffen, dass es einen Neubau geben wird. Das verlangt einfach eine seriöse Haushaltspolitik. Weil es noch keine Entscheidung gibt, haben wir diesen Ansatz aber gesperrt.
Zu einem weiteren Thema. Die erfolgreiche Eingliederung und Einbindung von Migranten in unserem Land ist für die Zukunft äußerst wichtig. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration ist das Erlernen der deutschen Sprache. Die Koalition hat den Titel für entsprechende Integrations- und Sprachkurse für den kommenden Haushalt deshalb bedarfsgerecht etatisiert.
Durch einen Haushaltsvermerk ist gegebenenfalls entstehender Mehrbedarf gesichert.
Die von der Linken mit ihrem Antrag geforderte Erhöhung des Baransatzes ist blanker Populismus, weil sie letztendlich am momentanen Bedarf vorbeigehen würde.
Wir wissen, dass mehr getan werden muss. Deshalb gibt es ja den Integrationsgipfel der Bundesregierung. Seriöserweise müssen wir dessen Ergebnis aber erst einmal abwarten - Mitte nächsten Jahres ist es zu erwarten -, bevor der neue Bedarf - insbesondere für den Bundeshaushalt 2008; es geht also um die neue Haushaltsaufstellung - festgestellt werden kann. Daneben müssen wir auch über die Mehrbedarfe reden, die 2007 noch notwendig werden, und sie durch entsprechende Umschichtungen realisieren. Ich denke allerdings, es ist blanke Spekulation, jetzt zu sagen, wie viel das ist.
Meine Damen und Herren, der Sporthaushalt, der 2006 noch im Zeichen der Fußball-WM stand, wird im Jahre 2007 durch die Vorbereitung auf die Olympischen und die Paralympischen Sommerspiele 2008 in Peking geprägt sein. Deshalb wird die Förderung des deutschen Spitzensports auch 2007 auf hohem Niveau fortgeführt.
Staat und Sport verstehen sich als Partner, die zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang ist die Fusion des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees zum Deutschen Olympischen Sportbund von uns ausdrücklich zu begrüßen.
Eine erfolgreiche Dopingbekämpfung ist nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Sport und den staatlichen Institutionen zu gewährleisten. Die Bemühungen der Bundesregierung zur Bekämpfung des Dopings im Sport werden deshalb fortgesetzt. Neben den bekannten Maßnahmen zur Dopingbekämpfung begrüße ich in diesem Zusammenhang die vorgesehene Kapitalaufstockung für die NADA durch den Bund in Höhe von 2 Millionen Euro aus Restmitteln der Kulturstiftung für die Fußball-WM.
Für mich ist der Umgang mit den Spätaussiedlern in Deutschland und mit den verbliebenen deutschen Minderheiten in den Staaten Osteuropas ein wichtiges Thema. Auch wenn wir etwas weniger Geld als im letzten Jahr dafür ausgeben, kann die Bundesregierung mit diesen Mitteln die Rückführung, die Erstaufnahme und die Eingliederung von Spätaussiedlern sowie die Förderung der verbliebenen deutschen Minderheiten in den Staaten Osteuropas fortführen.
Einen Schwerpunkt dabei bildet die Förderung der Begegnungsstätten und des außerschulischen deutschen Sprachangebotes. Die Förderung der deutschen Sprache erfolgt dabei unter zwei Gesichtspunkten: Die außerschulischen Deutschkurse dienen der Stärkung und Wiedergewinnung der kulturellen Identität, wodurch den Bleibewilligen geholfen wird. Künftige Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen sind ebenfalls berechtigt, an den Kursen teilzunehmen. Das Zuwanderungsgesetz verlangt von nicht deutschen Ehegatten und Abkömmlingen eines Spätaussiedlers für die Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Dadurch schaffen die Deutschkurse in Russland die Voraussetzung für die Integration der Spätaussiedler und ihrer Familienangehörigen in Deutschland.
Lassen Sie mich noch kurz auf das THW zu sprechen kommen. Wir wissen, wie wichtig diese Organisation für uns auch im Bereich des Katastrophenschutzes ist. Das THW hat in den letzten Jahren mit seinen vielen ehrenamtlichen Mitgliedern in diesem Bereich hervorragende Arbeit geleistet.
Der Haushaltsausschuss hat es geschafft - darüber freue ich mich besonders -, dass wir das THW gerade im Bereich der Jugendarbeit stärken konnten.
Wie schon im letzten Jahr lag auch in diesem Jahr der Schwerpunkt der Arbeit des Haushaltsausschusses auf der Konsolidierung des Haushaltes. Gleichzeitig haben wir im Haushalt weitere notwendige Schwerpunkte gesetzt. Wir haben harte Haushaltsverhandlungen geführt.
Die Bürger unseres Landes haben nämlich ein Recht darauf, dass wir hart an unserem Haushalt arbeiten. Wir haben dabei eine gute Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Ministeriums erlebt. Es war sicherlich nicht immer einfach mit uns.
Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle für die gute Zusammenarbeit recht herzlich bedanken.
Wir bringen diese Woche den Bundeshaushalt auf den Weg.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr. Sie reden auf Kosten Ihrer Fraktion.
Dr. Michael Luther (CDU/CSU):
Auf diesem Bundeshaushalt lässt sich aufbauen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Jan Korte, Fraktion Die Linke.
Jan Korte (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich fange mit etwas Gutem an: Ich freue mich, dass Herr Bundesminister Schäuble diese Woche noch keinen Bundeswehreinsatz im Inneren gefordert hat. Das ist ein echter Fortschritt und das freut uns.
Zum Einzelplan 06 muss ich aber feststellen, dass das ?Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“ ein weiterer Schritt zum Demokratieabbau ist.
Dieser Haushalt ist durch drei Punkte gekennzeichnet. Erstens schreitet die Privatisierung von Sicherheit und Sicherheitsdienstleistungen voran. Zweitens wird das Trennungsgebot aufgehoben, das Polizei und Geheimdienste aus guten Gründen voneinander trennt. Drittens wird die Einschränkung von Grundrechten fortgesetzt.
Insgesamt sind in den letzten Jahren - das muss man sich immer wieder vor Augen führen - weit über 160 Gesetze zur Erhöhung der Sicherheit bzw. des Sicherheitsgefühls verabschiedet worden. Immer wieder wurden in den letzten Jahren wie auch in den letzten Tagen Bedrohungsszenarien an die Wand gemalt, die gar nicht verifizierbar sind. Eine ganze Zeit lang war es die organisierte Kriminalität, die als besonders bedrohlich galt. Dann waren es kriminelle Ausländer und jetzt ist es der internationale Terrorismus.
All das dient dazu, bei staatlichen Maßnahmen einseitig aufzurüsten, ohne zu diskutieren, zu evaluieren und in sich zu gehen, ob diese Maßnahmen etwas taugen.
Denn bis dato waren die bisherigen Regelungen doch offensichtlich ausreichend, was die aktuellen Vorfälle auch belegt haben.
Zur Antiterrordatei ist viel gesagt und geschrieben worden. Hier wächst zusammen, was wahrlich nicht zusammengehört. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Es war eine Lehre aus dem NS-Faschismus in Deutschland, dass es diese strikte Trennung geben muss und sollte. Ich finde, man darf die Erfahrungen aus dieser Zeit nicht vergessen.
Das konkrete Problem bei der Antiterrordatei besteht darin, dass es dabei um Gesinnungsschnüffelei geht. Dafür gibt es zwei deutliche Indizien: zum einen das Freitextfeld und zum anderen, dass auch die Religionszugehörigkeit gespeichert wird. Das bedeutet nichts anderes als die Pauschalverurteilung einer bestimmten Gruppe.
Wir prophezeien, dass wie beim großen Lauschangriff, beim Luftsicherheitsgesetz und bei einer exzessiven Rasterfahndung das Bundesverfassungsgericht auch der Antiterrordatei einen Riegel vorschieben wird. Ich bin auch sehr froh darüber, dass das Bundesverfassungsgericht ein Auge darauf hat.
Der zweite Punkt, durch den der Haushalt gekennzeichnet ist, ist, dass die Dienste, insbesondere die Geheimdienste, mehr Mittel bekommen sollen. Das muss man sich einmal vorstellen: Ausgerechnet die Dienste, die offensichtlich - der BND-Untersuchungsausschuss tagt gerade - völlig außer Rand und Band geraten und in keiner Weise mehr zu kontrollieren sind, erhalten als Belohnung mehr Mittel.
Ich erinnere nur an die Bespitzelung von Journalisten, die Einzelschicksale el-Masri, Zammar und Kurnaz sowie - last, but not least - die ununterbrochene Bespitzelung von linken Bundestagsabgeordneten, wovon die Dienste im Moment reichlich Gebrauch machen. Statt diesen Diensten mehr Geld zu geben, sollte endlich dafür Sorge getragen werden, dass die Dienste wieder ins Lot kommen und einer parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden.
Zurzeit führt jeder Euro mehr für die Dienste zu einer Selbstentmündigung dieses Hauses; das muss man so deutlich sagen.
Der dritte Punkt ist das so genannte ?Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“. Das Verfahren ist schon - zu Recht - kritisiert worden. Was steht dort eigentlich? Das Gute an dem Programm ist, dass dort endlich einmal Klartext geredet wird. Unter Verzicht auf verschwommene Formulierungen wird dort deutlich gesagt, was man eigentlich vorhat. Drei Beispiele dafür:
Erstens. Dort steht zum weiteren Ausbau der Onlinedurchsuchung - ich zitiere -:
Ein wichtiger Baustein hierfür ist die technische Fähigkeit, entfernte PC auf verfahrensrelevante Inhalte hin durchsuchen zu können, ohne tatsächlich am Standort des Gerätes zu sein.
Das bedeutet nichts anderes als staatlich sanktioniertes Hacking in fremden Computern. Man greift also wieder in die geschützte Privatsphäre der Menschen ein. Nichts anderes steht in diesem Programm.
Zweitens. Sie sind wahre Sicherheitspopulisten, wenn es darum geht, auf die Ängste der Bevölkerung zu reagieren. Sie kennen lediglich eine Antwort: eine weitere technische Aufrüstung. Das steht auch in diesem Programm deutlich. Danach soll die Videoüberwachung inklusive Gesichts- und Mustererkennung drastisch ausgebaut werden. Das wird auf Dauer zu britischen Verhältnissen führen. In britischen Großstädten wird jeder Mensch mittlerweile 300-mal am Tag gefilmt. Diesen Weg wollen wir nicht gehen.
Hinzu kommt, dass mit der neuen Technik Bewegungsmuster erstellt werden, sodass sich niemand mehr im öffentlichen Raum unbeobachtet bewegen kann. Wir fordern eine Diskussion darüber, ob das ein Weg sein kann, um für mehr Sicherheit in der Bundesrepublik zu sorgen. Wir glauben, dass dem nicht so ist.
Drittens. Die Zusammenarbeit und insbesondere der Datenaustausch zwischen Bundesbehörden und privaten Sicherheitsfirmen sollen mit dem Programm forciert werden. Ich finde, es ist äußerst fragwürdig, die Privatisierung in solchen sensiblen Bereichen voranzutreiben. Die Fehlerquoten am Frankfurter Flughafen haben doch gezeigt - ich zitiere den GdP-Vorsitzenden -: ?Von Sicherheit kann man nicht reden.“ Die Privatisierung von öffentlicher Sicherheit ist - zu privatisieren ist bei Ihnen ein beliebtes Vorgehen auf allen Politikfeldern - grundsätzlich falsch. Ein erster richtiger Schritt wäre, gut ausgebildetes und vor allem gut bezahltes Personal auf dem Frankfurter Flughafen einzusetzen. Wer für 5 Euro brutto einen solchen Job macht, von dem kann man nicht erwarten - das wird jeder Arbeitssoziologe bestätigen -, dass er sich besonders engagiert.
Für unsere Forderung nach einem Mindestlohn spricht damit auch ein Sicherheitsargument. Das sei aber nur am Rande bemerkt.
Was ist also zu tun? Wir sollten aufhören, die Sicherheit weiter zu privatisieren, und von flächendeckenden Überwachungen Abstand nehmen. Wir sollten außerdem keine unhaltbaren Sicherheitsversprechen machen; denn wir müssen uns kritisch fragen, ob die Gesetze und Maßnahmen, die mehr Sicherheit versprechen, nicht das zerstören, was sie eigentlich schützen sollen, nämlich die Freiheit und die Bürgerrechte. Hier ist eine ehrliche Analyse notwendig, aus der hervorgeht, was uns weiterbringt.
Zum Schluss ist festzustellen: Dieser Haushalt ist ein Dokument des Misstrauens gegen weite Teile der Bevölkerung. Er bedeutet einen weiteren Schritt in die totale Sicherheit in unserem Land. Unsere Demokratie wird dadurch jedes Jahr ein bisschen weiter geschwächt, aber in der Gesamtsumme ist das ein wirklich nicht mehr hinzunehmender Grundrechte- und Demokratieabbau. Ich frage Sie: Wann ist eigentlich Schluss? Wann haben wir nach Ihrer Meinung die größtmögliche Sicherheit erreicht? Diese Frage müssen Sie irgendwann einmal beantworten können. Das würde mich wirklich interessieren. Wann ist der Datenhunger der Dienste und der Bundesregierung gesättigt? Ich hoffe, dass es dann nicht zu spät ist. In diesem Sinne lehnen wir selbstverständlich auch diesen Einzelplan ab.
Schönen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion.
Bettina Hagedorn (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als zuständige Hauptberichterstatterin bin ich froh, heute nach anstrengenden Beratungen den Einzelplan des Bundesinnenministeriums vorstellen zu können. Zusätzlich zu den üblichen Haushaltsberatungen mit einem Gesamtvolumen von 4,48 Milliarden Euro hatten wir Berichterstatter es mit großen und weit über den Einzelplan hinaus relevanten Themengebieten von hoher finanzieller Brisanz und Aktualität zu tun, die uns Beratungsstoff für viele zusätzliche Berichterstattergespräche bescherten. Kollegin Piltz, Sie haben vorhin angemahnt - das galt für die Innenpolitiker -, sie wünschten sich mehr Berichterstattergespräche. Ich nehme an, Ihr Kollege Koppelin kann das für den Haushalt nicht bestätigen.
Lassen Sie mich einige dieser heißen Eisen, die uns beschäftigt haben, nennen. Ein Stichwort ist der Digitalfunk. Mein Kollege Herr Dr. Luther hat es schon genannt. Wir haben seit dem Sommer mit dem Vertragsabschluss mit EADS und DB Telematik zu tun. Wir hoffen, dass die Verhandlungen im Dezember in die entscheidende Phase kommen. Die SPD steht uneingeschränkt zur notwendigen Einführung des Digitalfunks in Deutschland. Sicherheitskräfte in Bund, Ländern und Kommunen warten darauf zur Optimierung ihrer Arbeit. Insgesamt stehen 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung. Man muss allerdings nicht prophetisch begabt sein, um zu prognostizieren, dass das Geld leider nicht ausreichen wird, um den Digitalfunk in Deutschland zu realisieren. Noch vor Weihnachten, Frau Kollegin Piltz, werden wir ein Berichterstattergespräch zu diesem Thema führen.
- Da sind Sie wahrscheinlich schon in Urlaub, Herr Kollege Koppelin.
Ein weiteres Stichwort ist der möglicherweise zu planende Neubau für das Bundesinnenministerium, ein Thema, das auch vor dem Hintergrund sehr ernst zu nehmender Berichte des Bundesrechnungshofes über abenteuerliche Vertragsabschlüsse in den 90er-Jahren allein in diesem Jahr Stoff für drei Berichterstattergespräche bot. Die Mittel für einen möglichen Neubau sind gesperrt. Wir haben uns aber vorgenommen, im ersten Quartal 2007 zu einer Entscheidung über eine dauerhafte Unterbringung des Innenministeriums zu kommen. Doch sind nicht nur Neubaupläne für das Bundesinnenministerium in der Diskussion; für insgesamt sechs Ministerien werden zurzeit Um- und Neubauten geplant und erstellt, von nachgeordneten Behörden ganz zu schweigen.
Das ist grundsätzlich gut so. Wir müssen in unserer Hauptstadt auf Dauer optimale Arbeitsmöglichkeiten für die hier anzusiedelnden Ministerien und Behörden schaffen, damit effektiv gearbeitet werden kann. Richtig ist es darum auch, dass gerade der Haushaltsausschuss im Zusammenhang mit solcher Bautätigkeit Fragen nach einer langfristig sinnvollen Arbeitsstruktur der Ressorts stellt. Dabei geht es um Konzepte, um Aufgaben, Personalkörper, dazu passende Bauvorhaben und natürlich auch um Standorte. Es geht um die langfristig effektive Aufgabenerfüllung und den wirtschaftlich vernünftigen Einsatz von Mitarbeitern. Dabei darf es kein Tabu geben, auch nicht beim Berlin/Bonn-Gesetz.
Wie mein Kollege Jochen Fromme von der Union schon vorgestern in seinem Redebeitrag darstellte, haben wir gemeinsam auf unserer Haushaltsklausur angeregt, das Berlin/Bonn-Gesetz auf den Prüfstand zu stellen. Das Echo war, wie nicht anders anzunehmen, gespalten. Doch zunehmend merkten wir gemeinsam, dass die Bereitschaft, parteiübergreifend vernünftig und offen über Effizienzgewinne in der Bundesverwaltung zu sprechen, steigt. Bei der Diskussion geht es letzten Endes um langfristige, zukunftsfähige Lösungen, die für den Regierungssitz Berlin ebenso zukunftsweisend wie für den Bundeshaushalt tragbar sind und die gleichzeitig für den Raum Bonn nicht den befürchteten Untergang des Abendlandes bedeuten müssen.
Wir wollen dabei nichts übers Knie brechen. Wir sind uns aber als Haushaltsausschussmitglieder in einer großen Koalition sehr wohl der Tatsache bewusst, dass es vermeintliche Tabuthemen gibt, die anzupacken und mehrheitsfähig zu machen wir nur in dieser Konstellation in der Lage sind.
Bettina Hagedorn (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als zuständige Hauptberichterstatterin bin ich froh, heute nach anstrengenden Beratungen den Einzelplan des Bundesinnenministeriums vorstellen zu können. Zusätzlich zu den üblichen Haushaltsberatungen mit einem Gesamtvolumen von 4,48 Milliarden Euro hatten wir Berichterstatter es mit großen und weit über den Einzelplan hinaus relevanten Themengebieten von hoher finanzieller Brisanz und Aktualität zu tun, die uns Beratungsstoff für viele zusätzliche Berichterstattergespräche bescherten. Kollegin Piltz, Sie haben vorhin angemahnt - das galt für die Innenpolitiker -, sie wünschten sich mehr Berichterstattergespräche. Ich nehme an, Ihr Kollege Koppelin kann das für den Haushalt nicht bestätigen.
Lassen Sie mich einige dieser heißen Eisen, die uns beschäftigt haben, nennen. Ein Stichwort ist der Digitalfunk. Mein Kollege Herr Dr. Luther hat es schon genannt. Wir haben seit dem Sommer mit dem Vertragsabschluss mit EADS und DB Telematik zu tun. Wir hoffen, dass die Verhandlungen im Dezember in die entscheidende Phase kommen. Die SPD steht uneingeschränkt zur notwendigen Einführung des Digitalfunks in Deutschland. Sicherheitskräfte in Bund, Ländern und Kommunen warten darauf zur Optimierung ihrer Arbeit. Insgesamt stehen 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung. Man muss allerdings nicht prophetisch begabt sein, um zu prognostizieren, dass das Geld leider nicht ausreichen wird, um den Digitalfunk in Deutschland zu realisieren. Noch vor Weihnachten, Frau Kollegin Piltz, werden wir ein Berichterstattergespräch zu diesem Thema führen.
- Da sind Sie wahrscheinlich schon in Urlaub, Herr Kollege Koppelin.
Ein weiteres Stichwort ist der möglicherweise zu planende Neubau für das Bundesinnenministerium, ein Thema, das auch vor dem Hintergrund sehr ernst zu nehmender Berichte des Bundesrechnungshofes über abenteuerliche Vertragsabschlüsse in den 90er-Jahren allein in diesem Jahr Stoff für drei Berichterstattergespräche bot. Die Mittel für einen möglichen Neubau sind gesperrt. Wir haben uns aber vorgenommen, im ersten Quartal 2007 zu einer Entscheidung über eine dauerhafte Unterbringung des Innenministeriums zu kommen. Doch sind nicht nur Neubaupläne für das Bundesinnenministerium in der Diskussion; für insgesamt sechs Ministerien werden zurzeit Um- und Neubauten geplant und erstellt, von nachgeordneten Behörden ganz zu schweigen.
Das ist grundsätzlich gut so. Wir müssen in unserer Hauptstadt auf Dauer optimale Arbeitsmöglichkeiten für die hier anzusiedelnden Ministerien und Behörden schaffen, damit effektiv gearbeitet werden kann. Richtig ist es darum auch, dass gerade der Haushaltsausschuss im Zusammenhang mit solcher Bautätigkeit Fragen nach einer langfristig sinnvollen Arbeitsstruktur der Ressorts stellt. Dabei geht es um Konzepte, um Aufgaben, Personalkörper, dazu passende Bauvorhaben und natürlich auch um Standorte. Es geht um die langfristig effektive Aufgabenerfüllung und den wirtschaftlich vernünftigen Einsatz von Mitarbeitern. Dabei darf es kein Tabu geben, auch nicht beim Berlin/Bonn-Gesetz.
Wie mein Kollege Jochen Fromme von der Union schon vorgestern in seinem Redebeitrag darstellte, haben wir gemeinsam auf unserer Haushaltsklausur angeregt, das Berlin/Bonn-Gesetz auf den Prüfstand zu stellen. Das Echo war, wie nicht anders anzunehmen, gespalten. Doch zunehmend merkten wir gemeinsam, dass die Bereitschaft, parteiübergreifend vernünftig und offen über Effizienzgewinne in der Bundesverwaltung zu sprechen, steigt. Bei der Diskussion geht es letzten Endes um langfristige, zukunftsfähige Lösungen, die für den Regierungssitz Berlin ebenso zukunftsweisend wie für den Bundeshaushalt tragbar sind und die gleichzeitig für den Raum Bonn nicht den befürchteten Untergang des Abendlandes bedeuten müssen.
Wir wollen dabei nichts übers Knie brechen. Wir sind uns aber als Haushaltsausschussmitglieder in einer großen Koalition sehr wohl der Tatsache bewusst, dass es vermeintliche Tabuthemen gibt, die anzupacken und mehrheitsfähig zu machen wir nur in dieser Konstellation in der Lage sind.
Und wir haben den Mut, diese Chance zu nutzen.
Schön ist, dass unser Antrag parteiübergreifend getragen wurde. Falsch ist aber, dass die Opposition uns bei diesem Thema zum Jagen tragen musste.
Das gilt auch für das nächste konfliktträchtige Thema, nämlich die bisherige und künftig veränderte Anwendung des Dienstrechtlichen Begleitgesetzes für Mitarbeiter, die nach Berlin umziehen. Leistungen nach dem Dienstrechtlichen Begleitgesetz und dem Umzugstarifvertrag gelten ausdrücklich nur für die vom Umzug betroffenen Beschäftigten in Bundesbehörden und -einrichtungen, die im Berlin/Bonn-Gesetz aufgeführt sind.
Am 9. November 2006 haben wir im Haushaltsausschuss erneut, und zwar auf Initiative der großen Koalition hin, einen unmissverständlichen Beschluss herbeigeführt, der jedwede anders lautende Auslegung künftig ausschließen und eine offensichtlich gängige Staatspraxis ab sofort unterbinden soll, um dadurch enorme Summen an Steuergeldern zu sparen.
Die höchste Priorität bei den Themen, die uns in den vergangenen Wochen außerhalb der eigentlichen Etatberatungen beschäftigt haben, hatte allerdings das 44 Millionen Euro schwere Sicherheitspaket, das nach den Kofferbombenfunden in Regionalzügen im Sommer eine sicherheitspolitische Debatte in Deutschland auslöste, in der es auch an absurden medienwirksamen Vorschlägen mancher Politiker nicht fehlte. Da wurden so genannte Train Marshals, also Zugbegleiter, ähnlich wie in Flugzeugen gefordert, ein Vorschlag, der allein 5 000 zusätzliche Kräfte bei der Bundespolizei erforderlich gemacht hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema innere Sicherheit verdient eine ernsthafte, nachdenkliche und unaufgeregte Diskussion statt Aktionismus. Jeder Bürger möchte Sicherheit im Inneren. Das ist ein Grundbedürfnis. Ein hohes Sicherheitsgefühl für den Einzelnen bedeutet Lebensqualität und ist ein Standortfaktor für Wirtschaft und Staat.
Aussagen und Kommentare - auch diese Debatte beschert uns das - zum letzte Woche veröffentlichten Zweiten Sicherheitsbericht der Bundesregierung spiegeln die ganze Widersprüchlichkeit zu diesem Thema in Deutschland wider.
Nun legt die Bundesregierung in dieser Situation ein neues Sicherheitspaket vor, mit dem gezielt Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheitsorgane ergriffen werden sollen, und reflexartig prangern einige Kritiker dieses als ?Angstpolitik“ an.
Herr Korte hat uns gerade ein erneutes Beispiel geliefert.
Andere wiederum, wie der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, versuchen, den Sicherheitsbericht als ?Wohlfühlbericht“ zu disqualifizieren und werfen denselben Politikern vor, die Situation zu verharmlosen und zu wenig zu tun. - Ja was denn nun?
Wie wir zu einem Mehr an innerer Sicherheit kommen, daran scheiden sich offensichtlich die Geister. Das Sicherheitspaket dient den Kritikern als vermeintliche Preisgabe liberaler Bürgerrechte; manchen geht es zu weit und anderen wiederum nicht weit genug. Die einen sehen den Datenschutz in Gefahr, die anderen kriminelle Strukturen angesichts bürokratischer Hemmnisse des Staates im Vorteil. Da wird das Schreckgespenst des Überwachungsstaates an die Wand gemalt - Herr Korte hat eben von Gesinnungsschnüffelei gesprochen - und gleichzeitig wird festgestellt - Sie hören jetzt besser zu -,
dass die oftmals überlegene technische Aufrüstung der Täter, egal ob aus organisierter Kriminalität oder terroristischer Szene, dann auch eine Nachrüstung der staatlichen Organe notwendig macht, wenn wir wollen, dass diese ihre Arbeit im Sinne der Menschen ordentlich und erfolgreich erfüllen können. Wir wollen das!
Maßnahmen für mehr innere Sicherheit sind immer eine Gratwanderung in dem eben skizzierten Sinn.
Wir diskutieren hier das ?Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“, das ein Maßnahmenbündel zur logistischen und personellen Verstärkung aller Sicherheitsorgane des Bundes enthält und für das die Bundesregierung von 2007 bis 2009 132 Millionen Euro bereitstellt, das sind 44 Millionen Euro im Jahr. Der Hauptschwerpunkt der Maßnahmen liegt mit über 64 Millionen Euro, bezogen auf diesen Dreijahreszeitraum, beim Bundesamt für Verfassungsschutz.
Herr Korte, Sie haben den Verfassungsschutz soeben in besonderer Art und Weise diffamiert. Sie müssten schon deutlich machen, was Sie eigentlich wollen. Das, was Sie hier dargestellt haben, entbehrt jeder Grundlage. Sie haben gesagt: Wir brauchen wieder eine parlamentarische Kontrolle. Ich verweise auf das Vertrauensgremium. Dort sind neben mir zwei weitere Abgeordnete meiner Fraktion Mitglied; Sie nicht, aber eine Kollegin von Ihnen. Sie haben hier alles - Bundesamt für Verfassungsschutz, BND - in einen großen Topf geworfen, das Ganze mit dem Untersuchungsausschuss vermengt, einmal kräftig umgerührt, um letzten Endes die Arbeit der Kollegen zu diffamieren.
Herr Korte, das müssen wir wirklich ablehnen. Sie stellen letzten Endes die Arbeit des Verfassungsschutzes infrage. Da machen wir nicht mit.
Wir, die SPD, sind angesichts der Analyse der Gefährdungslage der Auffassung, dass es genau richtig ist, den Schwerpunkt auf den Verfassungsschutz zu setzen.
Alle weiteren neuen Stellen sind beim Bundeskriminalamt angesiedelt. Das ist der zweite Investitionsschwerpunkt. Der Etat des BKA für 2007 wird zu diesem Zweck zielgerichtet um insgesamt 11,24 Millionen Euro aufgestockt. Mein Kollege hat zu diesem Bereich schon viel gesagt, weswegen ich darauf weniger ausführlich eingehen kann. Der Aufbau der Antiterrordatei, auf den sich die Innenministerkonferenz im September nach jahrelangem Hickhack und unter dem Eindruck der neuen Bedrohungslage endlich verständigt hat, und der beschlossene Ausbau der Erfassung sowie die Analyse von Massendaten erfordern erhebliche Mittel.
Die Bundespolizei erhält kein zusätzliches Personal - das braucht sie auch nicht -, weil sie durch die Antiterrorpakete I und II personell erheblich aufgestockt worden ist; erst in diesem Jahr sind knapp 1 200 Anwärter eingestellt worden. Dennoch erhält die Bundespolizei Spezialausrüstungen, die sie dringend braucht, zum Beispiel Wärmebildkameras zur Überwachung der Bahngleise, Videokameras zur Überwachung von Bahnhöfen oder des Flughafens Frankfurt am Main. Außerdem sollen weitere Spürhunde angeschafft werden. Das ist schon erwähnt worden.
Ich bin zuversichtlich, dass mit diesem Maßnahmebündel zielgenaue und vernünftige Vorschläge zur Verbesserung der inneren Sicherheit in Deutschland umgesetzt werden.
Ich will aber darauf hinweisen, dass die Medaille ?innere Sicherheit“ zwei Seiten hat. Wir sollten die zweite Seite nicht aus dem Blick verlieren: die Prävention. Auch sie spielt in diesem Haushalt eine erhebliche Rolle. Die Prävention wird deutlich durch ein Mehr an politischer Bildung, durch Projekte gegen Rechtsextremismus und durch die Stärkung gesellschaftlicher Initiativen für mehr Toleranz und Demokratie. Prävention heißt, Personengruppen verschiedenster Religionen und Kulturen ins öffentliche Leben unserer Gesellschaft einzubinden, sie zu beteiligen, statt sie auszugrenzen, gerade den Kindern und Jugendlichen eine faire Chance auf Bildung und Ausbildung zu geben.
Prävention meint Integrations- und Sprachkurse, eine Bleiberechtsregelung mit humanem und christlichem Antlitz und eine Stadtentwicklung, die der Gettoisierung vorbeugt.
In diesem Bundeshaushalt gibt es viele Ansätze, die für die Prävention in Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Ich freue mich ganz besonders, dass die Programme gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Einzelplan 17, durch die seit 2001 4 000 Projekte in ganz Deutschland mit mehr als 163 Millionen Euro gefördert worden sind, fortgesetzt werden. Die Mittel dafür werden sogar um 5 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt.
Auch im Haushalt des Innenministeriums haben wir ein deutliches Signal gesetzt, indem wir die Mittel für das Bündnis für Demokratie und Toleranz um 300 000 Euro aufgestockt haben. Das ist ein Plus von 40 Prozent gegenüber 2006. Unter dem Dach dieses Bündnisses arbeiten 1 300 Gruppen und Initiativen in ganz Deutschland. Die Arbeit dieser Gruppen und Initiativen gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus wird überwiegend ehrenamtlich geleistet. Das Motto lautet: Hinschauen, handeln, helfen.
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz lobt jedes Jahr einen Preis aus, der mit 1 000 bis 5 000 Euro - nicht üppig - dotiert ist. Dieser Preis wird ausnahmslos Initiativen in der ganzen Bundesrepublik verliehen, die sich diesen Zielen ohne staatliche Unterstützung verschrieben haben. Auch wenn die Preisgelder nicht hoch sind, helfen sie insbesondere dabei, das gesellschaftliche Engagement zu stärken.
Ich nutze diese Gelegenheit - aus zeitlichen Gründen kann ich das nur ganz kurz tun -, auf den Victor-Klemperer-Jugendwettbewerb hinzuweisen, den ebenfalls dieses Bündnis zusammen mit dem ZDF und der Dresdner Bank ausrichtet. Junge Menschen ab 14 Jahren sind aufgerufen, sich bis zum 31. März 2007 mit kreativen Beiträgen zu beteiligen. Über 82 000 Teilnehmer aus dem In- und Ausland haben sich in den letzten Jahren daran beteiligt.
Dass das wichtig ist und zur Stärkung der politischen Bildung junger Menschen beiträgt, konnten wir gerade jüngst vor anderthalb Wochen in Brandenburg wieder erleben, als Menschenketten und sogar ein Staffellauf von 200 Grundschülern unter dem Motto ?Bunt statt Braun“ mit selbst gemalten Plakaten klare Zeichen gegen die Aufmärsche der NPD setzten. Solche Aktionen machen Mut und verdienen unsere Unterstützung und unseren Beifall.
Eine gelungene Integrationspolitik ist wirksame Prävention. Sie hängt auch davon ab, ob die Integrations- und Sprachkurse erfolgreich und flächendeckend angeboten werden können und ob dafür genug Geld zur Verfügung steht. Ich will jetzt nicht noch einmal, wie in meiner Rede im Sommer, vertieft darauf eingehen,
aber schon sagen, dass die Mittel nach der Kürzung um 67 Millionen Euro, die im Haushalt 2006 erfolgt ist - auch jetzt ist der Titel nur mit 140 Millionen Euro dotiert -, grundsätzlich zu knapp sind, und zwar nicht nur wegen des Integrationsgipfels und zusätzlicher qualitativer Anstrengungen, die wir parteiübergeifend wollen und die ab Sommer 2007 nach der Evaluierung umgesetzt werden sollen, sondern auch deswegen, weil die Zahl der Angebote für die schon jetzt Berechtigten nicht ausreicht. Speziell für Frauen mit Bedarf an Kinderbetreuung und für Analphabeten bleibt das Angebot weit hinter dem Bedarf zurück. Ich vertraue darauf, da es im Haushalt des BMI einen Deckungsvermerk gibt, der sicherstellen soll - mein Kollege Michael Luther hat darauf hingewiesen -, dass alle Kursangebote im bisherigen Leistungskatalog zielgruppengerecht und in vollem Umfang fortgeführt werden können und dass kein Integrationswilliger abgewiesen werden muss.
- Das ist wahr. Qualifizierte Verbesserungen werden sicherlich nach der Evaluierung beschlossen und dafür werden gewiss zusätzliche Mittel benötigt werden.
Unter Prävention im weiteren Sinne ist auch der Sport zu sehen. Im Haushalt des Bundesinnenministeriums stehen dafür wieder 108,5 Millionen Euro zur Verfügung.
Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland war nicht nur ein voller Erfolg auf dem Spielfeld, nicht nur ein riesiges Sportfest für die junge Generation mit der Chance auf internationale Freundschaftsbeziehungen und Völkerverständigung, und bei ihr hat die Welt nicht nur erlebt, dass man in Deutschland fast fünf Wochen schönes Wetter haben kann - das wird die Tourismusbranche gefreut haben -, sondern die Fußballweltmeisterschaft war auch ein finanzieller Erfolg. Bei der DFB-Kulturstiftung sind 5 Millionen Euro nicht ausgegeben worden. Wir Haushälter und Sportpolitiker der großen Koalition haben uns gemeinsam darauf verständigt, dass diese 5 Millionen Euro für spezielle Projekte beim Sport verbleiben sollen.
- Ja, das ist einen Applaus wert.
Mich hat leicht irritiert - das will ich an dieser Stelle doch sagen -, dass man sich auf der Homepage des DOSB mit fremden Federn schmückt. Es ist nicht richtig, dass es auf Initiative des DOSB zu dieser Mittelverwendung kommt. Es waren die Parlamentarier aus dem Sportbereich und aus dem Haushaltsausschuss, die das gemeinsam bewegt haben. Ich würde mir schon wünschen, dass sich der DOSB möglichst um die Teile der Dopingproblematik intensiv kümmert, die auf seinem eigenen Spielfeld sind.
Damit meine ich explizit die Dopingopfer aus der Zeit der ehemaligen DDR. Ich würde mir wünschen, dass er da deutliche Schritte nach vorn geht.
Dass wir das mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt unterfüttern, haben wir schon gesagt.
- So ist es und so habe ich es auch gesagt.
Ich komme zum Schluss. Meinen Mitberichterstattern danke ich für einen fairen und konstruktiven Beratungsmarathon sowie dem Minister mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die umfangreiche Zuarbeit und Information, ganz besonders aber dafür, dass er unsere parlamentarischen Beschlüsse vom letzten Sommer in den Beratungen zum Haushalt 2006 sowohl zu den Sparanstrengungen wie auch zu unserer Schwerpunktsetzung für die Bundeszentrale für politische Bildung und für das THW ohne Wenn und Aber eins zu eins fortgeschrieben hat.
Die hier im Schnelldurchlauf diskutierten Themen -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluss kommen.
Bettina Hagedorn (SPD):
- in großer Bandbreite lieferten uns Parlamentariern in den letzten zwei Monaten Anlass für über 100 Berichtsanforderungen und intensive Beratungen mit letztlich guten Beschlüssen. Ich freue mich auf die künftige Zusammenarbeit und ich hoffe sehr, dass Sie sich mit mir darauf freuen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Luther, Frau Kollegin Hagedorn, das war ja zweifelsohne sehr interessant, was Sie hier vorgetragen haben.
Eines hat mir aber gefehlt. Darüber bin ich ein wenig enttäuscht.
- Ich habe ausreichend Redezeit. So nett ist meine Fraktion zu mir; alles überhaupt kein Problem.
In den vergangenen Tagen waren jeweils die Höhepunkte der Beiträge von Koalitionspolitikern die politischen Liebeserklärungen nach dem Motto: Wenn uns die Bevölkerung schon so wenig mag, dann mögen wir uns wenigstens selber. Bei der Beratung des Justizetats war es ganz beeindruckend, wie der Kollege Gehb Herrn Stünker um den Hals fiel. Letzterer wusste gar nicht, wie ihm geschah; gestern das Gleiche zwischen Volker Kauder und Peter Struck.
Nun war ich darauf eingestellt, dass Herr Uhl oder wenigstens Herr Grindel Herrn Wiefelspütz umarmt und von der ganz großen politischen Liebe spricht. Nichts dergleichen ist geschehen.
Da ich ja immer positiv denke, überwinde ich meine Enttäuschung und interpretiere das so, dass die SPD einen gewissen Widerstand gegenüber dem Hunger nach Sicherheitsgesetzen und Daten - Herr Kollege Korte, Sie haben es geschildert - leistet, der die konservative Seite immer wieder befällt. Wie das Krümelmonster nach Keksen ruft, rufen die Konservativen nach weiteren Gesetzen oder nach Verschärfungen von Gesetzen. Eine Sättigungsgrenze - das müssen Sie noch lernen - gibt es leider nie.
- Sie machen Zurufe. Ich interpretiere das so, dass die SPD weiterhin nicht bereit ist, alles mitzumachen. Das sollte auch so bleiben.
- Herr Koppelin, wenn ich sicher wäre, hätte ich mir nicht so viel Mühe gegeben. Damit haben Sie völlig Recht.
Der fehlenden Empathie zwischen den beiden Koalitionspartnern in der Innenpolitik entsprechen natürlich auch die mageren Ergebnisse, die in der Innenpolitik erzielt wurden. Das muss man ganz klar sagen. - Der Herr Bundesinnenminister lacht; er weiß also, wovon ich rede.
Reden wir doch einmal über das Bleiberecht. Ich habe die Rede des Bundesinnenministers dazu beim BKA in Wiesbaden gehört. Er war richtig gelöst, denn die Kuh war vom Eis. Er sprach von einer gesetzlichen Regelung, nach der nach zwei Jahren Aufenthalt Arbeit gesucht werden könne. Er bekam viel Beifall und es herrschte allgemeine Zufriedenheit. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass der Bundesinnenminister einschränkte, er müsse diese Regelung noch in Nürnberg - er müsse ja dauernd nach Nürnberg - auf der Tagung der Landesinnenminister beraten. Es tagten also die Landesinnenminister und traten dann ganz happy vor die Fernsehkameras. Herr Bouffier und Herr Körting sagten, dass nun eine gute Regelung gefunden worden sei, die darin bestehe, dass jemand, der Arbeit gefunden habe, ein Aufenthaltsrecht bekomme, während die anderen, die schon seit Jahr und Tag nur geduldet seien - und für die wir schon unter Rot-Grün eine Regelung hätten finden müssen -, weiterhin geduldet würden. Die Landesinnenminister spielten aber weiter Hauptmann von Köpenick und legten fest: ohne Arbeit keine Aufenthaltsgenehmigung. Für diesen Personenkreis gilt umgekehrt aber auch die Maßgabe: ohne Aufenthaltsgenehmigung keine Arbeit.
Damit nicht genug. Am Montag konnte man in der einen überregionalen Frankfurter Zeitung lesen, es handele sich um einen Quantensprung. So Herr Wiefelspütz,
der sich insbesondere bei Herrn Uhl bedankte. In der anderen überregionalen Frankfurter Zeitung konnte man die Aussage von Herrn Bosbach lesen: Ich denke, wir haben uns gar nicht geeinigt - ein wirklich gehaltvoller Satz. Bis heute steht infrage, ob es nun eine Einigung gibt oder nicht.
- Sie kommen aufs Stichwort, Herr Bosbach. - Das ist ja das Merkwürdige an der Union: Diejenigen, die wir früher als Fundamentalisten in der Frage der Zuwanderung erlebten, zum Beispiel Herrn Uhl und Herrn Grindel, sind unter dem Druck der Regierungsverantwortung zu so etwas wie Integrationsrealos geworden.
Auf der anderen Seite muss sich Herr Bosbach in der ?FAZ“ von Herrn Wiefelspütz sagen lassen, er solle nicht immer mit Medienvertretern, sondern mit ihm reden, er sei der Zuständige.
Herr Steinbrück sagte vor zwei Tagen: Bitte etwas fairer mit der großen Koalition sein, was die Managementqualitäten angeht; wir sollten sie mit Großkonzernen in der Bundesrepublik vergleichen.
Selbst wenn ich an die Herren Piëch, Pischetsrieder, Ackermann und wie sie alle heißen denke: Mit Ihren Bleiberechtschaostagen haben Sie die getoppt, meine Damen und Herren.
Herr Korte hat den Wunsch nach einer Woche geäußert, in der der Bundesinnenminister einmal nicht den Einsatz der Bundeswehr fordert. Die Forderung, eine Woche darüber nicht zu reden, ist bescheiden. Wir haben von Frau Merkel gehört, dass die Fußballweltmeisterschaft ein Erfolg dieser großen Koalition war. Das Sicherheitskonzept ist sicherlich erfolgreich gewesen, insbesondere wenn man die Ängste zum Beispiel im Zusammenhang mit Public Viewing, die es vorher gab, berücksichtigt. Es hat funktioniert. Aber der Beitrag des Bundesinnenministers war - das ist doch nicht vergessen - eine sinnlose Debatte über den Bundeswehreinsatz im Inneren als Hilfspolizei fast bis zum Anpfiff dieser Fußballweltmeisterschaft.
Deswegen sind wir unbescheidener und sagen zur SPD: Erreichen Sie doch wenigstens eine Schweigeverpflichtung für den Bundesinnenminister in dieser Legislaturperiode, was das Thema Bundeswehreinsatz im Inneren angeht. Das würde unsere Nerven schonen und das würde vor allem die Demokratie in der Bundesrepublik schonen.
Auch für uns Grüne steht der internationale Terrorismus natürlich im Zentrum unserer Überlegungen. Es ist nur ein Zufall, dass heute nicht Köln in einer Reihe mit Madrid und London genannt wird. Wenn es all das, was hier beschlossen werden soll - das Programm ?Innere Sicherheit“, verbesserte Videotechnik, Antiterrordatei -, damals schon gegeben hätte, hätte das nicht verhindert, dass die beiden Attentäter in die Züge einsteigen. Das ist eine bittere Wahrheit, die wehtut, aber dazu führen muss, dass wir erkennen, dass die Flucht in die Technik, die hier angetreten wird, und Massenüberwachung statt gezielter polizeilicher Arbeit der falsche Weg sind. Für uns gilt auch im Bereich der Gefahrenabwehr das Motto ?Klasse statt Masse“. Das ist anzustreben; darauf kommt es an.
Deswegen bedauern wir auch, dass wir seinerzeit mit der Forderung nach einer Strukturreformkommission für innere Sicherheit, Polizei und Geheimdienste gescheitert sind. Denn uns stellt sich die Frage, ob tatsächlich die Länderämter für Verfassungsschutz in der Lage sind, das zu leisten, was sie leisten müssen. Wir wollen nun wirklich kein Bundessicherheitsamt. Das dürfen Sie uns glauben; das wäre die falsche Antwort auf unser ausbalanciertes föderales System. Aber dass die Alternative nun gleich 38 staatliche Organisationen für den Bereich Sicherheit sein sollen, das kann uns niemand weismachen. Notwendig sind grundsätzliche Überlegungen und insoweit auch eine Evaluierung, um dazu zu kommen, dass wirklich alles getan wird, um dieser Bedrohung zu begegnen.
- Nein, im föderalen System. Das Antiterrorzentrum in Berlin-Treptow ist ein gutes Beispiel und wir haben es immer verteidigt. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, Kollege Wiefelspütz: Hätte man nicht in Schleswig-Holstein auf diesen einen jungen Mann aufmerksam werden müssen und hätte hier nicht präventiv gehandelt werden können? Wenn Sie immer sagen, die Geheimdienste seien gut kontrolliert und beaufsichtigt, dann muss ich Ihnen leider entgegnen: Das stimmt nicht. An effektiver parlamentarischer Kontrolle fehlt es nach wie vor.
- Sie nennen den Abgeordneten Ströbele. Aber er darf mir noch nicht einmal seine Erkenntnisse mitteilen.
Niemand von uns ist in der Lage, selber ein Bild des gesamten Bereiches der inneren Sicherheit zusammenzusetzen.
Hier besteht dringender Änderungsbedarf. Die FDP und wir haben Vorschläge vorgelegt, wie man zu einer Kontrolle kommen kann, die diesen Namen verdient.
Sie haben sie bisher verworfen.
Uns kann ebenfalls nicht glücklich machen, dass das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz - das ist nicht nur ein Wortungeheuer, sondern auch ansonsten ein Monstrum - und das Anti-Terror-Datei-Gesetz als Last-Minute-Gesetze offenbar im Schweinsgalopp durchgepeitscht werden sollen. Wir waren zu einem Berichterstattergespräch eingeladen. Aber als wir es gestern führen wollten, wurde es kurzfristig abgesagt.
Wir waren die Ersten, die aufgrund der Anhörung Änderungsanträge eingereicht haben, und erwarten eigentlich, dass darüber geredet wird. Nachdem so lange über die Antiterrordatei diskutiert wurde, ist doch klar: Wer darin landet, gilt als Terrorist. Wenn der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz beschwichtigend sagt, wir werden, was die Anzahl der Einträge angeht, unterhalb des fünfstelligen Bereichs bleiben, dann muss man feststellen: Auch 9 999 Personen sehr viel sind.
Wir fordern Sensibilität und bürgerrechtliches Bewusstsein ein. Es sollte noch einmal geprüft werden, wer in diese Datei aufgenommen werden soll. Es darf keinen Automatismus geben. Außerdem muss es eine klare Definition geben, wer Kontaktperson ist. Wir wollen erreichen, dass diese Datei den geringstmöglichen bürgerrechtlichen Schaden anrichtet. Es ist vor allen Dingen unser Bestreben gewesen, dass diese Datei eine Indexdatei bleibt. Wir wollen diese Diskussion in einem geordneten Verfahren bis zum Ende führen.
Noch eine Bemerkung - sie ist notwendig - zur rechtsextremistischen Gefahr. Wir wissen, dass die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten ansteigt. Die Täter werden immer frecher. Daher ist es richtig, dass 5 Millionen Euro mehr an Haushaltsmitteln für diesen Bereich eingestellt werden. Es ist aber falsch, dass diese Mittel nicht mehr auf Antrag, wie das bisher der Fall war, direkt an die Projekte fließen. Um nicht missverstanden zu werden: Es sollte ruhig evaluiert werden. Aber dass man die Kommunen verbindlich dazwischenschaltet und dass man damit riskiert, dass gut arbeitende Initiativen vor Ort ihre Arbeit einstellen, ist bedenklich. Teilweise sind die Mitarbeiter schon zu den Arbeitsagenturen gegangen. Es wurde beklagt, dass Kommunen, weil sie entsprechende Vorkommnisse verdrängen bzw. schönreden, nicht die notwendigen Anträge stellen. Diese Gefahr ist erkannt. Wir fordern daher, dass es hier Korrekturen, die längst überfällig sind, gibt.
Natürlich muss auch in der Verbotsfrage Klarheit herrschen. Meine Fraktion ist mit großer Mehrheit gegen einen erneuten Verbotsantrag.
- Auch ich nicht. Aber darauf kommt es, Kollegin Stokar, tatsächlich nicht an.
Ärgerlich ist, dass wir, nachdem der immerhin von drei Verfassungsorganen eingebrachte Verbotsantrag in Karlsruhe gescheitert ist, nun die nächste Katastrophe erleben. Denn so bald irgendetwas passiert - dazu zählt auch, dass die in Rede stehende Partei in den Landtag gewählt wird -, wird sofort über ein neues Verbotsverfahren diskutiert, ohne dass sich die dafür primär zuständigen Innenminister eine Strategie überlegen und zu einer gemeinsamen Willensbildung - wir machen es oder wir machen es nicht - kommen, die dann auch verbindlich sein muss. Diese braunen Gesellen sind viel zu gefährlich, als dass sich die Demokraten an dieser Stelle auseinander dividieren lassen sollten.
Abschließend will ich sagen: Terrorismusbekämpfung ist nicht allein eine Frage der Sicherheitsbehörden, sondern auch eine politische Frage. Nach 30 Jahren fehlender oder falscher Einwanderungspolitik gibt es bei uns eklatante Mängel. Diese Fehler schlagen auch durch auf den Bereich Jugendgewalt und auf das, was in dem Sicherheitsbericht - darin sind auch Punkte enthalten, die nicht in Ordnung sind - aufgeführt ist. Dort heißt es zwar, dass wir insgesamt eines der sichersten Länder der Welt sind. Das ist objektiv richtig, aber diese Erkenntnis wird kein Opfer einer Gewalttat trösten. Gemäß dem Satz ?Obwohl der See im Durchschnitt einen Meter tief ist, ist die Kuh ertrunken“ gibt es Bereiche, die alles in allem gesehen nicht in Ordnung sind.
Der Bereich ?Jugendliche mit Integrationshintergrund“ ist ein solcher, wo es brennt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie haben von der Fraktion ausreichend Redezeit bekommen. Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich will hier niemandem die Redezeit nehmen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie nehmen niemandem mehr die Redezeit, außer dem Parlament.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin, ein Schlusssatz sei gestattet: Die Demokratie muss sich zumuten, das Recht gegen ihre Feinde zu verteidigen, zugleich aber auch die Rechte dieser Feinde zu schützen. Das ist sehr wichtig. Entziehen wir uns dieser Aufgabe, die schwierig ist und immer populistischen Anfeindungen unterliegt -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, das waren jetzt drei Schlusssätze. Ihre Redezeit ist wirklich deutlich überschritten.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- danke -, dann laufen wir Gefahr, selber so zu werden wie die Feinde der Demokratie. Das sollten wir nicht tun.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer angespannten Sicherheitslage. Die jüngsten Fahndungsergebnisse, sowohl die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft als auch die Fahndungserfolge britischer Kollegen zeigen, dass der Flugverkehr nach wie vor eines der Hauptangriffsziele von Terroristen sein kann. In Deutschland gab es einen Anschlag mit den glücklicherweise nicht zur Explosion gekommenen Kofferbomben und Vorbereitungen zu einem weiteren Anschlag, die die Bundesanwaltschaft zu ihren Ermittlungen veranlasst haben. Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um das Menschenmögliche an Prävention und Sicherheit zu leisten. Das ist die Hauptaufgabe auf dem Felde der inneren Sicherheit.
Ich bin froh, dass wir einen funktionierenden und leistungsfähigen Sicherheitsverbund zwischen Bund und Ländern haben. Bei manchen Debattenbeiträgen hatte ich gelegentlich das Gefühl, dass ich daran erinnern muss, dass sich die föderale Grundstruktur unseres Landes bewährt hat. Sie ist erfolgreich.
Sie hat sich entgegen manchen Sorgen nicht zuletzt bei der Fußballweltmeisterschaft in hervorragender Weise bewährt. Es steht dem Bund aus Anlass einer Haushaltsdebatte zur inneren Sicherheit zu, sich bei den Verantwortlichen in den Bundesländern, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Länderpolizeien genauso wie bei denen der Sicherheitsorgane des Bundes für diese großartige Arbeit zu bedanken.
Wir brauchen die gesetzlichen Grundlagen für eine entsprechende Zusammenarbeit und den Austausch und die Sammlung von Informationen. Wir wollen die Antiterrordatei einführen, um die Informationen, die die einzelnen Institutionen sammeln, zu vernetzen. Das ist kein Schnüffelwahn, sondern die richtige Antwort, um die bewährte Arbeitsteilung und Zusammenarbeit im Föderalismus zu optimieren.
Herr Kollege Wieland, wir haben beim Terrorabwehrzentrum und der Antiterrordatei in der Tat 38 Stellen zusammenzuführen. Das ist schnell aufgezählt: Wir haben 16 Bundesländer, also 16 Länderpolizeien und 16 Landesämter für Verfassungsschutz. Dann haben wir das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Zoll, das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst. Schon sind wir bei 38. Die müssen zusammengeführt und entsprechende Informationen müssen vernetzt werden. Deswegen bitte ich darum, dass das Gesetz zur Errichtung der notwendigen Antiterrordatei zügig im Bundestag verabschiedet wird. Das dient der inneren Sicherheit unseres Landes.
Ich will gleich eine Bemerkung anschließen. Sie haben gesagt, all das, was wir vorhaben, hätte nichts genützt, um die Kofferbombenanschläge zu verhindern. Natürlich gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Aber die Konsequenzen, die wir im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht aus unseren Erkenntnissen ziehen wollen, hätten, wenn sie schon gesetzliche Grundlage gewesen wären, dazu geführt, dass wir den Tatverdächtigen erkannt hätten, bevor er die Kofferbombe in den Zug gebracht hätte.
Deshalb dürfen wir nicht den Verfassungsschutz beschimpfen, vielmehr müssen wir ein Gesetz entsprechend gestalten. Daran arbeiten wir vertrauensvoll und intensiv in der Koalition. Ein solches Gesetz werden wir auf den Weg bringen; und zwar in dem Sinne, dass man aus Erfahrungen Lehren zieht. Denn hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Die notwendigen Konsequenzen sind auf dem richtigen Weg.
Genauso ist es mit dem Sicherheitsprogramm. Frau Kollegin Piltz, wir haben bereits in der ersten Lesung des Haushaltsplans über das Sicherheitsprogramm gesprochen. Damals lag noch nicht die Auswertung aller Erkenntnisse vor, dennoch habe ich schon verschiedene Maßnahmen angekündigt. Ich bin sehr dankbar, dass das Parlament zu einem guten - dem hier einzig möglichen - Verfahren gefunden hat. In den Beratungen des von der Bundesregierung bereits eingebrachten Haushaltsgesetzentwurfs hat der federführende Haushaltsausschuss durch entsprechende Beschlüsse die notwendigen Konsequenzen gezogen. Demgemäß ist sowohl im Fachausschuss als auch im Haushaltsausschuss beraten worden. Ich bedanke mich dafür und bin ganz sicher, dass es im Rahmen einer sehr effizienten Verwendung begrenzter Mittel der richtige Weg ist.
Wir werden die Kompetenzen des Verfassungsschutzes verbessern und das Internet besser beobachten lassen; denn dort werden Verabredungen getroffen, Hetzparolen verbreitet und Taten vorbereitet. Es ist notwendig, die Bahnstrecken besser zu sichern. Die entsprechenden Mittel dafür sind eingestellt. Das heißt, wir ziehen auch hier die Konsequenzen aus den gemachten Erfahrungen auf der Grundlage einer konsolidierenden Haushaltsführung. Ich bedanke mich dafür, dass wir das in der richtigen Weise und im richtigen Maß und im Rahmen einer guten Zusammenarbeit tun. Dies entspricht allen Formen der parlamentarischen Beratungen; anderes zu behaupten, ist nicht richtig.
Dazu gehört angesichts veränderter Aufgabenstellungen auch, dass wir die gute Bundespolizei, die hervorragende Arbeit im Sicherheitsverbund von Bund und Ländern leistet, auf veränderte Aufgabenstellungen vorbereiten und entsprechend ausrüsten. Ich kann Ihnen nicht sagen, wann der Schengenraum erweitert wird. Dass dies jedoch in den nächsten Jahren der Fall sein wird, ist klar. Die Voraussetzungen dafür müssen innerhalb der Europäischen Union geschaffen werden.
Die organisatorischen Veränderungen innerhalb der Bundespolizei muss ich auch mit den Ländern besprechen. Dazu haben wir in Nürnberg den ersten Schritt getan, zeitgleich haben wir die Bundespolizei über die Grundlinien der Umorganisation unterrichtet. Wir wollen bei gegebenen personellen und sachlichen Mitteln die Effizienz der Bundespolizei weiter stärken und tun dies im Sicherheitsverbund mit den Ländern und im Bewusstsein dessen, dass wir durch ein verändertes Grenzkontrollsystem im Schengenraum natürlich keine Sicherheitsverluste eingehen dürfen, sondern dass wir mit einer veränderten Organisation mindestens genauso viel, besser noch mehr Sicherheit für die Zukunft gewährleisten. Das ist das Ziel der Organisationsreform. Es wird jetzt eine Arbeitsgruppe eingesetzt und über alle Einzelheiten wird intensiv beraten. Danach wird entschieden. So ist der Sachstand.
Frau Piltz, Sie haben gefragt: Brauchen wir denn noch Mittel zur Sicherung der Kommunikationsinfrastruktur zur Früherkennung terroristischer Straftaten? Ich sage Ihnen: Dort brauchen wir ein ganz anderes Maß an Sicherheit in der Kommunikation als bei der Einführung des Digitalfunks bei den Behörden, die Ordnungs- und Sicherheitsaufgaben wahrnehmen. Beim BOS sind etwa 500 000 Polizisten der Länder und des Bundes, Feuerwehrleute, Mitarbeiter und Helfer des Technischen Hilfswerks zugangsberechtigt. Dort werden nicht die sensiblen Informationen eingestellt werden, dort geht es um die Bewältigung der Aufgaben im Alltag. Deswegen ersetzt das nicht die Mittel, die wir für den Schutz der Kommunikation in ganz besonders sensiblen Bereichen der Früherkennung terroristischer Straftaten brauchen. Die entsprechenden Forschungsmittel müssen wir dafür einsetzen. Deswegen geht Ihr Entschließungsantrag von einer falschen Erkenntnis des Sachverhalts aus.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Schäuble, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Bitte sehr.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Koppelin.
Jürgen Koppelin (FDP):
Herr Bundesminister, Sie haben eben das angesprochen, was meine Kollegin Piltz zuvor schon angesprochen hatte, nämlich das, was zurzeit bei der Bundespolizei diskutiert wird. Dort, wo ich wohne, gibt es ein Präsidium der Bundespolizei. Finden Sie es in Ordnung, dass die Angehörigen der Bundespolizei den Medien entnehmen müssen - in einem Schreiben des Innenministeriums wird das nur angedeutet -, dass irgendetwas auf sie zukommt, sie aber nicht wissen, was? Finden Sie es in Ordnung, dass anscheinend nur bestimmte Abgeordnete der Koalition informiert worden sind? Ich habe gestern mit Ihrem Haus telefoniert. Mir hat man gesagt, dass es nicht beabsichtigt sei, die Opposition zu informieren. Diese Auskunft habe ich von Ihrem Haus erhalten.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Das glaube ich nicht, Herr Kollege Koppelin.
- Sie haben ja nicht mit mir gesprochen. Ich war bei einer Konferenz der Afrikanischen Union und der Europäischen Union in Tripolis; daher haben wir nicht miteinander gesprochen. Deswegen sage ich Ihnen: Kein Mitarbeiter meines Hauses gibt solche Auskünfte.
Das Folgende ist die Wahrheit: Wir haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundespolizei zeitgleich über das unterrichtet, was entschieden ist, nämlich das Verfahren, das ich gerade beschrieben habe, einzuleiten.
Darüber sind Sie nicht besser oder schlechter informiert als jeder andere auch. Und ein Mitarbeiter meines Hauses hätte Ihnen wahrscheinlich richtigerweise gesagt: Über mehr können wir Sie nicht unterrichten, weil mehr noch nicht entschieden ist. Es tut mir Leid, das ist so. Es ist überhaupt nicht beabsichtigt, irgendjemanden bei der Informationserteilung hintanzustellen.
Sie erwarten wahrscheinlich Aussagen zu Standorten von mir. Es gibt aber überhaupt noch keine Überlegungen zu Standorten. Wir haben diese Grundlinien zur Umorganisation der Bundespolizei und das von mir beschriebene Verfahren jetzt auf den Weg gebracht, nicht mehr und nicht weniger. Ich hoffe, dass die Missverständnisse damit ausgeräumt sind. Mir liegt nämlich sehr an einer vertrauensvollen und offenen Zusammenarbeit.
- Das stimmt nicht. Frau Kollegin Hagedorn hat genau die Informationen, die ich Ihnen hier nenne. Da bisher nicht über mehr entschieden ist, kann sie nicht mehr Informationen haben.
Das Verfahren, in dem Entscheidungen herbeigeführt werden können, beginnt ja gerade erst.
In der gebotenen Kürze möchte ich gerne noch ein paar Sätze zu einem weiteren Thema sagen. Neben der Gewährleistung von Sicherheit im Verbund von Bund und Ländern, neben der Präventionsarbeit und der Bekämpfung der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ist natürlich das andere große Schwerpunktthema der Innenpolitik dieser Regierung der großen Koalition die Verbesserung der Integration der Menschen, die mit uns zusammenleben. Auf diesem Gebiet sind wir in diesem Jahr zwar gut vorangekommen, wir sind aber noch lange nicht am Ziel.
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir arbeiten intensiv daran, mit all den vielen Facetten, die dazugehören.
Herr Kollege Wieland, Sie haben am Ende Ihrer Rede ohne jede kritische Einschränkung die terroristische Bedrohung in einen sachlichen Zusammenhang mit der Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten gestellt. Wenn Sie das bestreiten wollen, lesen Sie es im Protokoll nach. Solche Äußerungen können wir überhaupt nicht gebrauchen. Wenn wir die Zugewanderten unter einen Generalverdacht stellen, machen wir das genaue Gegenteil von dem, was sinnvoll ist. Wir brauchen die Mitarbeit und die Solidarität der großen Mehrheit unserer Mitbürger mit Migrationshintergrund bei der Bekämpfung des Terrorismus und keinen billigen Generalverdacht.
- Sie brauchen sich gar nicht zu erregen.
Im Ausländer- und Aufenthaltsrecht gibt es die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Es gibt die Notwendigkeit, im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen Gesetze zu vollziehen; das ist Sache der Länder. Und es gibt die Notwendigkeit, Gesetze zu ändern, zu ergänzen, weiterzuentwickeln; das ist Sache der Gesetzgebungsorgane des Bundes, des Bundestages und des Bundesrates. Deswegen müssen sie zusammenwirken. Wir stehen vor einer komplexen, vor einer komplizierten und umfassenden Novellierungsarbeit. Wir müssen elf EU-Richtlinien und eine Reihe anderer Punkte umsetzen. so auch aus den geplanten Kofferbombenanschlägen Konsequenzen ziehen.
Daran arbeiten wir. In der Koalition herrscht ein großes Einvernehmen darüber, dass das, was wir in der vergangenen Woche verabredet haben, gilt. Nur haben die Innenminister gesagt: Wir warten mit einer Bleiberechtsregelung, auf die viele schon so lange warten, nicht, bis ein Gesetz in Kraft ist - das würde nämlich mindestens bis zur Mitte des nächsten Jahres dauern -; vielmehr wollen wir sofort eine Regelung in Kraft setzen. Sie gilt schon seit dem vergangenen Montag. Das ist doch eine richtige Ergänzung und nicht das Gegenteil.
Die Konsequenzen, die Sie daraus abgeleitet haben, sind allenfalls unsinnig, um nicht Unfreundlicheres zu sagen.
Wir arbeiten zusammen und kommen gut voran. Ich verteidige den Sicherheitsverbund von Bund und Ländern, weil ich ein überzeugter Anhänger des Föderalismus bin, genauso wie ich den Vorrang ehrenamtlichen Engagements verteidige. Denn unsere freiheitliche Gesellschaft lebt davon und ist darauf angewiesen, dass wir nicht glauben, der Staat könne alles regulieren und organisieren. Wichtiger ist das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürger, Freiheit und Verantwortung in einer richtigen Weise zu leben und dafür einen Rahmen zu geben.
Das ist das Prinzip unserer Sportförderung, die wir auf hohem Niveau weiterfahren. Auf diesem Sektor gibt es ein schwieriges Thema: Wir, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen im Sportausschuss, werden in den nächsten Wochen darüber zu reden haben, wie wir bei der Dopingbekämpfung das Zusammenwirken der Selbstverantwortung des Sports und der Verantwortung des Gesetzgebers optimieren können. Ich bleibe bei meiner Grundthese - auch wenn ich nicht in jedem Punkt jede Meinung teile -, dass wir das Problem nur gut lösen können, wenn Gesetzgeber, Strafverfolgungsorgane und Sport optimal zusammenarbeiten. Wenn der Gesetzgeber anstelle der Selbstverantwortung des Sports Doping bekämpfen wollte, würden wir Steine statt Brot bekommen. Deswegen versuchen wir, ein Zusammenwirken zu organisieren.
In diesem Zusammenhang mache ich die Bemerkung, dass wir auch bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, neonazistischen Bestrebungen, aber auch von Linksextremismus nicht die alleinige Verantwortung des Staates erwarten können. So können wir das Problem nicht lösen.
Wenn die Wahlbeteiligung zurückgeht und radikale Parteien dadurch relativ bessere Ergebnisse bekommen, muss man den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Geht wählen! Denn eine Demokratie leidet am ehesten dann Gefahr, wenn es einen Mangel an Demokraten gibt.
Deswegen sind unsere Programme zur Bekämpfung von Extremismus darauf angelegt, die Menschen zum Mitmachen zu gewinnen. Wir überlegen zusammen mit den Ländern, wie wir bessere Angebote machen können, beispielsweise im Bereich Sport, aber auch zusammen mit anderen Organisationen, zum Beispiel dem Technischen Hilfswerk oder Jugendfeuerwehren. All das gehört in ein Gesamtkonzept.
Unsere Bemühungen finden in einer Zeit statt, in der der Einfluss neuer Informationstechnologien - vom Fernsehen über das Internet bis hin zu Computerspielen - nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund furchtbar problematische Wirkungen hat, wie wir in den letzten Tagen gesehen haben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Schäuble, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Winkler?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Ja, aber erst nach Ende dieses Gedankens, Herr Präsident.
Hiermit ist die Notwendigkeit verbunden, dass wir das Engagement und die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger durch unsere politischen Entscheidungen und die Art, wie wir diskutieren, einfordern, dass wir also nicht einfach sagen: Wir machen das für euch, ihr braucht euch um nichts zu kümmern. Das wäre der falsche Weg.
Bitte sehr, Herr Kollege Winkler.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister Schäuble, ich war eben so sprachlos, dass ich mich erst einen Satz später zur Zwischenfrage gemeldet habe. Dieser Satz war dann sehr lang. Deswegen wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich mich jetzt auf das vorherige Thema beziehe, nämlich die Bleiberechtsregelung.
Meine Frage bezieht sich darauf, dass Sie gesagt haben, dass es keine Widersprüche zwischen dem, was die Innenministerkonferenz verabredet hat, und dem, was Sie in der Koalition vereinbart haben, gibt. Das nehme ich Ihnen gerne ab.
Für mich als Oppositionspolitiker gibt es manchmal nur die Zeitung als Informationsquelle. Das kann schon einmal vorkommen. Der Presse konnte ich entnehmen, dass Kollege Bosbach behauptet hat, es gebe gar keine Einigung oder er sich nicht mehr daran erinnern könne. Ich konnte in der Zeitung auch lesen, dass es Krisentreffen der Innenpolitiker gab, bei denen noch einmal besprochen wurde, was überhaupt bei dieser Einigung herausgekommen ist. Hier hätte ich gern etwas mehr Klarheit. Denn so, wie es im Moment aussieht, machen wir bezüglich der Bleiberechtsregelung eher zwei Schritte vor und drei Schritte zurück.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Nein, Herr Kollege Winkler, so ist es nicht.
Erstens. Zwischen dem, was die Innenminister beschlossen haben, und dem, worüber wir hier reden, besteht in der Tat kein Widerspruch, sondern ein Verhältnis der Komplementarität.
Generall kann man das Problem der Altfallregelung gesetzlich oder durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz nach § 23 des Aufenthaltsgesetzes, der des Einvernehmens des Bundesinnenministers bedarf - das habe ich erklärt -, lösen. Wenn Sie den Beschluss der Innenminister sehen, erkennen Sie, dass diese sagen, dass sie begrüßen, dass sich der Gesetzgeber darum bemüht. Aber die Innenminister haben jetzt eine Regelung beschlossen, die seit Montag dieser Woche, das war der 20. dieses Monats, gilt. Wenn eine gesetzliche Regelung in Kraft tritt - diese muss der Bundestag beschließen, dazu muss sie erst einmal eingebracht werden, dann wird sie beraten und dann muss der Bundesrat zustimmen -, tritt sie ergänzend oder ersetzend hinzu. Insofern ist das kein Widerspruch. Es muss Ihnen also nicht die Sprache verschlagen.
Zweitens. Sie haben den Kollegen Bosbach falsch bzw. verkürzt zitiert. Der Sachverhalt ist ganz einfach: Wir sind noch nicht fertig. Wir beraten intensiv. Wir kommen Schritt für Schritt voran. Wir haben das, was wir vergangene Woche beraten haben, mit den Innenministern der Länder erörtert. Dabei herrschte von vornherein nicht nur Jubelstimmung; das ist wahr. Dann haben wir zwei Tage lang beraten. Danach waren alle der Meinung, dass wir gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielt haben. Jetzt arbeiten wir weiter. Heute Mittag treffen wir uns erneut. All das ist nicht geheim. Ich bin zuversichtlich, dass wir gute Ergebnisse erzielen werden.
Warum bin ich zuversichtlich?
Erstens, weil uns in der Koalition trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte unsere gemeinsame Verantwortung bewusst ist und wir im Wissen um unsere gemeinsame Verantwortung einen partnerschaftlichen Umgang miteinander pflegen. Dafür bedanke ich mich. Das wollen wir fortsetzen.
Zweitens, weil diese Verantwortung über die Grenzen der Koalitionsfraktionen hinausgeht. Alle Abgeordneten haben diese Verantwortung. Den Herrn Kollegen Korte möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen: Wir würden den Rechtsextremismus, insbesondere rechtextremistische Gewalttaten, vielleicht noch erfolgreicher bekämpfen können, wenn sich Linksextremisten nicht immer mit Rechtsextremisten zu gemeinsamen Gewalttaten verabreden würden. Das wäre hilfreich.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie ich bereits sagte, habe ich gestern an einer Konferenz teilgenommen, auf der es um das Verhältnis zwischen der EU und der Afrikanischen Union ging. In einem solchen Zusammenhang nimmt man die Probleme in ganz anderen Dimensionen wahr, gerade die Probleme der Globalisierung. Das Zeitalter, in dem wir leben, ist durch beschleunigten Wandel gekennzeichnet. In einer solchen Zeit ist die Bewahrung und Sicherung einer freiheitlichen Ordnung mit Sicherheit - man möchte nicht zu viele Kontrollen, aber ein hinreichendes Maß an Sicherheit - eine Riesenaufgabe. Es ist eine große Herausforderung, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen in dieser Ordnung nicht verloren fühlen, sondern genug Raum für Eigenverantwortung und Engagement haben.
Dieses Bemühen ist keineswegs nur am Haushalt des Geschäftsbereichs des Bundesinnenministeriums zu erkennen, aber es spiegelt sich in besonderer Weise in vielen Einzelpositionen dieses Haushalts wider. Deshalb bedanke ich mich für die gute Zusammenarbeit und bitte um Ihre Zustimmung zum Einzelplan 06.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Jan Korte.
Jan Korte (DIE LINKE):
Verehrter Herr Bundesminister Schäuble, das Thema Bundeswehr lassen Sie mittlerweile ruhen. Das neue Lieblingsthema, insbesondere der Union, scheint nun darin zu bestehen, Linksextremismus und Rechtsextremismus gleichzusetzen;
denn das tun Sie seit mehreren Wochen immer wieder. Diese Gleichsetzung weise ich entschieden zurück. Sie ist eine Bagatellisierung dessen, was in diesem Land geschieht. Denn seit 1990 sind bereits mehr als 130 Menschen von Rechtsextremen ermordet worden.
Ich fordere Sie auf, die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus zu unterlassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Schäuble, möchten Sie erwidern?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Nein.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Dann erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion das Wort.
Ernst Burgbacher (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Innenminister Schäuble, es ist die Pflicht des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger und für die Sicherheit des Landes zu sorgen. Da Sie der Bundesinnenminister sind, ist das natürlich vor allem Ihre Pflicht. Die FDP haben Sie dabei an Ihrer Seite. Wenn es um Freiheit und Sicherheit geht, dann gilt - das ist völlig klar -: Ohne Sicherheit ist Freiheit nicht möglich. Auch deshalb verfolgen wir alle gemeinsam das Interesse, die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten. Auf diesem Gebiet haben Sie unsere Unterstützung.
Zwischen Freiheit und Sicherheit existiert aber zweifellos auch ein Konfliktfeld. Daher müssen wir uns bei allen Maßnahmen, die wir treffen, fragen: Inwiefern führen sie zu einer Einschränkung der persönlichen Freiheit? Inwiefern greifen wir dadurch in die Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ein? Wenn wir diese Fragen beantworten, müssen wir sehr wachsam sein. Wenn jedesmal nach einem Vorfall Aktionismus einsetzt und schnell neue Gesetze auf den Weg gebracht werden sollen, dann können Sie sich allerdings genauso sicher sein, dass wir kritische Fragen stellen werden.
Ich möchte das in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit an wenigen Beispielen deutlich machen. Ihr Vorgänger, Herr Minister, hat damals das Luftsicherheitsgesetz auf den Weg gebracht, als Antwort auf den 11. September, aber vor allem auf den Vorgang von Frankfurt. Eine Regelung, die damit eingeführt und zunächst kaum beachtet wurde, war die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Piloten - eine völlig überzogene Maßnahme, jetzt noch im jährlichen oder zweijährlichen Turnus abzulegen. In einer Empfehlung der Ausschüsse des Bundesrates kann man lesen - wörtlich, ich zitiere -:
Nach einhelliger Expertenmeinung gehen die größten Gefahren von den Privatfliegern aus.
Das ist ein Affront gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe und ist durch nichts, aber auch gar nichts gerechtfertigt.
Genauso könnten Sie alle PKW-Fahrer nehmen! Das wissen wir doch alle.
Deshalb sage ich deutlich: Lassen wir diesen Unsinn endlich bleiben! Ich weiß, Herr Minister, Sie unterstützen mich dabei, wenigstens zu einem fünfjährigen Turnus überzugehen. Ich bitte Sie wirklich: Überprüfen wir das Ganze noch einmal! Denn das Verrückte daran ist ja: Alle, die im Ausland ihren Flugschein machen, können fliegen, wie sie wollen, und brauchen überhaupt keine Überprüfung. Da stimmt doch etwas nicht bei dem Ganzen!
Zweites Beispiel: Wir erlauben den Amerikanern, relativ wahllos auf die Daten der Flugpassagiere zuzugreifen; das hat Rot-Grün damals eingeführt. Wir haben jetzt ein Interimsabkommen, das in keiner Weise den deutschen Datenschutzvorschriften und den entsprechenden Ansprüchen gerecht wird. Lieber Herr Innenminister, wir stehen vor der deutschen Ratspräsidentschaft. Ich bitte Sie: Nutzen Sie jetzt die deutsche Ratspräsidentschaft für ein Abkommen, das unseren Datenschutzansprüchen entspricht! Dann unterstützen wir Sie. Wenn Sie das wie bisher nicht tun, sondern eigentlich ohne jeden Widerstand das akzeptieren, was irgendjemand bei der EU mit den Amerikanern aushandelt, treffen Sie auf unseren Widerstand.
Diese Daten werden übrigens nicht nur zur Terrorismusbekämpfung benutzt, sondern auch zur knallharten Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Sie können Internetseiten finden, auf denen amerikanische Firmen einem anbieten, über seine Konkurrenten Informationen zu liefern, darüber, wohin die überall liefern. Basis dafür sind die Daten aus der Terrorismusbekämpfung. Dadurch bekommt das Ganze noch eine ganz andere Dimension. Ich bin gespannt, welche Antwort wir auf unsere entsprechende Anfrage bekommen. Es kann nicht sein, dass die Terrorismusbekämpfung dazu missbraucht wird, unseren Firmen Nachteile zu bescheren. Dagegen wehren wir uns.
Wenn wir schon den Terrorismus bekämpfen wollen, dann sollten wir das dort tun, wo es sinnvoll ist. Es kann nicht sein, dass wir fast das einzige Land sind, wo noch analog gefunkt wird, dass wir es bis heute nicht geschafft haben, den Digitalfunk einzuführen. Das wären Maßnahmen, die helfen, die unsere Sicherheit verbessern. Das sollte man angehen und da ist die Regierung in der Pflicht.
Aristoteles sagte einmal:
Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave.
Ich nehme das sehr ernst. Ich sage: Hüten wir uns davor, auf dem Altar vermeintlicher Sicherheit immer mehr Freiheitsrechte zu opfern! Dort, wo es sinnvoll ist, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen - ja, aber unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und unter Wahrung des Datenschutzes! Dafür wird die FDP auch künftig Garant sein.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD-Fraktion.
Gabriele Fograscher (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt, so das Fazit des Sicherheitsberichts, den die Bundesregierung vor kurzem vorgestellt hat. Dafür haben vorangegangene Regierungen und Abgeordnete gearbeitet und dafür arbeitet auch diese Koalition. In einer sich verändernden Welt, Herr Korte, Herr Wieland, wäre es geradezu fahrlässig und verantwortungslos, in der Sicherheitspolitik statisch zu bleiben.
Natürlich müssen wir auf veränderte Sicherheitslagen reagieren und unsere Instrumente immer wieder überprüfen und anpassen.
Dass es keine konkreten Bedrohungsszenarien gibt, ist Ihr Wunschdenken; denn in den letzten Jahren gab es sowohl international als auch in Deutschland die Gefahr terroristischer Anschläge.
Darauf muss man reagieren. Das tun wir auch. Frau Piltz, wir peitschen aber keine Gesetze durch, sondern beraten verantwortungsvoll und kommen dabei zu guten Ergebnissen.
Das Sicherheitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger wird aber auch durch die Alltagskriminalität geprägt, nämlich durch Diebstahl, Betrug und Gewaltverbrechen. Besonders besorgt zeigen sich die Menschen laut Sicherheitsbericht über die Gewalt an Kindern. Auch hier müssen wir nicht nur wegen der aktuellen Fälle wirksame und vor allen Dingen präventive Maßnahmen ergreifen.
Dass Deutschland ein sicheres Land ist, hat auch die fantastische Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland gezeigt. Das nationale Sicherheitskonzept hat sich bewährt. Die gute Zusammenarbeit auch mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Deutschland hat international gezeigt, dass wir ein guter Gastgeber sind. Auch die Bundeswehr hat auf der Grundlage der geltenden Gesetze ihren Beitrag geleistet. Vor allen Dingen aber haben die Länderpolizeien und die Bundespolizei in beeindruckender Weise bewiesen, dass sie auch mit solch komplexen Sicherheitssituationen in Deutschland fertig werden können.
Auch das Technische Hilfswerk hat während der Fußball-WM eine gute Arbeit geleistet. Bei zahlreichen Unglücks- und Katastrophenfällen im In- und Ausland leistet das THW anerkannte und kompetente Hilfe. Deshalb ist besonders hervorzuheben, dass es trotz der angespannten Haushaltslage gelungen ist, die Mittel für das THW im Haushalt um über 300 000 Euro aufzustocken. Es ist natürlich auch den Berichterstattern im Haushaltsausschuss zu verdanken, dass insbesondere die Jugendarbeit und die ehrenamtliche Arbeit, die im THW geleistet werden, verstärkt werden können.
Unser Einsatz für die innere Sicherheit spiegelt sich im Einzelplan 06 wider. Rund 3 Milliarden Euro bzw. 67 Prozent des gesamten Einzelplans werden für den Sicherheitsbereich ausgegeben. Damit hat die innere Sicherheit richtigerweise eine herausragende Bedeutung im Haushalt des BMI.
Von der Bedrohung durch den internationalen Terror ist Deutschland nicht verschont geblieben. Wir haben das heute schon mehrfach angesprochen. Herr Korte, es war in der Tat nicht nur irgendein Bedrohungsszenario, sondern es war großes Glück, dass die Bomben, mit denen Kofferbombenattentate verübt werden sollten, nicht explodiert sind. Es ist richtig, dass das BMI das zusätzliche Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit aufgelegt hat und dass der Haushaltsausschuss die Mittel hierfür freigibt. Mit diesem Programm werden das operative und das einsatz- und ermittlungsunterstützende Instrumentarium des Bundeskriminalamtes, der Bundespolizei, des Bundesverfassungsschutzes und des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik ausgebaut.
Frau Piltz, wenn auch Sie das für richtig und notwendig halten, dann kann ich Ihre Kritik nur als kleinlich bezeichnen.
Herr Wieland, Klasse statt Masse gilt nicht nur für die Menschen, die in den Sicherheitsbehörden arbeiten, sondern das muss auch für die Ausrüstung und die technischen Möglichkeiten gelten, die wir diesen Menschen zur Verfügung stellen.
Immer bedeutender für die innere Sicherheit ist es und wird es auch in Zukunft sein, die Sicherheit in der Informations- und Kommunikationstechnik zu gewährleisten. Im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung investiert das BMI jährlich circa 20 Millionen Euro zur Entwicklung von Präventionstechnologien für die Abwehr neuartiger Angriffe im Internet und für die Sicherung des Datenaustausches. Von diesen Mitteln werden auch die Länder und vor allen Dingen die Wirtschaft profitieren. Deshalb müssen sie die vom Bund eingesetzten Mittel durch eigene Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen ergänzen.
Die Sicherheit in unserem Land wird nicht nur von außen durch Terrorismus bedroht, sondern ist auch eine Sache des Inneren. Damit meine ich jegliche Form von Extremismus. Frau Merkel hat in ihrer Haushaltsrede von null Toleranz für Intolerante gesprochen. Das ist sicherlich zu unterstützen, aber der Rechtsextremismus bleibt die größte Herausforderung, der sich alle Demokratinnen und Demokraten stellen müssen. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, den Rechtsextremismus mit dem Linksextremismus oder anderen Formen von Extremismus gleichzusetzen. Was die Qualität und Quantität angeht, ist der Rechtsextremismus die größte Herausforderung, der wir uns zu stellen haben.
Zum einen geht es um repressive Maßnahmen, die wir schon in der vergangenen Legislaturperiode ergriffen haben, wie das Verbotsverfahren gegen verfassungsfeindliche Organisationen, die Verschärfung des Versammlungsrechts oder die Veränderungen im Strafrecht. Auch hierbei dürfen wir uns nicht auf dem Status quo ausruhen. Wir müssen immer wieder überprüfen, ob die gesetzlichen Möglichkeiten gegen rechtsextremistisch motivierte Straftäter konsequent genug sind und auch konsequent angewendet werden.
Zum anderen müssen wir vor allem die präventiven Maßnahmen verstärken. Auch wenn es nicht zum Haushalt des BMI gehört, ist es zu begrüßen, dass die Mittel für das Programm ?Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ um 5 Millionen Euro aufgestockt worden sind, sodass die mobilen Beratungsteams und die Opferberatung ihre Arbeit fortsetzen können.
Auch im Haushalt des BMI gibt es Möglichkeiten, die Prävention gegen Extremismus weiter zu verstärken. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Bündnis für Demokratie und Toleranz zu nennen, das sich gegen Extremismus und Gewalt engagiert und dem sich seit seiner Gründung 2001 circa 1 300 Gruppen und Initiativen angeschlossen haben.
Mit dem bereits erwähnten Wettbewerb ?Aktiv für Demokratie und Toleranz“ werden diese vorbildlichen Projekte gesammelt, ausgezeichnet und - auch das ist sehr wichtig - zur Nachahmung empfohlen. Darunter gibt es sehr ermutigende Beiträge. Am Victor-Klemperer-Jugendwettbewerb zum Beispiel beteiligen sich viele Schulen. Das gilt es zu unterstützen.
Dieses gesellschaftliche und ehrenamtliche Engagement verdient unsere besondere Wertschätzung und deshalb ist es gut, dass die Mittel für das Bündnis für Demokratie und Toleranz auf 1 Million Euro aufgestockt werden.
Als Mitglied des Beirates dieses Bündnisses bitte ich, eine bessere personelle Ausstattung der Geschäftsstelle in Erwägung zu ziehen, damit das Bündnis seine Aufgabe noch besser erfüllen kann und in der Öffentlichkeit künftig deutlicher wahrgenommen wird.
Öffentliche Sicherheit wird von Menschen gewährleistet, auch unter Gefährdung des eigenen Lebens. Deshalb möchte ich an dieser Stelle sowohl der Bundespolizei als auch den Länderpolizeien und den anderen Sicherheitsbehörden für ihren Einsatz danken.
Für die Polizei spielen Einsätze im Ausland eine immer größere Rolle. In Krisenregionen wie Afghanistan oder auf dem Balkan unterstützen deutsche Polizeibeamte die Kräfte vor Ort und bilden diese aus. Neben der militärischen Befriedung in den Krisengebieten ist der Aufbau einer funktionierenden Sicherheitsstruktur für eine langfristige Stabilität in diesen Regionen unverzichtbar. Deshalb halte ich es für angezeigt, dass analog der Unterrichtung des Parlaments durch die Bundesregierung über die Auslandseinsätze der Bundeswehr das Parlament und damit die Öffentlichkeit auch regelmäßig über die Auslandseinsätze der Polizeikräfte unterrichtet werden.
Ich komme zum Schluss. Der Haushalt des Bundesinnenministeriums setzt richtigerweise den Schwerpunkt auf die innere Sicherheit. Er wird den veränderten Herausforderungen gerecht. Trotz aller Bemühungen kann es nie hundertprozentige Sicherheit geben. Wir bemühen uns aber darum, mit den im Haushalt gesetzten Schwerpunkten dem Spannungsfeld zwischen den bürgerlichen Freiheitsrechten und den Sicherheitsbedürfnissen gerecht zu werden.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke.
Petra Pau (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit dem Rechtsextremismus. Er nimmt zu, und zwar nicht nur in seiner organisierten Form, etwa der NPD. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gibt es vielmehr alltäglich inmitten der Gesellschaft, und das in Ost und West. Deshalb war es geradezu absurd, den Versuch zu unternehmen, die Mittel für die Initiativen zu kürzen, die sich gegen Rechtsextremismus und für Demokratie und Toleranz engagieren. Zum Glück wurde das verhindert. Nun wurden für 2007 sogar 5 Millionen Euro mehr eingeplant als 2006. Das hat die Linke immer gefordert. Aber das wäre ohne das Engagement der SPD nicht möglich gewesen. Das möchte ich hier ausdrücklich würdigen.
Allerdings ist das kein Grund, Entwarnung zu geben; denn noch immer gibt es bewährte und unverzichtbare Initiativen der Zivilgesellschaft, die nicht gesichert sind und die um ihre Zukunft bangen. Es ist unsere Zukunft und unsere Demokratie. Deshalb werden wir diese Debatte fortführen müssen.
Stark angestiegen ist die Zahl rechtsextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten. Verglichen mit 2004 gibt es inzwischen 50 Prozent mehr erfasste Fälle. Anders gesagt: Im statistischen Bundesschnitt werden stündlich zweieinhalb Straftaten und jeden Tag zweieinhalb rechtsextrem motivierte Gewalttaten registriert. Die realen Zahlen sind weit höher. Dementsprechend ist auch die Zahl der Opfer rechtsextremistischer Gewalt höher. Das heißt, Rechtsextremismus ist hierzulande längst wieder eine Gefahr für Leib und Leben. Darüber kann auch eine bunte Fußballweltmeisterschaft nicht hinwegtäuschen. In aller Ernsthaftigkeit, Herr Bundesinnenminister - bitte hören Sie zu! -: Dieses Problem haben wir gemeinsam. Diese Entwicklung bedroht unsere Demokratie sowie Leib und Leben von Menschen in unserem Land. Aber Sie schaffen dieses Problem nicht mit abstrusen Gleichsetzungen oder der Behauptung, dass diese Entwicklung aus einer Verabredung verfeindeter Gruppen resultiere, aus der Welt.
Die Linke hat den Vorschlag in die Debatte eingebracht, eine unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus nach EU-Vorbild einzurichten. Wir haben dazu konkrete Finanzierungsvorschläge unterbreitet. Allerdings haben SPD und Union das abgelehnt. Sie haben stattdessen das Geld den deutschen Geheimdiensten zugeschlagen. Die Linke hält das für falsch und obendrein für sehr kurzsichtig.
Das meine ich auch mit Blick auf eine aktuelle Debatte. Die SPD bzw. Teile der SPD wollen das Verbotsverfahren gegen die NPD neu auflegen und dafür eigens die rechtlichen Hürden senken. Vor einer solchen Lex NPD kann ich nur warnen. Man vergreift sich nicht ungestraft an rechtlichen Fundamenten. Die Linke wird etwas anderes beantragen, nämlich dass die V-Leute der Polizei und des Verfassungsschutzes zurückgezogen werden; denn das erste NPD-Verbotsverfahren ist nicht am Bundesverfassungsgericht gescheitert, sondern an der V-Leute-Praxis der Innenminister.
Um nachzuweisen, dass die NPD eine verfassungsfeindliche Partei ist, braucht man wahrlich keine V-Leute. Sie stören mehr, als sie jemals in einem solchen Verfahren nutzen könnten. Auch deshalb sage ich: Das Geld wäre bei einer zivilen, unabhängigen Beobachtungsstelle besser aufgehoben als bei den Geheimdiensten.
Nun ein Wort zur Föderalismusreform. Die große Koalition feiert sie als die Reform des Jahrhunderts. Die parteipolitische Blockade zwischen Bundesrat und Bundestag sei aufgelöst. Die Bürgerinnen und Bürger könnten wieder durchblicken, wer was verantwortet. So weit, vielleicht so gut. Tatsächlich ist etwas anderes passiert. Das Solidarprinzip wurde aufgekündigt. Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem Urteil zur Berliner Haushaltsnotlage noch bekräftigt. Es besagt im Kern: Was interessiert uns fremdes Elend; jeder ist sich selbst der Nächste. - Das ist schlimm. Diese gefeierte Föderalismusreform ist ein Rückfall in die Kleinstaaterei im Bildungswesen, im Strafvollzug und im Beamtenrecht. Auch die erhoffte Transparenz wird wohl nicht fruchten.
Die Armen in den armen Bundesländern werden noch ärmer werden. Und nicht nur die Armen: Selbst die Beamtinnen und Beamten werden zum Spielball landespolitischer Kassenlagen und parteipolitischer Gelüste. Ich gebe zu, ich hätte mir nie vorgestellt, dass ausgerechnet ich hier zur Anwältin des Beamtentums werde, aber die unsoziale große Koalition zwingt mich dazu. Die Zeit verbietet es mir, über die aktuellen Gesetzesvorhaben zu reden. Auch hier haben wir einen ganz großen Debattenbedarf.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch Deutschland ist im Visier des internationalen Terrorismus. In Dortmund und in Koblenz sind Kofferbombenattentate fehlgeschlagen. Was in Frankfurt am Flughafen geplant war, werden die weiteren Ermittlungen zeigen. Die Frage ist also nicht mehr, ob sich Attentate auch in Deutschland ereignen werden, sondern, wann und wo in Deutschland ein solches Attentat passieren wird. Die Angriffe der Terroristen richten sich nicht gegen militärische Ziele; sie richten sich gegen die wirtschaftlichen Strukturen und gegen die Psyche der Menschen in unseren westlichen Gesellschaften. Sie wollen Angst und Schrecken einjagen. Sie benutzen das Internet, um die Effekte ihrer Anschläge und ihrer politischen Botschaften zu verstärken. Das heißt, die westlichen Gesellschaften stehen vor der großen Herausforderung, wie sie mit dieser asymmetrischen Bedrohungslage umgehen, und müssen neue Strukturen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus entwickeln. Das wird die Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.
Das heißt, wir müssen eine neue Sicherheitsarchitektur entwickeln. Davon ist keine Sicherheitsbehörde ausgenommen. Auf die Bundespolizei ist der Minister schon eingegangen. Der Wegfall der östlichen Schengengrenze zu Polen und zu Tschechien steht bevor. An die Stelle der Kontrollen an diesen Grenzen werden Kontrollen an weiter östlich gelegenen Grenzen treten. Es handelt sich um die Grenze zu Weißrussland und der Ukraine, die 2 400 Kilometer lang ist. Das ist zunächst einmal kein Sicherheitsgewinn, sondern möglicherweise ein Sicherheitsverlust. Das heißt, die Bundespolizei muss ihre verdachtsunabhängigen Kontrollen im Inland verstärken, sie muss sich neu organisieren und sie muss dorthin gehen, wo die Menschen sind, wo die Verkehrsknotenpunkte sind und wo die Drehscheiben des internationalen Warenverkehrs sind. Kontrolle muss auf den Autobahnen, an den Flughäfen und den Bahnhöfen stattfinden.
Natürlich ist es verständlich, dass die Beamten der Bundespolizei und ihre Familien in diesen Veränderungen eine gewisse Bedrohung ihrer privaten Lebenssphäre sehen. Wir müssen versuchen, darauf Rücksicht zu nehmen, soweit man darauf Rücksicht nehmen kann. Letztlich handelt es sich aber um Bundesbeamte, die versetzungsbereit sein müssen.
Die Sicherheitsbehörden, aber auch die Nachrichtendienste müssen in die Lage versetzt werden, durch optimale Vernetzung aller verfügbaren Informationen bereits im Vorfeld Anschläge zu erkennen und vor ihnen zu warnen. Die Antiterrordatei - das ist bereits gesagt worden - dient diesem Zweck. Wir haben eine Anhörung gehabt. In dieser Anhörung wurde auch das berühmte Trennungsgebot behandelt. Professor Badura hatte Recht, als er sagte, dass das Verfassungsrecht kein Trennungsgebot enthält. Es gibt ein verfassungsrechtliches Trennungsgebot weder für die Organisation der Zentralstellen noch für den Informationsbestand bei den Nachrichtendiensten einerseits und bei den Sicherheitsbehörden andererseits.
- Herr Wieland, das Antiterrordateigesetz wird noch in diesem Jahr vom Bundestag und vom Bundesrat verabschiedet. Es wäre unverantwortlich, noch längere Zeit verstreichen zu lassen.
Wir brauchen funktionierende Nachrichtendienste, auch wenn es der PDS nicht gefällt.
Nach den Anschlägen des 11. September 2001 haben wir ein Terrorismusbekämpfungsgesetz auf den Weg gebracht. Dieses wurde evaluiert. Es hat sich als maßvoll und richtig erwiesen. Kleinere Verbesserungen und Ergänzungen sind erfolgt.
Das heißt, wir werden mithilfe dieser Verbesserungen in der Lage sein, alle Formen verfassungsfeindlicher und extremistischer Strömungen zu überwachen. Wir müssen alles tun, um den islamistischen Hasspredigern das Handwerk zu legen.
Auch wenn Rechtsextremisten zu Gewalt gegen Ausländer, gegen Juden, gegen Homosexuelle oder gar gegen Behinderte aufrufen, muss der Verfassungsschutz in der Lage sein, uns hiervor frühzeitig zu warnen, damit wir die Strukturen dieser Rechtsextremisten erkennen können.
Zum Umbau unserer Sicherheitsarchitektur gehört aber auch die Antwort auf die Frage, welchen Beitrag die Bundeswehr in Zukunft im Inneren zu leisten hat.
Wir werden um eine Änderung des Grundgesetzes nicht herumkommen und wir werden sehen, dass dieses Problem mit erweiterter Amtshilfe nicht zu lösen sein wird.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist das Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit. 132 Millionen Euro werden im Haushalt des Bundesministeriums des Innern für die nächsten drei Jahre bereitgestellt. Das ist eine gewaltige Leistung. Eine Vielzahl von kleinen Maßnahmen werden damit finanziert, bis hin zur Internetrecherche und Überwachung von Bahnanlagen.
Ein wesentliches Ziel muss es sein, bestehende Strukturen lokaler terroristischer Netzwerke auszutrocknen, das heißt, wir müssen bei Radikalisierungstendenzen junger Deutscher und Ausländer frühzeitig einschreiten können. Der Integrationsgipfel und die Islamkonferenz waren hoffnungsvolle Schritte in die richtige Richtung.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt parteiübergreifend sehr viel weiter als noch vor wenigen Jahren. Wir sind alle zusammen der Auffassung, dass Integration natürlich zur Voraussetzung hat, die deutsche Sprache in Deutschland zu lernen. Wer zu uns kommt, muss zuvor die deutsche Sprache erlernt haben, weil nur so Integration gelingen kann.
Deshalb ist es sehr irritierend, wenn uns die Nachricht erreicht, dass gerade unlängst, vor wenigen Tagen, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sich in ?Hürriyet“ zu einer ganz unsäglichen Aktion versteigt. Er hat - reagierend auf die Zusage Erdogans an die Bundeskanzlerin, dass uns die Türkei dabei helfen will, dass Türken, die zu uns kommen, vorher in der Türkei Deutsch lernen; die türkische Regierung wollte dieses sogar bezahlen - an Herrn Erdogan einen Brief geschrieben, in dem er ihn dringend darum bittet, dies ja nicht zu tun. Dieses sei eine der größten Bosheiten gegenüber unseren hier lebenden türkischen Menschen, sagt er.
Das ist eine völlig unverständliche Haltung. Dieses integrationsfeindliche Verhalten von Herrn Kolat - ich hoffe, dass er nicht für die türkische Bevölkerung in ihrer Mehrheit spricht - müssen wir in aller Entschiedenheit zurückweisen.
Wir haben die Einlader- und Warndatei jetzt auf den Weg zu bringen. Wir wollten seit Jahren, dass die Europäische Union das tut. Das war auch geplant, es ist jedoch an dem derzeitigen Europäischen Parlament gescheitert. Wir müssen also national eine Einlader- und Warndatei zügig auf den Weg bringen.
Ein Wort noch zum Visa-Untersuchungsausschuss. Man kann die Meinung vertreten, dass Untersuchungsausschüsse nie etwas gebracht haben. Bei diesem Ausschuss ist das anders.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage von der Kollegin Dagdelen von der Fraktion Die Linke?
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Bitte nicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sie wollen nicht.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Danke nein, ich möchte zum Ende kommen.
Der Visa-Untersuchungsausschuss hat schon Veränderungen in den ?Problembotschaften“ gebracht und es wird noch weitere Verbesserungen geben. Wir werden das Thema demnächst in den Ausschüssen behandeln. Es zeigt sich, dass bei der Visavergabe - sie ist ein sehr schwieriges Geschäft - eine Verbesserung eingetreten ist. Es war gut, dass der Visa-Untersuchungsausschuss die Dinge im Detail beleuchtet hat.
Es wird bei uns ab 2007 neue Pässe mit biometrischen Daten geben. Damit werden wir ein Höchstmaß an Fälschungssicherheit erreichen. Das heißt, Pässe können nicht mehr so leicht gefälscht werden und es kann dank der biometrischen Daten viel besser überprüft werden, ob ein Passinhaber mit der im Passdokument beschriebenen Person identisch ist.
Mit unserer modernen Technik werden wir Vorreiter sein; Deutschland wird die modernsten und die sichersten Pässe haben. Biometrische Daten werden wir nicht nur bei den Reisepässen verwenden; vielmehr werden wir auch Personalausweise, Visa und Aufenthaltstitel für in Deutschland lebende Menschen mit biometrischen Merkmalen versehen. Damit sind wir an der Spitze des Fortschritts. Es ist auch für den Industriestandort Deutschland sehr wertvoll; denn die weltweite Entwicklung geht in diese Richtung. Wir zeigen uns als ein innovatives Land.
Die Innenminister der Länder haben folgendes Problem - das ist schon zweimal angesprochen worden -: Es gibt rund 200 000 Menschen in Deutschland, die zwar ausreisepflichtig sind, aber nicht ausgewiesen werden konnten. Es ist zum Teil mit Häme kommentiert worden, dass wir diese schwierige Situation noch nicht haben bewältigen können. Herr Wieland, Sie haben selbst gesagt, dass man in den sieben Jahren rot-grüner Regierung versucht habe, dieses Problem zu lösen.
Das sei aber nicht gelungen. Ich bin überzeugt: Wir werden eine vernünftige Lösung für dieses Problem finden.
Das ganze Thema ist ungeheuer schwierig. Wir wollen den Grundsatz aufgeben, dass sich der Aufenthaltsstatus von Menschen, die das Land eigentlich verlassen müssen, durch Arbeit nicht verfestigt. Unsere Botschaft ist, dass Menschen, die seit vielen Jahren hier sind, die abgeschoben werden müssten, aber nicht abgeschoben werden können, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Diese Menschen sollen hier nicht jahrelang von Sozialhilfe leben.
Es gilt, einen Zielkonflikt zu lösen. Die Ausgangslage ist schwierig: Schädliche Wirkungen nach innen - es gibt fast 5 Millionen Arbeitslose - und nach außen im Sinne eines Pull-Effektes müssen vermieden werden. Wir werden das Ergebnis unserer Arbeit hoffentlich bald vorzeigen können.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss.
Anlässlich von Haushaltsberatungen ist es ein guter Brauch, zu danken. Ich danke den Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern mit allen nachgeordneten Behörden. Sie arbeiten außergewöhnlich gut und sehr engagiert. Ich danke aber auch demjenigen, der dieses Ministerium führt, Herrn Minister Schäuble.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der FDP-Fraktion.
Detlef Parr (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich gegen Ende der Debatte zwei Appelle an unseren Sportminister richten. Herr Dr. Schäuble, die FDP-Fraktion begrüßt den deutlichen Schulterschluss von Sport und Staat bei der Dopingbekämpfung. Die Vorschläge der Rechtskommission, der Aktionsplan des DOSB, andere Gutachten und die Anhörungen im Bundestag sollten jetzt endlich zu einem Gesetzentwurf führen. Wir haben genug diskutiert. Jetzt muss politisch entschieden werden.
Es muss auch Schluss sein mit dem missionarischen Eifer, mit dem diese Fragen teilweise diskutiert werden. Das schadet nur der Sache.
In der Zielrichtung sind wir uns fraktionsübergreifend weitgehend einig. Aber, sehr geehrter Herr Minister, bitte, bleiben Sie bei Ihrem Grundsatz: Kein Gesetz gegen die Autonomie des Sports, keine Einschränkung der Sportgerichtsbarkeit! Lassen Sie das Strafrecht und die Besitzstrafbarkeit bei Athleten außen vor! Die Aufstockung der Mittel für die Dopinganalytik und die Stärkung der Arbeit der NADA mit verschärften Kontrollen ist, wie im Haushalt nachlesbar, der bessere Weg.
Das schärfste Schwert setzt man nur als Ultima Ratio ein und an diesem Punkt sind wir noch lange nicht.
Meine zweite Bitte: Herr Minister, machen Sie all Ihren Einfluss auf die Ministerpräsidenten geltend! Diese sind gerade dabei, durch ein voreiliges Festhalten am staatlichen Monopol der Sportwetten die finanzielle Förderung von Gemeinwohlbelangen, insbesondere des Sports, zu gefährden. Was ich hier zeige, ist nach einer Ifo-Studie die Umsatzentwicklung von Oddset der letzten sechs Jahre. Die Tendenz ist dramatisch sinkend. Diesen Trend werden wir auch nach den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts wohl kaum stoppen können.
Wir brauchen einen neuen Staatsvertrag, der staatlichen und privaten Anbietern gleiche Chancen einräumt, aber auch gleiche Pflichten abverlangt, auch was die Werbung und die Suchtbekämpfung angeht. Entsprechende Steuer- und Konzessionsmodelle liegen mittlerweile auf dem Tisch.
Ich möchte Sie bitten, Herr Minister: Nutzen Sie die EU-Ratspräsidentschaft, um Vorreiter für eine europakonforme Neuordnung des Sportwettenmarkts zu sein! Es gibt Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen immerhin zehn europäische Länder. Setzen Sie das Thema zum Beispiel auf die Tagesordnung des Sportdirektorentreffens im Februar in Deutschland und der informellen Sportministerkonferenz im März 2007! Denken Sie gemeinsam mit uns über eine Abkopplung der Sportwetten vom Glücksspielmarkt nach, wie wir sie aus Großbritannien und aus Österreich kennen!
Wir müssen die Sportförderung mindestens im heutigen Ausmaß sichern. Dazu bedarf es eines mutigen Schrittes nach vorn.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Einzelplan erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Gerster von der SPD-Fraktion.
Martin Gerster (SPD):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung zum Wortbeitrag vom Kollegen Detlef Parr beginnen. Ich kann für die SPD-Fraktion hier klar sagen, dass wir nicht dabei mitmachen werden, wenn es darum geht, unter dem Feigenblatt ?Autonomie des Sports“ dopende Sportler zu schützen.
Es kann nicht sein, dass Sportlerinnen und Sportler sowie Trainerinnen und Trainer diejenigen betrügen, die letztlich fair im Sport aktiv sind, sowie die Zuschauer betrügen, die Medien betrügen und auch die Wettbewerber betrügen. Deswegen sage ich ein klares Nein zu dem, was Sie an dieser Stelle ausgeführt haben, werter Detlef Parr.
Hier wurde die Bitte an den Herrn Bundesminister des Innern geäußert, sich für eine völlige Liberalisierung des Sportwettenmarktes stark zu machen.
Auch dazu kann man klar sagen, werter Detlef Parr: Die FDP hätte ja die Möglichkeit, über die Länder, dort also, wo sie mit in der Regierungsverantwortung ist, entsprechende Initiativen zu starten. Bei der letzten Debatte hier wurde uns versprochen: Sie werden noch sehen, dass die FDP über die Landesregierungen in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder auch Niedersachsen entsprechend Druck machen wird. - Nichts ist passiert. Insofern kann ich eine Bitte an Detlef Parr zurückgeben: Zeigen Sie uns doch einmal die Initiativen der FDP über die Länderregierungen dazu, dass wir nicht weiter am Staatsmonopol für Sportwetten festhalten sollen! - Leider ist da nichts vorhanden.
Wenn wir heute über den Etat des Bundesinnenministeriums reden, dann kann ich nur sagen: Prima, sehr gut, dass wir nicht nur über den sehr wichtigen Themenbereich der inneren Sicherheit sprechen, sondern auch - das wurde in vielen Wortbeiträgen deutlich - über das wichtige Thema der Integration. Das hat für unsere Gesellschaft und die Zukunft unseres Landes eine große Tragweite. Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen dies. Jeder fünfte Einwohner bzw. jede fünfte Einwohnerin in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Bei den unter 25-Jährigen verfügt sogar jeder vierte oder jede vierte über einen Migrationshintergrund.
Aus meiner Sicht muss man attestieren, dass Integration bei uns teilweise sehr gut gelingt, dass es aber auch erhebliche Defizite gibt. Defizite kann man feststellen, wenn man sich beispielsweise anschaut, wie die Situation in den Schulen ist. Gerade in unserem gegliederten Schulsystem stellen wir fest, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu einem Drittel in der Hauptschule oder in der Förderschule zu finden sind, während es bei den Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund gerade einmal 16 Prozent sind. Wir stellen insbesondere fest, dass von Jahr zu Jahr immer weniger junge Leute mit Migrationshintergrund Ausbildungsplätze bekommen. Wir stellen auch fest, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer tun. - Das sind einige Fakten, die belegen, dass gerade im Bereich der Integration noch sehr viel zu tun ist.
Vorhin wurde vom Kollegen Wieland gesagt, Herr Grindel und Herr Uhl hätten sich in den letzten Jahren so stark gewandelt,
positiv gewandelt. Es hatte sich bei Ihnen ein wenig rechthaberisch angehört.
Seien wir doch froh, dass richtige Entwicklungen erkannt werden und auch das Umsteuern einer großen Volkspartei bei wichtigen Fragen möglich ist.
Überlegen wir uns einmal, welche Entwicklung die Union von der Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und dem anfänglichen Nein zum wichtigen Zuwanderungsgesetz durchgemacht hat. Nun hören wir vom Bundesinnenminister Schäuble Äußerungen wie beispielsweise folgende, die in der Tageszeitung ?Die Welt“ am 30. Oktober dieses Jahres zu lesen war:
Wir haben eben lange nicht gesehen, dass der Islam ein Teil von uns ist. Das bedeutet auch, dass die Muslime hier heimisch werden müssen, und das nicht nur als Lippenbekenntnis.
Ich glaube, das ist eine wichtige Einsicht, Herr Minister Schäuble. Ich hoffe nur, dass alle diejenigen, die bei unserem Koalitionspartner in den Ländern oder auch in den Kommunen Verantwortung tragen, dies so sehen, wie Sie es in dem Interview mit der Tageszeitung ?Die Welt“ dargestellt haben.
Das Ziel jeder Integrationspolitik muss, wie ich glaube, die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund sein. Es muss faire Chancen für alle in unserem Land geben: in den Wohnquartieren, in den Stadtteilen, auf dem Arbeitsmarkt und beim Zugang zu Ausbildungsplätzen, aber auch in den Kindergärten, Schulen, Seniorenheimen, Vereinen - das THW wurde vorhin schon angesprochen - und bei den Feuerwehren. Ich war kürzlich in Baden-Württemberg bei einer Veranstaltung der Feuerwehren. Da wurde klar bemängelt, dass viel zu wenig Jugendliche mit Migrationshintergrund zu den Hilfsdiensten kommen und sich daran beteiligen. Ich glaube, hier müssen wir mehr Beteiligung einfordern; zugleich müssen wir sie aber auch mehr fördern.
An der Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft kann man, wie ich glaube, ablesen, wie stark sie letztendlich ist. Der Schlüssel für Integration ist die Sprache. Die Beherrschung der Sprache ist Grundlage für das Gelingen von Integration. Ein wesentlicher Baustein, um das zu erreichen, sind die Integrationskurse. Ich habe mich sehr gewundert, dass von der Fraktion Die Linke kein einziges Wort zu diesem Thema gesagt wurde, obwohl sie doch wochen- und monatelang permanent, fast schon notorisch und gebetsmühlenartig, den Finger in die offene Wunde, die durch die Kürzung der Mittel entstanden ist, gelegt hat.
Ich plädiere dafür, die Ergebnisse der gerade laufenden Evaluation abzuwarten, die Anfang 2007 vorgelegt werden. Dann sollten wir konkret diskutieren, wie wir im Bereich der Integrationskurse Verbesserungen erzielen können.
Anfang dieser Woche habe ich in der ?Stuttgarter Zeitung“ einen Artikel gelesen mit der Überschrift ?Viele Plätze in Deutschkursen bleiben leer“. Das Problem ist also nicht, dass der Bund zu wenig Geld bereitstellen würde. Das Problem ist vielmehr, dass die Behörden zu wenig darauf achten, dass die Leute diese Integrationskurse auch wahrnehmen, bzw. sie zu wenig animieren. Wir sollten also vorrangig darüber sprechen, dass vorhandene Möglichkeiten nicht genutzt werden, und nicht einfach populistisch den Antrag stellen, mehr Mittel bereitzustellen.
Als Grundlage für die Diskussion im Innenausschuss zu Beginn des Jahres 2007 sollten die Vorschläge der Integrationsbeauftragten Frau Böhmer dienen. Dabei sollte über eine Erhöhung der Unterrichtseinheiten von 600 auf 900 gesprochen werden. - Es freut mich, Herr Grindel, dass Sie schon zustimmend nicken.
Es geht auch um eine Erhöhung der Vergütung der Honorarkräfte und um eine stärkere Differenzierung bei den Kursteilnehmern. Außerdem geht es - so meine ich, nach Besuchen vor Ort feststellen zu können - um eine bessere Abstimmung der Träger untereinander, damit nicht der eine Träger gegen den anderen ausgespielt wird, nach dem Motto: Wir haben das beste Discountangebot; bei uns gibt es denselben Kurs ein bisschen günstiger. - Ich denke, wir sind da auf dem richtigen Weg. Wir sollten uns für das erste Halbjahr 2007 vornehmen, das anzupacken und deutliche Verbesserungen zugunsten aller zu erreichen.
Gerade bei diesem Thema erhoffe ich mir auch deutliche Signale und gute Vorschläge vom Integrationsgipfel und aus dem Bereich Sport. Die Bundesregierung unternimmt einiges, um Integration durch Sport zu ermöglichen. Wir haben beispielsweise im Etat des Bundesinnenministeriums 5 Millionen Euro für ein Projekt des DOSB eingestellt. Ich denke, da sind wir auf dem richtigen Weg. Irgendwann könnte das vielleicht noch mehr sein; denn aus meiner Sicht hat der Sport die Kraft, Integration zu leisten. Angesichts der vielen Menschen, die im Sport engagiert sind, glaube ich, dass hier noch erhebliches Potenzial vorhanden ist, das es abzurufen gilt. Die Sportvereine bitten regelrecht darum, dass man sie bei dieser wichtigen Aufgabe unterstützt.
Als letzter Redner der Debatte darf ich mich an dieser Stelle ganz herzlich für die faire Debatte und bei den Vertretern des Ministeriums für die gute Zusammenarbeit in der letzten Zeit in Haushaltsfragen, aber auch anderen Fachfragen bedanken. Ebenso darf ich mich bei den Haushälterinnen und Haushältern bedanken, die in den letzten Tagen und Wochen stark gefordert waren. Insofern ganz herzlichen Dank! Ich bitte zum Abschluss der Debatte um einen Beifall für die Damen und Herren des Ministeriums und der nachgeordneten Behörden für ihre wichtige Arbeit.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 06, Bundesministerium des Innern, in der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zunächst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3469? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/3470? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 06, Bundesministerium des Innern, in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 06 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 67. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 24. November 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]